Wilhelm Raabe
Kloster Lugau
Wilhelm Raabe

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Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Als sie am andern Morgen erwachten in Lugau, aus tiefem Schlaf, aus unruhigen, aus angenehmen und unangenehmen Träumen (einige leider aus häßlichen), blieb ihnen eine feste Gewißheit, nämlich, daß Er kein nächtliches Traumbild war, daß er auch dem hellen, verständigen, vernünftigen Tage standhielt, daß sie ihn in Fleisch und Blut, nach seinem Recht nach jeder Richtung hin bei sich, unter sich hatten in Kloster Lugau: den blonden Eckbert aus Wittenberg.

Der blonde Eckbert war gekommen wie der Meltau über Nacht (das Gleichnis stammt von der Tante Euphrosyne), und (wie die Oberin seufzend derselben im Vertrauen mitteilte) hatte die Absicht, sich dauernd aufzuhalten, jedenfalls fürs erste noch nicht wieder zu gehen.

»Was konnte ich dagegen einwenden, liebe Seele? Nach dem ersten Blick gestern Nachmittag in unsere Bücherkammer während eurer Abwesenheit, hat er sich wie melancholisch, aber doch im Innersten entzückt, die Hände gerieben. Und wenn er auch nichts sagte, als: Ja, ja, ja! nun, nun, nun! so sprach gerade das ganze Bände und wohlgeordnete Bibliotheken. Liebste, mir ist es ja im Grunde einerlei; aber Ihretwegen bedaure ich es doch, daß wir durch die Jahrhunderte nicht bessere Ordnung unter den alten Papieren gehalten haben oder, noch besser, längst den ganzen Wust in den Ofen gesteckt haben. Sie und Ihre Kleine müssen nun freilich Ihr Glück zu tragen suchen; o, und nach seinen Instruktionen habe ich ihm auch ein Quartier innerhalb unserer Mauern einräumen müssen, während ich Ihren Herrn Vetter Meyer sein Behagen und Unbehagen draußen beim Förster Gipfeldürre suchen lassen mußte.«

Ja, es ließ sich nicht ändern: sie hatten ihn, und er hatte sie. Das Bild von dem Meltau war nicht hübsch, aber doch sehr passend von der Tante Euphrosyne ausgewählt worden. Der blonde Eckbert legte sich wie ein Meltau über Kloster Lugau. Obgleich das Wetter andauernd schön blieb und der Gast ebenso stetig lieb, liebenswürdig, lächelnd und mit zartester Empfindung auf die Gefühle und Stimmungen aller eingehend, hatte sich die Sommerwelt doch vom achtundzwanzigsten Juni sehr zu ihrem Nachteil verändert. Der Meltau war auf Kloster Lugau gefallen, und nicht allein auf den Klostergarten und die schöne Landschaft um die alten Ringmauern her, nein, man merkte ihn auch innerhalb der Stiftung überall: im Betsaal, in der Kirche, in dem Salon der Frau Domina, wie in den Gemächern der Schwestern: legen wir uns noch ein Weilchen mit ihm – nicht dem Meltau, sondern dem blonden Eckbert – ins Fenster und zwar an dem Abend, an welchem Dickdrewe dem Kloster den Doktor Scriewer aus Wittenberg brachte, wie er ihm früher den Doktor Meyer aus Tübingen, die Tante Euphrosyne Kleynkauer und Fräulein Eva Kleynkauer ebenfalls aus Wittenberg, und noch früher Gräfin Laura Warberg aus – nun sagen wir diesmal von der Insel Seeland – zugeführt hatte.

Noch hatte er, der jüngste liebe Gast von Lugau, im Betsaal Kaspar Neumanns Abendlied, und zwar aus Fräulein von Kattelens Gesangbuch, mitgesungen:

Herr! es ist von meinem Leben abermal ein Tag dahin;
Lehre mich nun Achtung geben, ob ich fromm geworden bin?
Zeige mir auch ferner an, so ich was nicht recht getan,
Und hilf mir in allen Sachen guten Feierabend machen.

