Wilhelm Raabe
Kloster Lugau
Wilhelm Raabe

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Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Ältere Leser und Leserinnen erinnern sich wohl noch, wie der Frühling und noch heftiger der Sommer des Jahres Achtzehnhundertneunundsechzig von den wirklichen, das heißt in diesem Falle wahren, das heißt aufrichtigen, deutschen Dichtern und Dichterinnen besungen wurden. Mehr oder weniger katarrhalisch verstimmt schlugen sie alle zugleich verstimmte Harfen, Lauten, Leiern und Guitarren. Einen so regenverschleierten, umwölkten lyrischen Helikon hatte der vernünftige Mensch noch niemals gesehen: auf und um den Gipfel roch es diesmal auch dort nach Kamillentee und am Fuße nach Opodeldok; die geweihtesten, das heißt hartnäckigsten, Sänger und Sängerinnen oben husteten und prusteten und litten unten am Rheumatismus, und – der Regen regnete jeglichen Tag.

Wie anders im Lenz und nachher auch im Sommer des Jahres Achtzehnhundertsiebenzig! Die ältesten Jungfrauen in Lugau erinnerten sich nicht eines solchen immer reinen himmlischen Blaus über ihrer stillen, friedlichen, weltverlorenen, frommen Heimstätte, nicht einer solchen Lieblichkeit, Pracht und Fülle ihres Klostergartens. Die Erde wurde von Pfingsten an schöner mit jedem Tag, das Blühen wollte nicht enden: wir müssen hier wirklich zu einem der älteren deutschen Dichter zurückgreifen, um den richtigen Ton für die allgemeine Stimmung der Nonnen von Kloster Lugau zu finden –

»Es blüht das fernste, tiefste Tal,
Nun, armes Herz, vergiß der Qual!
Nun muß sich alles, alles wenden.«

Und die Welt im Kloster Lugau wurde auch jünger mit jedem Tag. Die ältesten Jungfrauen lernten es noch einmal, sich mit des Jahres Jugendschönheit auf den vertrauten Fuß der eigenen Jugendjahre zu stellen. Im Garten kramten sie mit frischen Blumen, und in ihren Zellen kramten sie in alten Kommoden und in den verborgensten Schubladen ihrer Schreib- und Nähtische und brachten aus alten Stammbüchern, Albums und Liederbüchern alle vertrockneten Blumen, Verse und Denksprüche zu Tage, und manch ein graues Haupt beugte sich auch wohl tiefer über ein dunkles Bildchen aus jener Zeit, wo die Photographie noch nicht erfunden war: Schattenbilder damals wie heute; aber heute wie damals welch liebe, süße, wehmütige oder auch leider schlimme Schattenbilder! . . .

Er konnte es eigentlich nicht verantworten, dieser Doktor Meyer aus Schwaben, daß er den Nonnen von Lugau gerade in diesem Frühling den ganzen Ludwig Uhland, den Justinus Kerner, den Eduard Mörike und, was er sonst in der Art (nicht in Büchern gedruckt!) von Hause auf seiner Jagd nach dem Sachsenspiegel mitgenommen hatte, in ihren Klostergarten hineintrug! Hatte ihn aber dieser norddeutsche, dieser preußische Frühsommer nicht auch gefangen, ihn etwa nicht wie am Kragen genommen, um ihn in diesen Lugauer Klostergarten zu führen und ihn mit der Nase in den nächsten besten Blütenbusch zu stoßen: »Da riech drauf, aber mit Verständnis, wenn du des Reiches Sturmfahne fernerhin weiter zu tragen wünschest, du närrischer Sachsenspiegelschwabe!?« –

Die Tante Euphrosyne hatte natürlich, nachdem sich ihre ersten Gefühle über den neuentdeckten Herrn Vetter wieder etwas beruhigt hatten, von neuem, ja noch im verstärkten Maße ihr Pflegekind im Auge; und was die Natur tun konnte, es in Sonnenschein zu tauchen, mit Tau zu waschen und ihm in Garten, Feld, Wiese und Wald immer bunteres, immer hübscheres Spielzeug in die Hände zu geben: der Tante Euphrosyne genügte es noch lange nicht.

