Wilhelm Raabe
Kloster Lugau
Wilhelm Raabe

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Viertes Kapitel.

Oberkonsistorialrat Professor Doktor Kleynkauer und Gemahlin hatten ihren festen Abend, und die Universität durch alle vier Fakultäten, sowie die hohen Behörden und sonstigen Würdenträger der Stadt samt ihren Damen waren nie auf einen solchen Abend bei Kleynkauers so gespannt gewesen als diesmal. Hofrat Herberger war am Morgen in den Gassen gesehen worden (er hatte die Tante Euphrosyne besucht) und hatte in dem Hause des großen Theologen zugesagt. In jeder gesellschaftlich dazu berechtigten Familie war heute nur davon die Rede gewesen, soweit es das allgemeine Menschengeschick, welches keine Gesellschaftsgrenze anerkennt, zuließ. Und wie das allgemeine Menschengeschick hatte auch das Wetter keine gesellschaftlichen Rücksichten genommen: es hatte sich nicht gebessert; es war schlechter geworden.

Schnee war der Jahreszeit angemessen gefallen, hatte aber seinen Rangstreit mit dem Regen auch durchfechten müssen und noch den kürzeren gezogen; das Resultat war natürlich, was die Straßenübergänge betraf, das Chaos gewesen, ehe die Veste oberhalb sich von der unterhalb schied. Die Damen des Vorwinters Achtzehnhundertneunundsechzig in ihren damaligen Krinolinen hatten wohl das Recht, hier den Übergang über die Beresina, dort durch das, wenn nicht rote, so doch schwarze Meer zu einer Ansprache an die männliche Begleitung zu verwerten. Wie das Weib sich aufopfert, das weiß jedermann, der eins hat und dem es auch bei solcher Gelegenheit nicht vorenthält, daß es sich wieder einmal aufopfert.

Die Gesellschaft war versammelt, Oberkonsistorialrat Doktor Kleynkauer die Liebenswürdigkeit selber. Der Tee wurde herumgereicht, die Frau Oberkonsistorialrätin reichte sich, sozusagen, mit ausgebreiteten Händen selber herum. Sie waren alle da, auch der glückliche junge Verlobte Doktor Scriewer.

»Wo ist denn aber Evchen?« fragten die jungen Damen des Kreises, und der Wirkliche Geheime Hofrat und Professor der Staatswissenschaften Doktor von Andouard, den der jüngere Kollege nicht am Knopfloch, sondern an seiner mittelstaatlichen politischen Überzeugung festgehalten hatte, meinte wohlwollend:

»Sie treffen ganz meine Meinung in Hinsicht auf die Triasidee von Fünfundsechzig, und Professor Gervinus in Heidelberg hat mir neulich ganz in demselben Sinne geschrieben; aber Sie sollten sich in der Tat einmal nach Ihrem lieben Fräulein Braut umsehen, Herr Doktor. Man scheint das liebe Kind allmählich fast so sehr zu vermissen wie Ihren verehrten Gönner, den Herrn Hofrat Herberger, der uns auch ein wenig länger auf sich warten läßt, als mir allgemach höflich dünkt.«

»Ich werde Mama sogleich fragen, ob Herr Doktor Herberger vielleicht hat absagen lassen, Exzellenz; und meine Braut – ja aber, bester Papa, wirklich, wo bleibt denn Eva?«

Die letztere Frage war natürlich an den Schwiegervater gerichtet, der schmunzelnd aus einiger Entfernung der Unterhaltung seines Schwiegersohnes mit dem Großwürdenträger der Universitas litterarum genau zugesehen hatte, ohne jedoch sonst wen von Bedeutung an seinem gastfreien Herde aus den Augen zu verlieren. Wir lassen aber alle diese freundschaftlichen, höflichen, zärtlichen und besorgten Fragen auf sich beruhen. Das kleine Mädchen wird sich ja wohl noch anfinden, und jetzt genügt es, daß Mama gesagt hat: »Sie hat ihr gewöhnliches Kopfweh; ich weiß aber wirklich nicht, wie das Kind jetzt mehr als sonst dazu kommt. So kannten wir das doch früher nicht an ihr. Nun, ich hoffe, das arme Lämmchen doch noch zu uns holen zu können. Ein wenig Zwang schadet da ja auch wohl nicht, nicht wahr, bester Medizinalrat?«