Zärtlich hatte er dann allen Damen eine gute Nacht gewünscht, der Frau Oberin die Hand und seiner Braut die Stirn geküßt und sich, unter Führung von Fräulein Seraphine von Kattelen, nach dem ihm in einem äußersten Flügel der Klostergebäude angewiesenen Gemach zurückgezogen. Jetzt war er allein mit sich in seiner Welt. Die fromme Lampe auf seinem Tische beleuchtete ihn nur von hinten; es war Neumond und die Nacht dunkel. Die andere Welt, die Welt da draußen verlor nichts an dem Gesicht, welches er ihr aus dem offenen Fenster zuwandte. Nur ein Käuzchen, das auf weichen Schwingen den Kirchturm und die hohen schwarzen Dachgiebel umflog, ließ sich auf einen Augenblick auf einen Baumast des Gartens dicht vor ihm nieder, betrachtete ihn genau und entfernte sich sofort wieder mit einem Schrei, der alles bedeuten konnte, nur kein Wohlgefallen an dem neuen Mit-Jäger in seinem Jagdgebiete. –

»Im Herzen der Romantik!« seufzte der blonde Eckbert. »Ich träume das! ich träume das! Welch ein wundervoller Traum! Heute morgen noch Wittenberg – Schwiegermama und Schwiegerpapa in kindischer Ratlosigkeit und Zerfahrenheit; amplissimi ordinis philosophorum Decanus, clarissimi Seniores, Assessores celeberrimi am Bahnhof: ›Scriewer, daß Sie sich nicht von den Lugauer Frauenzimmern an der Nase ziehen lassen, daß Sie uns ja den Haken dort einschlagen, an welchem wir das, was da noch zu retten ist, endlich uns sicher holen können!‹ . . . und jetzt: Kloster Lugau mit dem Gefühl eines künftigen Rector magnificus von Wittenberg da um mich, vor mir – unter mir! Und alles durch die Tante Seraphine! Da komme mir noch einer und rede was gegen die Weiber am Webstuhl der Zeit! . . . Aber wie sehr Zeit war es, daß sich die herzige, liebe alte Seele, dies Fräulein von Kattelen in Lugau, auf ihre intime Freundschaft mit Mama besann! Wie so was alles in der Welt-, Staaten-, Volks- und privaten Geschichte doch zusammenhängt! Hier zweifle mir noch einer an der Vorsehung!«

Da hierüber dem blonden Träumer die Zigarre erloschen war, trat er einen Augenblick in die Zelle zurück, um sie von neuem anzuzünden.

Wieder im Fenster liegend, seufzte er von neuem, doch mit noch etwas schärferem Anhauch aus der Zeitlichkeit:

»So wären wir denn hier, um im letzten, aber vielleicht auch günstigsten Augenblick mit eigenen Augen zu sehen und unsere Maßregeln nachher zu treffen. Welch eine himmlische Nacht nach dem widerwärtigen Reisetage, und – diese Überraschung für die herzige Welt hier! Diese alte Kattelen ist doch nicht mit Gold zu bezahlen; aber ein wenig hat sie sich heute schon durch ihr Vergnügen an den Gesichtern von Kloster Lugau rund um sie her selber bezahlt gemacht für ihren Brief zur rechten Zeit an Mama. Welch ein Spaß die Visage der alten Kleynkauern! Ja, wenn man nur selber so ganz und gar genußfähig für die ganze Komödie wäre und seine eigene Rolle drin mit völlig freier Seele spielen könnte! Ja, ein Trost ist es wohl, sich einmal unter den laufenden Umständen in die Seele der Tante Kennsiealle zu versetzen und von da aus seinen Nächsten, hier also den Herrn Eckbert Scriewer, wie sich selber zu lieben. Aber nicht andauernd und stichhaltend! Ist man nicht nach Herz und Hirn hin intelligent genug, um auch aus dem verblüfftesten Gesicht dieser – grauen Lemure die Frage heraus zu lesen: »Nun, lieber Scriewer, teurer Eckbert, glauben Sie wirklich, daß ich an ein wirkliches Behagen Ihrerseits über Ihre Situation zwischen Ihrem Bräutchen und meiner Kepplershöhe glaube?« . . . Hm, wenn man so ein gewöhnliches, alltägliches, seinen Stimmungen folgendes Menschenkind wäre, könnte man im Verdruß der Stunde und, um die alte Person zu ärgern, sein junges, süßes, kindliches, zimperliches Liebchen sofort am Arm nehmen und es sich als Lebensgepäck am Altar der Lugauer Klosterkirche auf den Buckel laden; also – Ruhe, mein Sohn Eckbert, Ruhe, Überlegung, Leidenschaftslosigkeit! Welch ein wonniges Atemholen in diesen Berg-, Wald-, Wiesen- und Klostergartendüften und -lüften. Nur für die Nachtigallen scheinen wir etwas zu spät im Jahre von der Tante Seraphine hierher zitiert worden zu sein. Sonst sollen ja wohl alle Büsche hier in Kloster Lugau voll von ihnen stecken. Mein Evchen hat mir wenigstens öfter von ihnen vorgeschwärmt . . .«