»Wie melancholisch guckst denn du nun wieder in die Welt, Alte?« pflegte die Tante Augustine wohl zu fragen. »So hör doch nur deinen Doktor da hinter dem Busch, wie gut er mit den Lugauer Nonnen umzugehen weiß und wie angenehm er vor allem unser Evchen zu unterhalten weiß. Den lustigen Gesellen hat dir der Herrgott doch noch als seine besondere Zutat ins Rezept für euer armes, kleines, verstörtes Wittenberger Hühnchen getan. Das war das Kind, welches eben lachte! und so hab ich es seit eurer Ankunft hier noch nicht lachen hören. Tu mir den Gefallen, Synchen, und verdirb nicht du jetzt durch deine Gesichter dem großen Doktor da oben die Wirkung eurer Lugauer Frühlingskur! Wie voll aller Schnurren und Schwänke der Bursch sitzt! Und dann ist er auch wieder imstande und bringt die Gräfin Laura zu Rührungsseufzern, was wahrhaftig bei der lieben, behaglichen Seele so leicht nicht ist! Daß der Mensch nach Lugau gekommen sei, um da in der Bibliothek wissenschaftliche Studien zu treiben, glaubt ihm weder sein Tübingen noch unser Wittenberg. Wer aber gestern zu mir in die Küche gekommen ist und gesagt hat: ›Hören Sie, Augustine, tun Sie mir die Liebe an und sehen Sie in Ihrem Kochbuch nach, was eigentlich Leberspätzle sind, nächsten Sonntag hab' ich Ihren Herrn Vetter zu Tisch, und die Familie Kleynkauer ist geladen,‹ das ist die Frau Domina gewesen! . . . Bitt' ich dich, ich habe jetzt alle seine schwäbischen Leibgerichte herauszusuchen, ehe der hier seinen Sachsenspiegel gefunden, oder vielmehr bei uns sämtlichen Lugauer Nonnen sich herumgegessen hat. Was singt er ihnen denn da nun jetzt wieder? Na, nächstens schicken sie uns nicht nur von wegen unserer Büchereiverwaltung eine Kommission, sondern auch ein hochehrwürdiges Konsistorium mischt sich ein und revidiert die Klosterordnung von Lugau. Ist das nicht da die Kattelen an ihrem Fenster, die sich schon ihre Notizen macht?«

Es war Fräulein von Kattelen, die, anscheinend nur mit ihrem Strickstrumpfe beschäftigt, an ihrem Fenster saß, aber sicherlich den Klostergarten von Lugau scharf im Auge behielt. Ob das Volkslied, das der Doktor Meyer aus Tübingen eben zum besten gab, zu dem Lugauer Klostergarten und den Nonnen drin paßte, werden wir freilich einem hochehrwürdigen Konsistorium zur Begutachtung nicht anheimstellen; darüber haben wir selber einzig und allein zu urteilen!

»Wer bekümmert sich, und wenn ich wandre
hier aus dieser Kompagnie?
Ist's die eine nicht, so ist's die andre,
Wer bekümmert sich, und wenn ich wandre?
Morgen geht's in aller Früh.«

»Nun höre einer den Schelm,« lachte die Tante Augustine. »Als ob der jetzt sein Quartier beim Förster Gipfeldürre aufgäbe! Als ob der jetzt seinen Sachsenspiegel wirklich fürs erste fände, selbst wenn er ihn heute noch aus irgend einem alten Spinnenwinkel zu Tage förderte! Was aber die Warberg für eine wundervolle Altstimme hat!« –

