Wilhelm Raabe
Kloster Lugau
Wilhelm Raabe

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Fünftes Kapitel.

Daß die Kleine aufgeblickt habe, als Doktor Herberger mitteilte: bei der Tante Euphrosyne sei er schon gewesen, ist gesagt worden. Wie sie aufgeblickt habe, konnte nicht recht deutlich gemacht werden. Hatte der Doktor der Philosophie und Hofrat seinen Spitznamen bei Stadt und Universität, so führte die Tante Euphrosyne den ihrigen ebendaselbst, und zwar seit unbestimmten Jahren. Wer ihn aufgebracht hatte, der mochte längst vermodert sein oder noch herumlaufen, das war einerlei; aber den Namen hatte sie fest, und er ging um in der besten Gesellschaft, ohne Taufschein und Gevattern, wie ein Volkslied in der mittelmäßigen und schlechten, und später konnte er ganz gut noch zu einem apologischen Sprichwort werden und in gelehrten Sammlungen es heißen: »Ich kenne sie alle, sagt die Tante Euphrosyne.«

Die Tante Kennsiealle wohnte natürlich so, daß sie den Haupteingang der Aula über den Universitätsplatz weg im Auge behielt, in einem Hause, über dessen Tür eine Metalltafel der ehrfürchtigen Nachwelt anzeigte, daß hier in den und den Jahren des achtzehnten Jahrhunderts der und der große deutsche Denker und Dichter auch gewohnt hatte. Die Treppe, die zu ihr emporführte, war seit jener Zeit ganz gewiß nicht ausgebessert worden. Was aber war auch seit länger als einem Säkulum diese ausgetretenen Stiegenstufen auf und ab gelaufen, gesprungen, gewandelt und gekrochen! Sie wohnte im ersten Stock, der große deutsche Dichter- und Denkerkopf hatte seinerzeit vom Erkerfenster aus seine Tabakswolken und seine guten und schlechten Witze der Universität zugeblasen: heute stand sein Kopf in der Walhalla, sah aber lange nicht so fidel aus wie damals, als er noch kein fester Stern am germanischen Götterhimmel war. »Dem sieht man es auch an, daß er im Leben viel Verdruß gehabt hat,« sagt die jetzige ehrfürchtige Nachwelt, die sich zufällig in die Umgegend von Regensburg verirrt hat.

Der unsterbliche Mann ist in einem Alter gestorben, welches die Tante Euphrosyne gegenwärtig überschreitet, ohne im geringsten ans Sterben zu denken. Stellt man deren Kopf einmal in die Walhalla, so wird eine spätere Nachwelt, die sich dann zufällig in die Umgegend von Regensburg verirrt, sicherlich sagen: »Aber sieht die nett aus! Wie man der es ansieht, daß sie die Welt klug und vergnügt genommen hat!« –

Sie war keiner verunglückten Studentenliebe zulieb eine alte Jungfer geworden. Niemand war mit ihrem Bilde im Herzen, mit ihrem Namen auf den Lippen auf der Mensur geblieben. Ein famoser Besen war sie ihrer Zeit gewesen; aber die Narben, die heutige Finanz-, Konsistorial-, Landgerichtsräte aus »ihrer Zeit« in das vernünftigere Alter mit hinübergenommen hatten, hatten nicht ihren letzten Grund in der Tante Euphrosyne Zauberlächeln ihrer Zeit. Sie ging nicht im Frühling, Sommer, Herbst oder Winter an einem bestimmten Tage nach dem Kirchhofe, um einen Kranz auf einen versinkenden grünen oder beschneiten Hügel niederzulegen und silberhaarig vergangener blonder selig-unseliger Tage zu gedenken; sie hatte da ihren Vater und ihre Mutter liegen, auch ihre Großmutter, eine geborene Meyer aus Tübingen, und einen kleinen Bruder, der aber als Pennal sie noch auf den Arm genommen hatte. Die besuchte sie wohl von Zeit zu Zeit, aber durchaus nicht an bestimmten Tagen, sondern sehr unregelmäßig, wie sie ihr Weg hinführte oder sich das sonst in ihren Gefühlen und Stimmungen machte. Sonst hatte sie an jenem Orte nichts zu suchen, was schlechte Romane verschönt und das wirkliche Leben ernst, traurig, geduldig und ruhig macht.