Von den Lugauer Nachtigallen zu dem Tübinger Doktor Meyer war natürlich auch nur ein Schritt.

»Wie mir der Bursch morgen bei Tageshelle erscheinen wird, soll mich auch wundern,« lächelte Doktor Scriewer giftig in die Sommernacht hinein. »Hm, scherzhaft bliebe mir der Bengel freilich nur so lange als – nun, hätte sich so etwas bereits angesponnen, so wäre das Kind dumm, ängstlich und unschuldig genug, um mir selber zu kommen und vor mir sein volles Herzchen auf den Knieen auszuschütten. Da mag die Tante Seraphine gesehen haben, was sie will: Ich wüßte nichts, was mir gleichgültiger wäre; – in dieser Beziehung halten wir fest, was wir haben, und können im Notfall auch den Sentimentalen agieren, das treue deutsche Herz herauskehren und den schwäbischen Tölpel auf einer Wehmutsflut zum Lande hinausspülen. Hm, denken wir nur nicht zu tief über Gefühle nach, die wir haben – können; – dafür finden sich im rechten Moment immer schon die rechten Worte. Denken wir lieber an Kepplershöhe. Das wäre freilich der Gipfel des Vergnügens, vom Herrn Vetter Meyer von dort aus am Hochzeitstage die herzlichsten Glückwünsche in Empfang zu nehmen. Beim Acheron, da hörte freilich der Spaß auf; und wer den Hohn, das herzlichste Bedauern, die innige Schadenfreude, die treuherzige Teilnahme an dieser Wendung der Dinge von ganz Wittenberg mit in sein junges Eheglück hineinzunehmen hätte, das würde der Herr Doktor Eckbert Scriewer sein. Diese alte Bestie! diese alte Kleynkauern! . . . in dieser Beziehung hat die treue gute Seele, die andere alte Giftschachtel, Mamas beste Freundin und – auch die meinige – da hat Fräulein von Kattelen vollkommen richtig gesehen. Urväterweisheit drängt sich wieder einmal dem Tage mit verruchtester Nachdrücklichkeit auf. Das sinnige Gleichnis vom Esel zwischen den zwei Heubündeln hat wieder mal Fleisch und Blut gewonnen, liegt hier im Fenster, nennt sich Eckbert Scriewer, Doktor der Weltweisheit, demnächstiger außerordentlicher Professor in Wittenberg, ordentlicher Professor in Göttingen, Jena, Halle, Leipzig oder Berlin, möglicher zukünftiger Rector magnificus von Berlin, Leipzig, Halle, Jena, Göttingen oder Wittenberg, und weiß nur Eines absolut: nämlich daß es absolut nicht weiß, was aus der verdammten Geschichte eigentlich werden soll?! Es! Bringe ich hier etwa nicht das ganze Es, sonst auch Menschendasein genannt, den Worten: Schicksal, Vorsehung, Zufall gegenüber in mir zur Darstellung? Welch eine Welt, um darin bei Vernunft zu bleiben! also – wenigstens so lange wie möglich ruhig Blut, Menschenkind! Freien oder nicht freien, das ist jetzt die Frage. Das Geld der Familie Kleynkauer hat einzig und allein die alte Hexe vom Universitätsplatz; mein Herr Schwiegervater in spe nur seine Schulden und seine Hoffnungen auf – mich. Hätte sich Mama daheim in dieser Beziehung von ihren Referenzen nicht zu sehr täuschen und