»Nun höre sie einer!« sagte aber auch Schwester Seraphine am Fenster ihrer Zelle mit einem Blick auf einen großen Kupferstich, eine Kreuztragung Christi, an ihrer Wand, der nur bedeuten konnte: »Herr, was müssen die Gerechten ausstehen in dieser argen Welt!« Daß sie aber, um von dieser argen Welt nichts mehr zu sehen und zu hören, das Fenster schließen, die Vorhänge herablassen und doppelte Gesundheitswatte in die Ohren stopfen konnte, fiel ihr sonderbarerweise nicht ein. Im Gegenteil, sie behielt den Klostergarten von Lugau sehr im Auge und Ohr; und sie hatte, dem lieben Gott sei Dank, für ihr Alter noch immer ganz gute Augen und ein recht feines Gehör. So leicht entging ihren Sinnesorganen innerhalb der Lugauer Klostermauern nichts von dem, was dermaleinst sicherlich beim jüngsten Gericht gerochen wurde; und wenn dann der Himmel in Sachen Kloster Lugau doch einer Kronzeugin benötigt sein sollte, so war Fräulein von Kattelen jedenfalls dafür da und konnte genaueste Auskunft geben über alles, was an Ärgernis während ihres Aufenthaltes dorten vorgekommen war. Und da die frommen Schwestern das sämtlich wußten, so hätten sie sich wirklich ein bißchen besser in acht nehmen sollen – die gute Seele, »unsere Kattelen«, mußte wahrlich bald zusammenbrechen unter der Last der Verantwortlichkeit vor dem Weltenrichter, die auf ihr ruhte.

Taten sie es? Wie es der Schwester Seraphine vorkam, von Jahr zu Jahr, von Tag zu Tag weniger.

Die Welt ward schlimmer mit jedem Tag; und wenn der heilige Stifter diesen heutigen Nachmittag vor tausend Jahren hätte voraussehen können, so würde er nach Fräulein von Kattelens festester Überzeugung seine Gründung mit vollstem Recht unterlassen haben; die Nonnen von Lugau und ihre zugereisten Sommergäste trieben es doch fast zu arg!

»Höre sie, höre sie einer! Sollte man es glauben? Sollte man es für möglich halten?« ächzte die Kronzeugin an ihrem Fenster. »Das geht doch noch über ihr Eiersuchen am letzten heiligen Ostertage! Der Kleynkauern und der albernen Warberg kommt das aber auch noch mal zu Buche, was sie mich damals haben finden lassen; und der Gnädigsten – der Frau Oberin vergesse ich es auch nicht, daß sie zu der Schändlichkeit nur lachte und meinte: ›Beste Kattelen, Sie müssen das den Damen nicht so übel nehmen; so böse, wie Sie es auffassen, war die Devise nicht gemeint; und ich habe über die Sottise, die der Osterhase mir, wahrscheinlich durch Vermittelung der lieben Laura, ins Nest gelegt hat, auch nur gelacht; – wenn Sie wollen, lassen Sie uns tauschen – Anzüglichkeit gegen Anzüglichkeit – mehr oder weniger unsere Fehler haben wir alle, und der Scherz bleibt doch immer innerhalb unserer Gartenmauer.‹ – Gehorsamste Dienerin, Frau Domina, daß nicht alles innerhalb unserer Gartenmauer bleibt, dafür werde ich denn doch auch ein wenig sorgen; höre, höre sie einer! Wenn sie nächstens Blindekuh in der Kirche spielen, soll es mich gar nicht wundern. Seit dieser ausländische junge Mensch und diese alte, widerwärtige Studententante mit ihrem kranken Hühnchen eingerückt sind, sind sie zu allem fähig. Aber da da, hier hier werde ich der Frau Oberin doch beweisen, daß nicht alles hinter der Lugauer Klostermauer mit dem Mantel der christlichen Liebe zugedeckt wird. Allmählich wird es wahrhaftig hier Zeit und Christenpflicht, daß ich meiner guten Scriewer doch einen Wink zukommen lasse!« –

Acht Tage lang sah es die Gute noch mit an, mit den Gefühlen und in der Stimmung der Familie Zudecker (auf hebräisch Lot) in Sodom; dann aber trug sie es nicht länger mehr, sondern benutzte um die Mitte des Brachmonats eine der stillsten, schönsten Mondscheinnächte dazu, um der Welt aufzudecken, wie es in Sodom und Gomor – nein, in Kloster Lugau herging. Das heißt, sie schrieb an eine ihrer besten Freundinnen draußen im Säkulum, die Frau Kirchenrätin Scriewer, die Mama eines unserer besten Freunde, ebenfalls draußen in der Zeitlichkeit, an die Frau Mutter des Herrn Doktor Scriewer in Wittenberg.

»Liebe Malwine!

