Wilhelm Raabe
Kloster Lugau
Wilhelm Raabe

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Zwölftes Kapitel.

Im sechsten Kapitel nämlich war es, wo die Leser vielleicht zuerst wieder die leise Ahnung gewinnen konnten, daß doch auch diesmal bei genauem Aufmerken irgend ein verständlicher Zusammenhang in die Geschichte hineinzubringen sei. In diesem Kapitel kam der kleinen Eve Kleynkauer der Faden des Zusammenhanges zwischen ihr und den Dingen dieser Welt völlig abhanden; aber der große Mann im Buche, den Wittenberg »Horatio« nannte, der Herr Hofrat Doktor Herberger, war wieder am Platze angelangt und auch schon an dem Gesellschaftsabend der Frau Oberkonsistorialrätin und so weiter erschienen – diesmal nun wirklich in wirklich geheimer Sendung vom Himmel her; so meinte wenigstens die Tante Euphrosyne trotz ihrer mehr oder weniger berechtigten Verstimmung gegen den Mann. –

Die Leser erinnern sich, zumal wenn sie noch einmal darauf aufmerksam gemacht werden, aus ihren Jugendstudien, daß der Erdball mit allen seinen Ländern und Meeren nach Mercators Projektion auseinandergezogen und zu Papier gebracht werden kann. Dann liegt er platt und übersichtlich vor einem und nimmt in jedem bessern Atlas beide Seiten ein, und wenn man den Band aufschlägt, hat man das, was sonst die westliche Halbkugel heißt, zur Linken und die östliche zur Rechten. Und wenn man, um einen verstohlenen, späten Lichtschein dem Auge der Welt zu verstecken, den Folianten um sein Lämpchen aufgerichtet hinstellt, dann hat man nach Herrn Kaufmanns oder Krämers Rechnung gleichfalls Amerika zur linken Schläfe und die andern Weltteile zur rechten. Auf das Buch oder den Brief kommt es dann an, ob hinter der Welt nach Merkators Projektion die Schläfen schmerzen oder nicht. Natürlich hängt das immer etwas damit zusammen, wie das Blut durch das Herz getrieben wird durch solche nächtliche Lektüre.

»O Gott, o Gott, o Gott!« schluchzte Eve Kleynkauer. »Er ist so gut, so klug und gelehrt, – und ich? Ich weiß es ja nur zu gut, daß ich nichts bin, nichts weiß und nichts kann und seiner Güte und Weisheit und seiner hohen Pläne mit mir und der Menschheit nie, nie wert werden kann! O, weshalb hat er mich doch nicht gelassen – und bei der Tante Euphrosyne gelassen, da er das doch auch gewußt hat und wie es auch jetzt ja wieder aus seinem edlen, guten Brief hervorgeht?! Was kann ich ihm denn sein, wenn ich mir auch noch so große Mühe gebe, es zu lernen, was ich ihm sein kann, und es nicht fertig bringe, weil sich mir alles, alles nur immer mehr und mehr verwirrt? Ich kann ja nichts dafür, ich kann ja nichts dafür – ich wollte es ja so gern ändern und mich auch – ja, mich auch, wenn ich es nur könnte! O, lieber Papa, o, liebe Mama, ich kann ja nichts dafür, daß ich so dumm und selbstsüchtig, nur Ich bin, und er Er – ich möchte euch und ihm ja alles zuliebe tun und anders werden und der Welt mehr nützen. O, wenn ich es doch nur könnte! . . . Und es gibt so viele andere hier in der Stadt, die seiner so würdig wären und an die er nicht so schreckliche, gute, edle Briefe schreiben müßte. Weshalb mußte er doch gerade auf mich fallen, da er doch wußte, daß ich keiner seiner hohen Aufgaben gewachsen bin, daß ich auch in der Schule schon keiner von meinen Aufgaben gewachsen gewesen bin? Da war Monika Neander, die ihn so viel besser als ich in seinen hohen Bestrebungen begriffen hätte und hätte folgen können. Und Batilde Musurus, die fast ebensogut lateinisch und griechisch versteht wie ihr Papa! Und die beiden von Nettesheim, früher meine besten Freundinnen, und die jetzt alle zwei – Justine sowohl wie Renate – nun so böse auf mich sind, weil sie meinen, daß ich jeder von ihnen im Wege gestanden habe. O ja, und auch sie hätten ihm wirklich besser als ich auf seinem hohen Wege folgen können, das ist ja auch wahr; aber daß ich ihnen im Wege gestanden hätte, das ist nicht wahr! Die Tante Euphrosyne weiß es, und – und – es ist ja auch nur mein großes, unverdientes Glück, und – ich – ich möchte mir ja auch alle Mühe geben, es nun zu verdienen, wenn ich nur wüßte, wie? und die geistigen Kräfte und Fähigkeiten dazu hätte! O, es ist doch zu schrecklich um so ein unnützes Geschöpf wie ich und solch armen dummen Kopf wie meiner, der über das Edle und Erhabene, ja, ja, über das Edelste und Erhabenste und Beste nichts kriegt als sein ewiges, törichtes Kopfweh! O, an Renate von Nettesheim hätte er ganz gewiß solch einen Brief nicht zu schreiben brauchen! Ach, und nun die fürchterliche Frage: muß ich ihn der Tante doch zeigen oder nicht, wenn sie ihn wieder sehen will?«

