Wilhelm Raabe
Kloster Lugau
Wilhelm Raabe

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Vierzehntes Kapitel.

Der Kaiser Napoleon, des Namens der Erste, ehe der seinen Feldzug nach Rußland antrat, hatte er doch auch erst seine Vorbereitungen zu machen. Auch er hatte zu packen, ehe er nach dem Herrscherthron von beiden Indien sich auf die Fahrt machte, und selbst ihm stellte es sich heraus, daß es damit nicht so leicht ging, wie es ihm die Phantasie, im ersten Augenblick des Entzückens sich auch noch als Großmogul zu sehen, vorgespiegelt hatte. Da waren seine eigenen Truppen und Hülfstruppen zusammenzubringen, da war für den nervus rerum gerendarum zu sorgen, da war dies und war das, was eben noch nicht da war, sondern auch erst herbeigeschafft werden mußte. Er, der Kaiser der Franzosen, König von Italien, Protektor des Rheinbundes, damals in Paris, hatte, abgesehen davon, daß er wie jeder andere gewöhnliche Mensch in das Wetter guckte, seine »Verhältnisse« vor der Reise gerade so gut zu überlegen wie Doktor Eberhard Meyer gegenwärtig in Tübingen. Aber er, der Kaiser, hatte es doch besser und leichter als der Tübinger Doktor. Er hob, ohne jemand zu fragen, in Frankreich, Italien und Deutschland seine Truppen und Hülfstruppen aus, das Geld zur Expedition brachte er im Handumdrehen zusammen, und – das letztere war es vor allem, womit es in Tübingen haperte.

Gelehrte Leute, die einiges Interesse sowohl am Schwaben- wie am Sachsenspiegel nahmen, gib es da wohl, und mit literarischem Rat waren sie auch gerade nicht knauserig: aber – der nervus rerum! Kontributionen konnte Doktor Meyer nicht ausschreiben, höchstens konnte er für seinen großen Zweck pumpen, und dieses tat er denn auch.

Aber gerade hier nahmen die Verhandlungen Zeit weg. Wer opfert nicht gern alles für einen Platz im Tempel des Nachruhms? Gewöhnlich immer die, welche am wenigsten, ja meistens gar nichts zu opfern haben.

»Dann laß sie aber auch selber zusehen, wie sie es fertig bringen und hineinkommen,« grinst die übrige Menschheit, fest die Taschen zuhaltend, jedoch in wohlwollendster Genußfähigkeit für alles, was die »Narren« in Kunst, Poesie und Wissenschaft »fertig bringen« werden.

Es wurde Februar, es wurde März, es wurde April, ja es wurde Mai, ehe der junge schwäbische Gelehrte »seine Verhältnisse so weit geordnet hatte, daß ihm nichts mehr im Wege stand, dem schwäbischen Vaterland durch eine endgültig abschließende Ausgabe seines Spiegels, gerade jetzt nach Sechsundsechzig, auch auf diesem Felde zu seinen Ehren in der Welt von neuem zu verhelfen«.

»Gott sei's getrommelt und gepfiffe! War des ein Elend!« seufzte er. »Was hat man bis hierhin mit seine Redensarte auf dem Bauche krieche müsse!«

Damit meinte er wahrscheinlich so etwas wie das eben von uns in Gänsefüßchen Eingefaßte.

Im Monat Mai hatten Staat, gelehrte Gönner und gute Freunde im Königreich Württemberg das Ihrige endlich zur Sache geleistet, Doktor Eberhard Meyer aus Tübingen befand sich auf den Rädern, um dem Wittenberger Universitätsbibliothekskataloge aus dem Schwabenspiegel so grob als möglich zu kommen und den lieben, armen, geistlichen Mädle in Lugau – Kloster Lugau – ihres Sachsenspiegels wegen so höflich und liebenswürdig als möglich. Wir aber haben ihn damit fürs erste so weit, als wir ihn brauchen, und lassen ihn also fahren und sehen uns wieder nach der Tante Euphrosyne um, die, während die Tage immer länger und immer schöner wurden, in ihrem Feldzuge so ungefähr beim neunundzwanzigsten Bulletin aus Molodetschno angelangt war. Und leider konnte sie dasselbe in der vollkommenen débâcle rundum nicht schließen: La santé de Sa Majesté n'a jamais été meilleure. –

Ja. Während dieser Monate, während das Jahr sich aus dem Strengen ins Zarte milderte, der Schnee verging, Schneeglöckchen läuteten, die Frühlingsonne lachte und die Reben weinten, geriet die Tante immer tiefer in den härtesten Lebenswinter hinein und stak, auch so um dem Mai herum, vollständig fest im Schnee und Eis der Welt nach Mercators Projektion.