Sie war eine alte Jungfer geworden, wie sich das so macht. Es hatte niemand herausgefunden, was für Lebensglück in jungen und alten Tagen für ihn in diesem sonnenhellen Herzen, diesem schnurrigen Zug um den Mund, dieser klugen, gleichmütigen Stirn und dieser gar nicht häßlichen, drolligen Nase lag, wenn er nur aufgepaßt hätte, wenn er nur gewollt hätte. Sie hatten es anderswo besser zu finden geglaubt, und sie hatte wenigstens die Beruhigung, nicht an den Unrechten gekommen zu sein. Sie hatte aber dazu noch einige andere Beruhigungen. Da ihr niemand ihr Herz und ihren guten Humor genommen hatte, hatte sie beides behalten, von ihren »guten, dummen jungen Tagen« an, bis in ihr »trübseliges Alter«. O, man mußte nur acht geben auf das Zwinkern und Zucken um Nase und Mund, wenn sie von dem letzteren sprach und dabei mit der Stricknadel die Augenbrauen glättete, um sofort heraus zu haben, was das Wort bedeutete.

Ganz Wittenberg wußte es, was das apologische Sprichwort: »Ich kenne sie alle, sagt die Tante Euphrosyne!« bedeutete, und der Doktor Franz Herberger wußte es auch; wußte es vielleicht mit am genauesten. Er hatte nicht nur seinen Prinzen damals in Staatswissenschaften auf der berühmten Universität »hineinriechen« lassen, er selbst hatte dort nicht bloß Philosophie »weiterstudiert«, er hatte auch die Tante Euphrosyne studiert und war dem Geschick dankbar, welches ihm diese Bekanntschaft vermittelt hatte. Hatte auch Grund zu dieser Dankbarkeit, sagte damals nicht die berühmte Universitätsstadt, sondern er selber.

Es ist keine Kleinigkeit, einen Prinzen und noch dazu einen voraussichtlichen Thronfolger auf die gelehrte Weide zu führen und später für die Resultate verantwortlich gemacht zu werden, ja, in hypochondrischen Stimmungen sich selber dafür verantwortlich zu halten. »Woran hängen oft die Geschicke der Völker?« seufzt der Geschichtsphilosoph, und der deutsche Geschichtsphilosoph fügt noch hinzu: »Besonders die von Preußen, Mecklenburg-Strelitz und Anhalt-Bernburg?!« Es war keine unverantwortliche Sache, gegen die Mitte der sechziger Jahre dieses Jahrhunderts hin einen deutschen Prinzen auf eine außerhalb der Grenzen seines angestammten Reiches liegende Universität als Mentor zu begleiten und späterhin von seinem Volke, seiner speziellen Völkerschaft und sich selber daraufhin angesehen zu werden. Franz Herberger, unter der Last seiner Verantwortlichkeiten zusammensinkend, suchte nach einem Orte, von dem aus er das Ding noch mehr von oben betrachten konnte, und er fand denselben, nicht in der Universität, sondern derselben gegenüber, auf dem Kollegienplatz, Numero zweiundzwanzig gerade der Aula gegenüber. Dort wohnte die Tante Kennsiealle, und die Tante Kennsiealle sagte:

»Ich kenne sie alle!«

Gab es wohl ein anlockenderes Wort für einen, der in seinem Leben einige kennen gelernt zu haben glaubte und sich in gehobenen Augenblicken etwas hierauf einbildete? –