Dies war freilich eine nicht unbedenkliche Frage! Das Kind hatte schon mehr als einen von derselben Sorte, wenn auch noch keinen ganz so im Demantlicht einer edelsten Mannesseele strahlenden, der Tante gezeigt, oder vielmehr die Tante ihn sich zeigen lassen, und jedesmal hatte es nachher, sowohl am Universitätsplatze wie auf Kepplershöhe, bewölkten Himmel, wenn auch gerade nicht Blitz und Donnerschlag, so doch ein mehr oder weniger deutliches Grummeln und Brummeln gegeben.

Die Tante hatte ihr indiskretes Hineinschnüffeln in fremde, wenn auch noch so liebliche Korrespondenz nicht bloß mit einem Ha und Hm begleitet, nein, sie hatte auch Bemerkungen dazu gemacht, die sogar sehr deutlich von schwüler, gewitterschwangerer Temperatur in ihrer Seele redeten. Wenn die Tante Euphrosyne in einer gewissen Weise die Nase kraus zog, dann pflegte jedesmal Evchen die Hände ganz angstvoll zu falten:

»O Gott, habe ich etwas verbrochen? Tantchen, habe ich was getan, was nicht recht ist?«

»Bewahre, dummes Lämmchen! Aber glaubst du wirklich, du seist allein in der Welt? Ne, ne, es gibt noch andere Leute in der Welt, und diese alberne, nichtsnutzige Welt im ganzen noch obendrein. Zum Henker das Vergnügen, das alles nur zu genau zu kennen! Das sollen einige große Philosophen fertig gebracht haben, sich nach genommener Einsicht nicht weiter mehr darüber zu ärgern: so weit habe ich es aber leider noch nicht gebracht!« –

Nun dieser schönste Tintenerguß eines zärtlich liebenden Herzens?

»O, er schreibt es ja so deutlich, daß seine Sorge nur für mich ist! Ich soll sie ganz allein nur in mich zusammenfassen. Niemandem soll ich diesmal mit meiner Angst kommen – keinen um ein liebes Wort dazu bitten! Und die Tante Euphrosyne am wenigsten. O, er schreibt es hier ja so deutlich, daß er der Guten, der Besten gar nicht traut, und das ist ja das Allerschlimmste für mich; o, lieber Eckbert, bester Eckbert, was soll daraus werden? Was soll zwischen uns beiden daraus werden?« –

Das Kind nahm damals diesen herzigen Bräutigamsbrief nicht mit in sein Bettchen, nachdem es in der winterlichen Nacht, nicht fröstelnd, sondern frierend, sein Licht ausgeblasen und die Welt nach Mercators Projektion zusammengeklappt hatte. Nicht unter das Kopfkissen nahm es ihn mit, und dorthin hätte er doch am ersten gehört; denn jedes Kind weiß es ja, was das nutzt, sein Schulbuch unters Kissen zu legen, wenn man was lernen soll, was nicht in den Kopf will.

Eve Kleynkauer ließ Herrn Doktor Scriewers Schreibebrief zwischen den nach Herrn Krämers Rechnung auseinandergezogenen fünf Weltteilen, und da war er ja fürs erste auch wohl am besten aufgehoben. Nicht am sichersten, wie sich nach längerer Zeit auswies.

In dieser längeren Zeit war Evchen Kleynkauer krank, – nicht besorgniserregend, doch so, daß sie allen Sorge machte und ihren nächsten Angehörigen, die im täglichen Verkehr oft nicht die hierher gehörigen scharfen Augen haben können, nicht selten den verdrießlichen Ausruf abrang:

»Aber du solltest dich doch etwas zusammennehmen, Mädchen!« –

Fernstehende pflegten zu sagen: »Was fehlt eigentlich der jungen Dame?« und dann setzten sie gewöhnlich hinzu: »Das ist so ein allerliebstes Mädchen, so ein gutes Kind; aber wenn es mein Kind wäre, würde ich nicht aus der Unruhe herauskommen.«

Wer darob nicht aus der Unruhe herauskam, das war die Tante Euphrosyne; und daß sie sie nicht zeigen durfte, wie sie wohl gemocht und es sich gebührt hätte, das machte das Elend wahrlich nicht gelinder. Kummer, der zum Grimm wird, verbessert den Charakter durchaus nicht, und wer diese psychologische Tatsache zu seinen übrigen philosophischen Erfahrungen, Betrachtungen und so weiter legen durfte, das war Horatio, der Doktor der Weltweisheit Franz Herberger, dem wir hier an dieser Stelle seinen ihm gebührenden gesellschaftlichen Titel wieder einmal nicht geben.