Mit dem Kinde stand es, je mehr der Frühling auch nach Wittenberg kam, zusehends erbärmlicher. Und »zusehends« ist leider hier für die Tante Euphrosyne wie für uns das richtige Ausfüllwort. Es standen verschiedene Leute und hatten das Zusehen, ohne irgendwie die Macht zu haben, ein Wort in den Jammer hineinzusprechen, geschweige eine Tat zu tun und ihm ein Ende zu machen.

Es war an einem Apriltage, gegen das Ende des Monats, als die Tante Euphrosyne in ihrer »armen Kleinen« Mädchenstübchen allein saß, nachdem man ihr unten im Hause gesagt hatte: »Fräulein ist mit dem Herrn Doktor spazieren gegangen, muß aber jeden Augenblick heimkommen.«

Ohne in den Gemächern der Kusine oder in der Studierstube des Vetters Kleynkauer vorzusprechen, war die Tante eine Treppe höher gestiegen und hatte somit wieder einmal von einer Gewohnheit Gebrauch gemacht, zu der sie sich das Recht auch unter den jetzigen Umständen nicht hatte nehmen lassen.

Sonderbarerweise trieb sie augenblicklich Geographie in dem lieben Nestchen – natürlich nur aushülfsweise und in Ermangelung von anderm Zeitvertreib. Da das Kind kein Geheimnis vor ihr hatte, kannte sie alle seine kleinen Schätze und Herrlichkeiten in Schubladen, Kästchen, Näh- und Stickkörbchen, Mappen und Heften, auf Eck- und Hängebörten schon zur genüge, griff also wie mechanisch nach dem Nächstliegenden zur Unterhaltung, und das war diesmal die Welt in Landkarten – Evchens alter, abgegriffener Schulatlas.

Ein zierlich gedrucktes Heftchen: »Die Moral des Ur-Christentums im Lichte der Gegenwart von Doktor Eckbert Scriewer« hatte sie mit gekrauster Nase vorher aus dem Wege geschoben.

Nicht wenige Leute schieben das Neueste, das Beste in der Literatur aus dem Wege, wenn sie auch nur in der Phantasie auf Reisen gehen können. Es hat immer seine Reize, in einem Atlas zu blättern, nicht bloß für das sorgenfreie Gemüt, sondern auch für das gedrückte, ja, für das letztere häufig mehr als für das erstere.

Auch die bekümmerte, sorgenvolle Seele der Tante Euphrosyne machte sich sofort auf die Fahrt.

Der Zufall hatte ihr den südwestlichen Teil Deutschlands, damals noch nicht dem Deutschen Reiche angegliedert, unter die Nase geschoben: Darmhessen vom Main an, Unterfranken, Oberfranken und das übrige von Baiern oder Bayern, die Rheinpfalz; dazu das Großherzogtum Baden und das Königreich Wirtemberg, Würtemberg oder Württemberg bis an den Bodensee. Also kurz die ganze, schöne linksmainische Gegend außerhalb des norddeutschen Bundes mit allen Wegen und Stegen, Landstraßen und Eisenbahnen zum freiesten Phantasieflug hingebreitet – auf dem Papiere.

Die Tante kannte manches dort schon aus eigener Anschauung, obgleich sie seit bald einem Vierteljahrhundert nicht mehr in Wirklichkeit auf Reisen gewesen war. An Heidelberg knüpften sich einige ihrer lachendsten Erinnerungen. Da war sie als junges Mädchen mit ihrem gelehrten Papa gewesen, um das Handwerk zu begrüßen. Und wie hatten damals Meister und Gesellen den gelehrten Vater Kleynhauer und sein junges, hübsches Töchterlein begrüßt! O über den Fackelzug, für den der alte, würdige Herr sich vom Fenster des Ritters aus mit Tränen in den Augen bedankte und von dem sie, die Tante Euphrosyne, heute mit lächelnder Wehmut noch ebenso genau wie damals, vor einem Menschenalter, wußte, wem er eigentlich galt!