Verdient hast Du ihn eigentlich nicht, diesen Brief nämlich, denn seit meinem herzlichen, innigen Glückwunsch zu der Verlobung Deines lieben Sohnes habe ich nichts wieder von Dir gehört und vergeblich auf eine Rückantwort auf so manche mich interessierende Frage gewartet. War das recht von Dir? Aber freilich, Du lebst in Deiner bewegten, Dir jeden Augenblick wohltuend ausfüllenden Welt weiter und hast für die arme Lugauer Einsiedlerin von Deinem lieben, schönen, segensreichen Leben nicht das geringste übrig. So sind wir armen Menschen, und wie der liebe Gott mit uns, so müssen wir schon miteinander Geduld haben. Ich halte es eigentlich auch für ein Unrecht, Dich heute wieder einmal an mich zu erinnern und Dich so in meine Einsamkeit, in die Verödung, die Verlassenheit meiner hiesigen alten Tage herunterzuziehen. Aber wessen das Herz voll ist, dessen geht auch die Feder über, und so in dulci jubilo wie jetzt, und zwar in einem auch Dich vielleicht interessierenden Jubiläum, haben wir hier in Lugau seit lange nicht gelebt. Dein Herr Sohn wird Dir sicherlich wohl schon Bericht darüber gegeben haben, daß wir jetzt Dein Schwiegertöchterchen, natürlich in Begleitung der Wittenberger Kleynkauern (als ob wir an unserer hiesigen nicht schon genug hätten!), zur Stärkung ihrer Gesundheit hier haben. Wie Blandine dazu gekommen ist, dies zuzugeben, begreife ich eigentlich nicht. Nun, aber darüber müßt ihr beiden guten Mütter freilich wohl besser urteilen können als ich; – in einer guten Haut scheint mir Deine liebe kleine Eva, Dein zukünftiges Töchterchen, leider nicht zu stecken. Sie macht auch mir in der Tat einige Sorge, und in der Hinsicht wäre es wirklich recht wünschenswert, daß die Lugauer Luft von recht wohltätigem Einfluß wäre.

Aber die Lugauer Luft! Beste, Teuerste, ich bin überzeugt, wenn Du sie, so wie ich, Tag für Tag und vorzüglich in der letzten Zeit bei Tage und bei Nacht zu atmen hättest, würde sie doch auch Dir wohl ein wenig schwer auf die Brust fallen. O, hätte ich sie Dir doch nur einen einzigen dieser jetzigen angenehmen Sommertage durch, und wenn auch nur von meinem Fenster aus, zu kosten geben können, natürlich mit allen Ingredienzien! Sind wir in Kloster Lugau oder in der Arche Noah? In der letzteren, wenn es nach dem Lärm geht; aber ich hoffe fest, daß Du diesen Brief sofort nach dem Lesen verbrennst; und mit dieser dringenden Bitte nun zu der Dich wahrscheinlich später noch mehr berührenden Hauptsache meines heutigen Briefes: ich glaube nicht, daß Deine zukünftige Frau Schwägerin in Wittenberg, die Frau Oberkonsistorialrätin Kleynkauer, mit der Wendung, die der diesmalige Aufenthalt ihrer Kusine, der alten Studentin, der sogenannten Tante Euphrosyne, hier bei uns genommen hat, ganz freien Herzens einverstanden sein kann. Wenn ich an die Vermögens- und Geisteszustände der Besagten, die meiner Meinung nach schon längst unter Kuratel stehen sollte, denke und dabei an die Gefühle unserer guten Professorin, so wird es mir oft ganz bänglich ums Herz. Als ob wir hier mit Närrinnen noch nicht übergenug gesegnet wären, hat uns das Schicksal auch noch einen Narren dazu über den Hals geschickt, aber einen, wie ich meine, recht gefährlichen Narren, den Herrn Doktor Meyer aus Tübingen! Liebste, beste Scriewerin, wenn Ihr nicht sehr auf Eurer Hut seid, den sehr möglichen Erben von Kepplershöhe!! – – Unter dem Vorgeben, hier nur in unserer Rumpelkammer ein wissenschaftliches Manuskript aus dem vorigen Jahrhundert suchen zu müssen, hält sich dieser junge Mensch seit vorigem Monat hier in Lugau auf, hat sich bei dem Förster im Dorf eingemietet und – Eure Wittenberger halbverrückte Studententante, die Base unserer hiesigen albernen Schwester Augustine Kleynkauer, hat in ihm ihren schwäbischen rechten Vetter, den richtigen Abkömmling des Gründers von ihrer Kepplershöhe, entdeckt, und, wie ich das Ding leider Tag für Tag besser von meinem Fenster und auch sonst einsehe, ist sie imstande, Euch Armen, Euch nichtsahnenden, teuren Menschenkindern, Dir, dem Herrn und der Frau Professorin in Wittenberg und Deinem lieben, trefflichen Herrn Sohn einen Streich zu spielen, der dann freilich an Bosheit, Heimtücke, Rachgier und Rücksichtslosigkeit nichts zu wünschen übrig lassen wird. Daß sie mit dem Herzensbündnis Deines Sohnes und ihres langjährigen, lieblichen Spielpüppchens, Deiner zukünftigen Schwiegertochter, der kleinen, wirklich auch mir täglich mehr ans Herz wachsenden Eva Kleynkauer, nicht einverstanden ist, wissen wir ja wohl alle und machen uns keine Illusionen darüber. Mich wenigstens hat unsere hiesige Kleynkauer, die ahnungslose, dumme Gans, die Augustine, von Anfang an nicht in dem mindesten Zweifel darüber gelassen; und mit dieser Kenntnis der Sachlage sitze ich nun hier am Fenster, sehe in das Wesen und Treiben im Lugauer Klostergarten hinab, höre auch dann und wann, hier und da, ein Wörtchen, das nicht für mich berechnet war, sowohl von den zwei Kleynkauern wie von den übrigen Damen. O, wärst Du arme, liebe, beste der Mütter doch nur zur richtigen Zeit, im rechten Augenblick hier an meiner Stelle oder neben mir, um selber zu sehen, selber zu hören und dann Dir und all den teuern andern selber das Beste zu raten!! . . .