Der Medizinalrat und Hausarzt der besten Gesellschaft von – nun, sagen wir: von Wittenberg, hatte einen Blick über den Kreis seiner Gönnerinnen und Klientinnen hingleiten lassen, den Hippokrates von Kos wohl noch nicht nach seiner ganzen Feinheit würdigen konnte, aber Doktor Claudius Galenos im Rom des dritten Jahrhunderts wahrscheinlich sehr; und dann hatte er, Medizinalrat Doktor Roßmeister, gelächelt:

»Mit Maß und – immer den Umständen angemessen, Gnädigste. Die Tante Euphrosyne –«

»Rät einen Sommeraufenthalt in Kloster Lugau an; ich weiß das. Aber mein Mann würde lieber wieder nach Baden-Baden gehen. Was raten Sie, bester Medizinalrat?«

Der beste Medizinalrat lächelte, wie er bei solchen Gelegenheiten zu lächeln pflegte; aber diesmal ins Leere hinein, denn die Frau Oberkonsistorialrätin lächelte auch, aber nicht ins Leere. Mit ausgebreiteten Händen rauschte sie dem Eingang des Salons zu, wo sich bereits eine Gruppe um den letzten Gast des Abends gebildet hatte. Hofrat Doktor Herberger war in der Wittenberger Gesellschaft von 1869 auf unhörbaren Sohlen erschienen wie der Graf von Monte Cristo in der Pariser Gesellschaft von 1844. Wie aber dieser Mann zu dem Spitznamen »Horatio« gekommen war, mußte jedem unbegreiflich erscheinen, der von so weit her zugereist kam, daß er wohl Shakespeare, aber nicht tagesläufige deutsche Hof- und Hinterhof-Geschichte und Geschichtchen kannte. Horatio hatte in seinem ganzen Leben nicht so liebenswürdig gelächelt wie Franz Herberger eben bei Wiederbegrüßung seiner alten, lieben Freundschaft und Bekanntschaft von Stadt und Universität XXX: geben wir ihnen an dieser Stelle den nom de guerre Wittenberg lieber nicht. Was der Lauf der Zeiten und darin insbesondere das neunzehnte Jahrhundert dazu tun konnte, daß er nicht mehr paßt, ist geschehen.

Ein Geflüster ging herum: »Wie interessant! – wie bleich er aussieht! – Bleich? aber ganz und gar nicht, Beste. Im Gegenteil, ich finde, daß er korpulent geworden ist und sehr wohl aussieht! – Welchen Orden trägt er denn da? Den Elefanten? Dann ist es ja doch richtig, daß ihn sein Hof durchaus nicht hat fallen lassen – daß ihn sein Verhältnis zu der Komtesse in Lugau durchaus nicht – stille doch, er spricht ja! Was hat er gesagt?«

»Ich bringe Ihnen ein recht unangenehmes Wetter mit, meine Herrschaften,« hatte er gesagt, und jetzt sprach er weiter und bemerkte: »Es windet, regnet und schneit draußen, daß kaum ein Durchkommen ist. Siehe da, Professor Bellmann! Auch wieder aus Hannover zurück? Ja, ja, dieser gute, alte Ort läßt den so leicht nicht wieder los, welchen er einmal gefesselt hat! . . . Gnädige Frau, wer würde nicht allen Unbilden der Erdenwitterung trotzen, um einen Abend, wie Sie ihn uns hier zu bieten verstehen, nicht zu versäumen!«

Das letzte Wort war natürlich an die Hausfrau gerichtet.

»O, Sie Böser! Haben Sie uns denn Ihre ganze Ironie mit heimgebracht, lieber Doktor? Aber warten Sie nur, warten Sie! Was unter den Palmen an Ihnen versäumt worden zu sein scheint, das kann hier unter den Eichen und Tannenbäumen noch nachgeholt werden: Sie sollen uns nicht ungestraft ausgehen, bester Herr Hofrat! Doch nun vor allen Dingen: Sie haben alle Ihre Freunde in der großen Welt wohl verlassen?«

»Nun, den Umständen nach. Jedenfalls freue ich mich, alle meine hiesigen Gönnerinnen und Gönner, Freundinnen und Freunde in erwünschtem Wohlsein noch beisammen zu finden. Aber wo ist denn Fräulein Eva? Siehe da, Doktor Scriewer! Wie gern möchte ich Eltern und Kinder hier jetzt vollständig beisammen haben, um allen zugleich meine gehorsamsten Glückwünsche zu Füßen legen zu können.«