Wenn was von Rechts und Wissenschafts wegen in die Matrikel der berühmten Universität eingetragen war, so war das die Tante Euphrosyne Kleynkauer. Sie hatte sie alle kennen gelernt: Studenten, Privatdozenten und Professoren, unordentliche, ordentliche und außerordentliche. Nicht in, aber noch viel besser gegenüber allen vier Fakultäten hatte sie es zum Doktor gebracht; sie hatte sie alle kennen gelernt, wie sie sich von einem Jahrgang zum andern weiterschoben und natürlich auch weitergeschoben wurden. Wahrlich nicht ohne Grund war sie sowohl hinter den Biertischen wie hinter den Teetischen auf ihre Redensart geeicht worden; auch den Doktor und Prinzenführer Franz Herberger kannte sie schon längst, bevor er ihr seine Aufwartung machte. Ein gut Dutzend seinesgleichen hatte sie bereits kennen gelernt, von ihrem Backfischalter an bis in ihr Altjungferntum hinein, und die zu ihnen gehörigen Prinzen auch.

Zwei Jahre Zuchthaus hätte sie oft verdient wegen Majestätsbeleidigung; aber –

»Das deutsche Vaterland weiß es nicht und kann es mir also auch nie vergelten, wie ich mich der armen Würmer und also auch seiner angenommen habe!« behauptete sie fest. Zu ihrer Leibredewendung mochte das ja auch wohl stimmen. – Wir können nicht sagen, daß der Hofrat Herberger in Helsingör und nachher im Pensionszustande und auf seinen Reisen viel oder nur häufig an die Tante Euphrosyne gedacht hatte: nach seiner jetzigen Rückkehr nach Wittenberg freute es ihn aber sehr, sie immer noch am alten Orte zu finden – und ganz unverändert.

»Ich bin es, Fräulein,« hatte der Mann aus der großen Welt gesagt. – »Sieh, sieh!« die Tante aus der ihrigen, und damit war das alte Verhältnis zwischen beiden wieder hergestellt gewesen. Was den Prinzen und Ophelia anbetraf, so war das so gut, als ob sie nie voneinander weit weg gewesen wären. Was darüber augenblicklich zu sagen war, war sehr bald abgetan. »Laura in Lugau geht es nach ihren Wünschen?« hatte die Tante gefragt, und Franz geantwortet: »Wir sind zufrieden und werden im Frieden gelassen.« – »Was wollt ihr fürs erste mehr, liebe Kinder?« hatte die Tante Euphrosyne diesen Teil ihrer ersten Unterhaltung geschlossen. – Das wußte man ja längst nicht nur von Hörensagen, sondern sogar aus den Zeitungen, daß diesmal in Helsingör keine allgemeine Metzelei und Verstürzung blauesten Blutes stattgefunden habe und daß, wenn die Truppen gefeuert hatten, dies wohl einen vergnüglicheren Grund gehabt habe als das Leichenbegängnis Seiner Königlichen Hoheit. Daß Seine Hoheit höchstihren lutherischen Glauben mit dem griechisch-katholischen vertauscht habe, um von einer russischen Großfürstin geheiratet werden zu können, war rasch in das Reich der Unmöglichkeiten verwiesen worden: was wirklich Wissenswertes während ihrer Trennung voneinander jedem von beiden begegnet war, wollten Franz Herberger und die Tante voneinander wissen, und davon war denn auch die Rede zwischen ihnen. –

Dem Hofrat war, seit Komtesse Laura Warberg nach Lugau ins Kloster gegangen war, auf seiner letzten Reise nicht das mindeste Merkwürdige passiert, weder im Okzident noch im Orient.

»Aber nun sagen Sie mal vor allen Dingen, was haben Sie denn hier mit unserem Kinde anfangen lassen?« rief er.

»Ja, sagen Sie mal!« rief die Tante Euphrosyne plötzlich wie außer sich. »Aber sind Sie nicht selber mit Schuld daran?« fügte sie hinzu, dem Freunde die Faust unter die Nase haltend, wenn auch nur moralisch oder symbolisch, oder wie man das sonst zu nennen pflegt.