von ihren Illusionen nicht so rasch hinreißen lassen, wäre es mir heute auch lieber. Aber da sind alle Weiber gleich dumm und unzurechnungsfähig, und wir auf ihrer Fährte selbstverständlich nicht klüger. Wie nennt doch Exzellenz der römische Feldmarschall Cajus Marcius seine Virgilia? Mein lieblich Schweigen! . . . Jawohl, meine, meine liebliche Dummheit, meine reizende Bleichsucht! Das in einen leeren Sack gestopft sein Lebelang bergan schleppen zu müssen, das wäre freilich eine zu süße Last! Bliebe also der Einfluß des alten Herrn, meines Herrn Schwiegervaters in spe, nach oben zu bedenken. Nun, daß das ein Stern in cadente domo ist, und nicht bloß in der Wissenschaft (da hat er nie viel eigenes Licht von sich gegeben!), sondern auch in andern, mir augenblicklich wichtigeren Sphären: wer braucht da noch zu kommen, um mir deutlicher zu machen, was ich schon sehr genau weiß? Soll ich etwa gar des würdigen alten Esels Schulden bezahlen? Teuerste Schwiegermama, da könnten Sie, die es so gut verstanden haben, den Glanz des Hauses Kleynkauer nach außen leuchten zu lassen, sich doch recht böse schneiden! Mit der holden Kleinen bloß die Verpflichtung mitzubekommen, die werten Eltern im Alter zu stützen, zu unterstützen? Ich danke! Und übrigens weiß ich es ja nur zu gut, was Bruder Johannes und Schwester Christine daheim in ihrer Kinderfreundsgutmütigkeit für das Wohlbehagen meiner eigenen Eltern sich an ihrem eigenen Wohlbefinden in ihren neugegründeten Familien abzuzwacken haben. Was schlägt's denn da? Beim allmächtigen Gott, Mitternacht! Welch eine herrliche Glocke die lieben Damen, diese tausendjährigen Nonnen von Lugau, doch haben! Wie aus dem Herzen der Romantik heraus! Kloster Lugau – wie feierlich das Wort dann und wann zu uns hinüber ins Säkulum klingt! Einer von dieses verruchten hergelaufenen Schwaben Erzpoeten hat ja wohl davon gesungen:

Man höret oft im fernen Wald
Von oben her ein dumpfes Läuten,
Doch niemand weiß, von wann es hallt.
Und kaum die Sage kann es deuten!?

»Welch ein Glück aber und welch eine unbezahlbare Helferin in dieser leider augenblicklich nicht mondbeglänzten Zaubernacht, diese brave alte Kattelen! Wie das Frauenzimmervolk durch die Jahrhunderte sich auch hier liebt und haßt! Es ist einfach zum Wälzen. Mama – Schwiegermama – Fräulein von Kattelen – Fräulein Euphrosyne Kleynkauer: überall ganz und gar das Weib, das Weib – der Trost des Mannes im Leben und im Sterben! Na ja, was auch daraus werden mag, recht amüsante Tage werden wir jedenfalls vor uns haben. Na, sehen wir vor allen Dingen morgen früh mal zu, wie Kloster Lugau seine bibliographischen Schätze verwaltet hat. Kühle Stirn, offene Augen und alle Trümpfe bis jetzt noch in der Hand: liebendes, strebendes, webendes, hangendes, langendes, bangendes Herz, was willst du mehr?«

 


 


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