Da sie den Mann wieder in Wittenberg hatte, nutzte sie ihn natürlich auch aus, die alte Dame vom Universitätsplatze. Ihm schob sie mehr und mehr die ganze Verantwortlichkeit für den Jammer in die Schuhe, und wahrlich nicht bloß in die Schuhe.

Hätte er nicht zuerst einen Narren gefressen an dem holden Knaben, dem edlen Jüngling, dem »ekligen Bengel«, so wäre nichts so gekommen, wie es nachher kommen mußte. Was hatte er, Horatio, überhaupt am Universitätsplatz und auf Kepplershöhe bei der Tante Euphrosyne zu suchen, wenn er nichts wollte, als ihr ihr armes, kümmerliches, vergälltes Leben noch mehr in Unordnung zu bringen? Kannte sie, die Tante, sie alle nicht schon längst genug? Mußte sie sie durch so einen zugelaufenen sogenannten guten Freund noch genauer kennen lernen? Sie dankte dafür, aber wenn sie gleich von Anfang an dafür gedankt hätte, so wäre das freilich noch besser gewesen Wer aber kann es sich denn jederzeit vorhalten, was daraus werden kann, wenn man sich wieder mal dem Bedürfnis hingibt, einem anscheinend vernünftigeren Menschen die Hand zu drücken?

»Ihrem Mamert hätte ich sie drücken sollen, lieber Herberger; denn der war nicht nur zehntausendmal vernünftiger, sondern auch verständiger als Sie, bester Herberger. Der hatte Weltverstand. Der kannte sie auch alle, und unsern speziellen Burschen hier kannte er unbedingt besser als Sie!«

»Liebe Tante, ich habe mir nie angemaßt, sie alle – uns alle so genau in– und auswendig zu kennen wie Sie. Ich würde das meinerseits unbedingt für eine Überhebung erachtet haben. Und dann hat man ja auch seine eigenen Lebenslasten auf der Seele und genug damit zu tun!«

»Da haben Sie recht, Franz, und Laura kann ebensogut darüber nachsagen wie Eva,« seufzte die Tante Euphrosyne.

Man brach auch ist diesem Falle das Gespräch besser ab, als daß man es fortsetzte. Häkeleien kommen auch zwischen den größesten Philosophen vor, auch wenn die Weisheits- und Wahrheitsfreunde von verschiedenem Geschlecht sind und das erste gegen das andere unter allen Umständen zu der ausgezeichnetsten Höflichkeit verpflichtet ist. »Der Weise hält den Mund,« denkt am sichersten der Philosoph, wenn die Philosophin noch lange nicht denken will: »Der oder die Klügste gibt nach.« –

An dem Lebensschicksal der kleinen Eva änderte für jetzt der fortgesetzte freundschaftliche Verkehr und Seelenaustausch zwischen dem Hofrat und der Herrin von Kepplershöhe gar nichts. Nicht der kleinste Bruchteil von Lebenslast wurde ihr dadurch vom Herzen genommen. Das junge Mädchen kränkelte unruhig weiter, und zu dem schönen Brief zwischen den Blättern der Welt nach Mercators Projektion geriet fürs erste leider weder die Tante Euphrosyne noch der Herr Doktor Herberger. Er hätte da wohl gut gelegen, wenn er sich nicht ununterbrochen in dem Köpfchen und Herzchen der Kleinen, auch aus seinem Versteck heraus, in den täglichen Verkehr der beiden Liebenden gemischt hätte. Da sollte denn wohl nicht bloß das Herz und der Kopf, sondern auch der Magen, von den Nerven gar nicht zu reden, der glücklichen Braut in Mitleidenschaft gezogen werden und zu dem täglichen Besuch des Doktors Scriewer auch den des Hausdoktors nötig gemacht haben!

Ja, wenn der ein Mittel gegen die Liebe, das heißt, in diesem Falle gegen den liebenswürdigen blonden Eckbert, gewußt hätte! Er erkannte aber weder den Sitz des Übels noch das Übel selber, rechnete diese Patientin zu denen, bei welcher ein vielbeschäftigter Arzt gern vorfährt, um die Familie zu beruhigen, von den neuesten Tagesneuigkeiten ein Wort zu plaudern und sich im übrigen auf die gute Natur der jungen Dame zu verlassen. Daß das kommende Frühjahr unbedingt eine Änderung zum Bessern in den Zuständen ihres Lieblings hervorbringen müsse, davon sind Papa und Mama ja auch ohne ihn überzeugt, trösten sich aber an der wiederholten Versicherung des großen Fachmanns immer mit derselben dankbaren, herzlichen Bereitwilligkeit. Man kann des Trostes eben nie zuviel kriegen.

 


 


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