»Zu Füßen legen, bester Hofrat? Eckbert, finden Sie mir das rechte Wort für Ihren Herrn Gönner. Ja, Sie treten in dieser Hinsicht in ein glückliches Haus, Herr Hofrat. Martin, du solltest dich aber jetzt wirklich einmal nach unserer Kleinen umsehen und sie auf ihre Pflichten gegen unsere lieben Gäste aufmerksam machen. Mein teurer Herr Doktor Herberger, seit das Mädchen verlobt ist, habe ich alle Autorität über sie verloren: fragen Sie nur Ihren jungen Freund, unsern guten Eckbert!«

Eckbert Scriewer verbeugte sich vor seinem Herrn »Gönner«, wie man sich eben vor einem solchen in Erwartung alles menschenmöglich Freundlichen und Nutzbringenden verbeugt. Sonderbarerweise aber sah Doktor Franz Herberger über den Scheitel, die Schultern und das übrige geneigte Körperliche des hoffnungsreichen jungen Mannes hinweg und widmete sich ganz der Gesellschaft, leider freilich nicht in der Art, wie sie es wünschte und erwartete.

Die Gesellschaft verlangt immer ihr Recht. Gewöhnlich bekommt sie es auch. Hier und diesmal aber bekam sie es durchaus nicht. Wenn sie in Handschuhen, Toiletten, Mietwagen und dergleichen für den heutigen Abend über ihre Verhältnisse hinausgegangen war, so mochte sie zusehen, wie sie auf ihre Kosten kam. Horatio half ihr nicht dabei. Horatio äußerte sich über die jetzigen Verhältnisse am dänischen Hofe in keiner Weise. Und wie sich der regierende Herr in *** mit dem Herzen zu den jetzigen deutschen Zuständen nach Sechsundsechzig und dem norddeutschen Bunde stelle, erfuhr man viel besser aus den Zeitungen als von ihm, dem vormaligen Mentor seines jungen, liebenswürdigen Thronfolgers. Daß dieser Mann nicht bloß Gelehrter – Philosoph war, sondern auch Diplomat sein konnte, ging zur Evidenz daraus hervor, daß er allen mehr oder weniger verblümten Fragen und Anspielungen dadurch auf die leichteste Weise auswich, daß er ununterbrochen selber fragte und selber anspielte. Er nahm ein solches Interesse an Wittenberg, jedem Wittenberger und vor allem jeder Wittenbergerin, daß es vollkommen unmöglich war, ihm mit solcherlei Nachforschungen, wie er sich schnöde nachher seinem Mamert gegenüber, aber vor sich selber, ausdrückte: auf die Pelle zu rücken. Und am Ende war es ja auch richtig: er kam ja gegenwärtig mehr von den Pyramiden als aus Kopenhagen, brauchte gar nicht zu wissen, wie es augenblicklich in Helsingör aussah und wie sich die Königin Sophia der Niederlande zu dem Verkauf von Luxemburg gestellt habe und Mecklenburg-Strelitz zu Otto von Bismarck sich stelle und Wittenberg zu den Göttinger Sieben von Achtzehnhundertsiebenunddreißig und Professor Gervinus zu dem Jahr Achtzehnhundertsechsundsechzig. Sie hätten sonst wenig dagegen einzuwenden gehabt, die ortsangehörigen Desdemonen, ihn von seinen Reisen erzählen zu hören; aber an diesem Abend wäre ihnen ein Wort über die Komtesse Laura Warberg in Lugau doch lieber gewesen. Den Gipfel der Rücksichtslosigkeit erkletterte er, als er anstatt von Lugau von seinem Aufenthalt in Tunis zu erzählen anfing, wissenschaftlich wurde und die Universität nicht von Seiner Hoheit, dem einstigen Kommilitonen, sondern von Seiner Hoheit dem Bei grüßte, auf Karthago überging und weniger das Verhältnis von Elissa zu dem frommen Aeneas mit den Damen erörterte, als sich mit dem gräßlichen Langeweiler, dem alten Doktor Bogatzky, darüber verwickelte, ob die bei Sidi bu Said und Duar el Schat noch vorhandenen schönen Reste (nicht von der Königin Dido und dem Sohn der Venus!) noch der alten Stadt oder der römischen Neugründung Junonia zuzurechnen seien. Dazu war man denn doch wahrhaftig nicht heute abend zu Kleynkauers gekommen! Bei Mylitta (hier ja nicht Melitta!), der zweifellosesten weiblichen Gottheit der Vergangenheit, das brauchte sich doch keine in der Gegenwart gefallen zu lassen! Und doch – dies Wittenberger Gemisch von Petz, Theudobach und Seiner dänischen Hoheit Bärenführer Horatio, Franz Herberger, bekam seinen Willen und die Gesellschaft von »Wittenberg« nichts aus ihm heraus. Es blieb nichts anderes übrig, als sich mit der frohen Gewißheit zu begnügen, den interessanten Mann wieder unter sich zu haben, wozu sich jede einzelne Dame noch mit der besonderen Gewißheit trösten durfte, daß es ihr demnächst im tête-à-tête unbedingt gelingen werde, heraufzuholen, was die Gesamtheit tief auf dem Grunde dieser »melancholischen Seele« heute abend lassen mußte. Ach, wenn sie gewußt hätten, welch einen Heiterkeitskitzel dieser Ritter des Elefantenordens neben einem ausgesprochenen Gähnen zu unterdrücken sich bemühte, sie würden ihn sicherlich einen Dickhäuter genannt haben. Sie ahnten es nicht, und so meinten sie nur:

»Unser Herr Hofrat scheint doch noch recht ermüdet von seinen Wettfahrten nach dieser großen Katastrophe in seinem Dasein zu sein.«

»Fräulein Eva! Evchen, da bist – da sind Sie ja endlich!« rief aber ganz kurz darauf der interessanteste Weltmann und Gelehrte von Stadt und Universität Wittenberg sehr lebendig, und Professor Doktor Kleynkauer lächelte:

»Ja, Verehrtester, ich habe sie in ihrem Winkel aufgestöbert. Sie behauptete, ihr jetzt gewöhnliches Kopfweh zu haben, und ich behauptete, man wisse seit geraumer Zeit im Hause, daß es keinen besseren Heilkünstler für sie gebe als unsern Herrn und Freund Herberger. Hoffentlich behalte ich wieder recht, teurer Hofrat!«

»Hoffentlich,« sagte der Doktor bei sich.

»Ja, fühlen Sie dem Geschöpfchen nur den Puls, Sie großer Heilkünstler,« flötete die Frau und Mutter des Hauses. »Eckbert, so kommen Sie doch her! Sehen Sie, lieber Hofrat, da haben Sie nun unser Turteltaubenpärchen, das sich während Ihrer Abwesenheit für Zeit und Ewigkeit zusammengefunden hat.«

Der Hofrat hielt immer noch die Hand des jungen Mädchens. Jetzt faßte er fester zu und fühlte ihr wirklich nach dem Puls und versuchte ihr auch in die Augen zu sehen, aber das gelang ihm nicht.

»Sie wissen, Kindchen, daß ich Sie lieb habe und Ihnen alles Gute gönne,« sagte er.

»O!« sagte Evchen.

»O, und Sie kennen ja die Verehrung, mit welcher unser Sohn Scriewer an Ihnen hängt und wie er keinen andern Wunsch hat, als Ihre Güte gegen ihn mehr und mehr zu verdienen,« fuhr wiederum die Frau Doktorin der Gottesgelahrtheit dazwischen. »Mögen Sie ihm doch Ihr Wohlwollen auch auf seinem ferneren Lebenswege erhalten.«

»Das wird ihm immer bleiben, Gnädigste. Guten Abend, lieber Scriewer! Meine besten Komplimente, – wie hübsch Sie die Zeit meiner Abwesenheit von hier benutzt haben! Mir so in mein Eigentumsrecht an diese arme, gute Kleine zu greifen! Eve, nur den Kopf in die Höhe, – bei der Tante Euphrosyne bin ich schon gewesen; für heute abend läßt sie nur freundlich grüßen. – Armes Kind, was hat man in meiner Abwesenheit mit dir angefangen!«

Das letzte Wort sprach er natürlich wieder nur für sich, und dann nahm er das Turteltaubenpärchen in einen Winkel und saß zwischen Ihm und Ihr eine gute Stunde lang, und dann hatte er sich plötzlich der Gesellschaft im ganzen empfohlen gehabt, ohne daß einer im besonderen hätte sagen können, wie.

Als die Gesellschaft im einzelnen dann bei sich zu Hause angelangt war und ihren Gefühlen und Stimmungen keinen Zwang mehr anzutun brauchte, sagte sie es geradezu heraus, daß Horatio für heute abend den Erwartungen von Wittenberg ganz und gar nicht entsprochen habe. Die meisten erklärten ihn für einen wissenschaftlichen Bären mit höfischen Sitten und freilich dazu mit den besten Verbindungen in der allerbesten Gesellschaft. Ihre Achtung bewahrten sie ihm also doch in Hinsicht auf den letzteren Vorzug. –

 


 


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