Schwaben – das Land der Schwaben! Sie war vor einem Menschenalter nicht dahin gekommen, aber gewissermaßen von dort heraus! Sie, die Erbin von Kepplershöhe. Und so fuhr sie mit dem Finger am Neckar aufwärts, immer tiefer hinein in das Königreich Württemberg, und seltsamerweise verfinsterten sich ihre Mienen immer mehr auf dieser Fahrt: Doktor Eckbert Scriewer, außerordentlicher Professor der Logik, auf Kepplershöhe – der Herr von Kepplershöhe! . . . Von Deutschland bis nach Tumurkie im Innersten von Afrika, von Bopfingen, woher die Gelbfüßler stammen, bis an den gelben Fluß ist gottlob nur ein Schritt, oder besser ein Griff, wenn man in einem Atlas umblättert. Mit einem fast bösen Griff hatte die Tante umgeblättert und die schwarzroten Grenzpfähle mit der großen chinesischen Mauer vertauscht.

»Nimmermehr!« ächzte sie grimmig. »Und wenn ich mich in meinen alten Tagen auf die Beine machen müßte, um mir einen mir anständigeren Erbnachfolger aus der unbekanntesten Blut- und Namensverwandtschaft, wie eine Nadel aus einem Wagen voll Heu, herauszusuchen. Mein Gott, mein Gott, und mein armes Kind, dem ich da in dem alten Garten für so manchen schönen Frühling, Sommer und Herbst sein behaglich Nestchen gesichert glaubte! Wer hilft mir in dem Elend und aus dem Elend und der Verwirrung?«

Die bloße Vorstellung, daß der Laffe, der kalte Gefühlskomödiant, ihr »armes Kind« eben vielleicht im wittenbergischen botanischen Garten spazierenführe und sie es nicht hindern könne, daß auch er, der blonde Eckbert, mit Kepplershöhe in Sicht, auch sich da oben sein Nest mache und sicherlich auch den Stadterweiterungsbauplan mit in die Rechnung ziehe, machte ihr physisch so übel, daß das ganze himmlische Reich darunter litt. Sie schlug von neuem um im Weltbilderbuch und zerknitterte das Blatt China dabei vollständig; und – und da lag sie vor ihr: die Welt in Merkators Projektion und auf dem Blatte die Blätter mit der zierlichen, spinnenfüßigen, ihr leider nur zu gut bekannten Handschrift, in der Doktor Scriewer alles, was er schriftlich mitzuteilen hatte, zu Papier brachte – auch seine Liebesbriefe!

»Was haben wir denn hier?« fragte die Tante, mit spitzen Fingern wie nach einer Spinne, Raupe oder einem Tausendfuß greifend. »Was Neues von der alten Sorte?«

Ihre Diskretion hinderte sie nicht, so indiskret als möglich zu sein. Alles, was von dem Knaben kam, hatte ja leider einen so unendlichen Wert für sie, mußte ihn haben – Gott sei's geweint und geklagt! –

Sie überflog das Blatt oder Heftchen. – Neu! – Unbekannt! – Sie las. Sie las weiter, und wie sie weiter las, wurden ihre Augen größer, greller – gräsiger. Immer mehr zitterten die Hände, die das zierliche Dokument hielten, immer unheimlichere Töne entdrangen der Tante Euphrosyne, und als sie dem Ende nahe war, las sie stehend, sitzend ging's nicht länger, und als sie zu Ende war, warf sie einen Stuhl um und stürzte fort, durch das Wort: »Du Lump!« Evchens Kanarienvogel fast zu Tode erschreckend.

Beinahe hätte sie auf dem Treppenabsatz auch noch die Base, die Frau Oberkonsistorialrätin Professorin und Doktorin der Theologie Kleynkauer, umgeworfen. Diese Dame entging dem Schicksal, durch die Tante Euphrosyne umgestülpt zu werden, für jetzt nur dadurch, daß sie sich mit einem Angstruf an die Wand drückte.

An ihr vorbei – aus dem Hause heraus! Und wenn je Doktor Franz Herberger in Wittenberg seinen Spitznamen in Wahrheit verdient hatte, so war das an diesem Tage; denn da hatte auch er eine Geistererscheinung. Er sah wohl nicht den Geist allerhöchst des Herrn Vaters seines Prinzen erscheinen, aber er sah die Tante Euphrosyne Kleynkauer bei sich eintreten, und zwar völlig als »toter Leichnam« sowie auch »ganz in Stahl«.

Zu einer der sowohl aus dem Original wie aus den Übersetzungen in Wittenberg bekannten Fragen an das Gespenst kam er aber nicht.

Das Gespenst sagte:

»Da! lesen Sie mal. Heute abend kommen Sie wohl und sagen mir Ihre Meinung darüber.«

Damit ging es wieder ab und in seine Gruft am Universitätsplatz zu Wittenberg zurück. Hamlets Vaters Geist hätte seinen Abtritt von den Wällen Helsingörs wirklich nicht graulicher nehmen können.

 


 


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