Ich kann das letztere nicht. In meiner langjährigen Einsamkeit und Stille habe ich dermaßen jeden Zusammenhang mit Eurer rauschenden Welt verloren, daß ich auch zu diesem Briefe an Dich (den Du jedenfalls sofort verbrennen wirst!) mich nur mit Mühe und in völliger Zerschlagenheit an Leib und Seele habe aufraffen können. Aber ich trug es nicht länger! Keine Seele zu haben, der man in der Schlechtigkeit und Gewissenslosigkeit rundum sein Herz ausschütten kann, das bringt den Geduldigsten endlich zu einem bitteren Aufschrei! Wie glücklich wäre ich, liebste Malwine, wenn Du mir zurückschreiben würdest: ›Du siehst doch wohl zu schwarz, Seraphine! In Wittenberg und hier bei uns sieht man dieses alles doch ein wenig ruhiger an.‹ – – Nun, ich muß Dir denn das überlassen. Irrte ich mich in meinen Befürchtungen, so will ich mich gern, gern geirrt haben! Leider glaube ich aber nicht an eine solche Rückantwort Deinerseits. Jedes Kinderauge muß das hier in Lugau sehen, so wie ich es sehe! Und sollte Dein lieber Herr Sohn nicht auch sich doch recht bald einmal nach seinem herzigen Bräutchen hier bei uns in Kloster Lugau umschauen? Das liebe Kind fängt gottlob an, wieder aufzublühen, und der hiesige Aufenthalt bekommt ihm, dem Himmel sei Dank, vortrefflich.

Was würde ich darum geben, wenn ich auch Dich einmal wieder in meine Arme schließen könnte, meine gute Malwine! Der liebe Gott behüte Dich und alle die Deinigen und führe alles zu Eurem Besten aufs beste hinaus, das ist der herzliche Wunsch Deiner getreuen Freundin

Seraphine von Kattelen.«

Sie wußte jedenfalls mit der Feder umzugehen, Fräulein Seraphine von Kattelen in Kloster Lugau. Ihre besten Freundinnen und schlimmsten Feindinnen mußten ihr das lassen zu allen ihren sonstigen guten Eigenschaften. Für die Feindinnen war es fast zuviel des Guten.

 


 


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