»Ich? – . . .«

»Jawohl, Sie! Wozu hat man sich denn seine Menschenkenntnis erworben, als um sich nachher ins Unvermeidliche zu fügen? Ich kenne sie alle, meine liebe Verwandtschaft, Ihren lieben Herrn Scriewer und vor allen anderen Sie, Horatio.«

»Nun soll ich wohl gar schuld hieran sein?«

»Wer denn sonst? Wer anders als Sie hat dem Volke hier am Ort den Mund wässerig gemacht nach einem Lebensglück gleich dem Ihrigen? Aus der Tiefe auf die Höhen der Menschheit, Franz Herberger! Halb ehrlicher, wirklicher Bär, halb Tanzbär! Und ein bewunderter – also auch nachgeahmter Tanzbär, Herr Doktor Herberger! O und, Horatio, Philosophie habe ich auch studiert. Ich habe nicht umsonst dem Herrn Professor Hegel in meiner seligen Eltern Haus den Tee eingeschenkt und bin nicht ohne Nutzen für mich von dem Wirklichen Herrn Geheimen Rat von Schelling ein gutes, kluges Kind genannt worden: ich kenne euch alle! Es braucht nur ein großer Mann zu kommen, und ihr wollt ihm alle nach. Jeder auf seine Weise, und die Weise ist oft kläglich genug. Glauben Sie nicht, Horatio, daß Sie Ihrer Gelahrtheit, Ihrer philosophischen Begabtheit wegen unter uns gelten! Ihr Weg nach oben aus dem gemeinen, gewöhnlichen Honoratiorentum oder Kleinbürgertum heraus nach oben zu den Höhen der Menschheit ist's, was Ihnen Ihren Glanz hier am Orte gibt. Aber da Sie ja als Philosoph auch schon in den Büchern stehen, müssen Sie dieses wenigstens doch schon selber wissen.«

»A priori und a posteriori!« seufzte der in den Büchern stehende Weltweise.

»Sehen Sie wohl! Und da fragen Sie mich noch, weshalb die hiesige Welt an Ihrem liebenswürdigen jungen Günstling einen Narren gefressen hat und unser armes Kindchen dem Moloch des Strebertums in die Arme legt? Weil es Ihr Scriewer ist, mein lieber Herr wirklicher, nicht Hof-, sondern Edukationsrat Doktor Herberger. Weil der alberne Bengel, nein, durchaus nicht alberne, sondern ganz einfach dieser Bengel unter Ihrem Schutz und Schirm Schritt für Schritt in Ihre Fußtapfen treten wird, lieber Freund, und wenn ihm Ihr Wohlwollen bleibt, er selbstverständlich Ihr Glück nach oben hin haben wird und seiner Zeit Dammerde werden wird als Wirklicher Geheimer Rat von Scriewer Exzellenz. Täuschen Sie sich nicht in mir, Herberger; ich bin in dieser Hinsicht völlig der Überzeugung der Welt, und es ist auch meine feste Meinung, daß er das Zeug dazu hat, und zwar in jeder Beziehung, dieser blonde Eckbert. Gott vergebe es der Wittenberger Geistreichigkeit, die meinen guten seligen Freund Tieck zu diesem Sobriquet mißbraucht, wie den Shakespeare zu dem Ihrigen.«

»Ich ergebe mich Ihnen wie immer vollständig, Tante,« sagte der Philosoph im vollsten Bewußtsein davon, daß er sehr, sehr, sehr häufig Fortunens Griff zur Pfeife gedient habe, und zwar durchaus nicht widerwillig. »Ich nehme meine Schuld ganz und gar auf mich,« sagte er. »Ich habe zuerst meinen Narren an dem talentvollen Knaben gefressen; ich habe ihn mit dem guten Jungen, meiner Hoheit, in Verbindung gebracht; ich habe ihn zu meinem Amannensis gemacht, ihn in der Familie Kleynkauer und also auch bei Ihnen eingeführt. O Mamert, Mamert, Mamert!«

»Nun, um des Himmels willen, was soll denn der jetzt hierbei?«

»Der konnte den jungen Menschen zu allererst nicht ausstehen, ließ es sich, mir und ihm von Anfang der Bekanntschaft an deutlicher oder undeutlicher merken, so daß ich mich mehrfach bewogen fühlte, meine Autorität gegen sein Besserwissen zu setzen und mir seine Grobheiten, um nicht zu sagen Flegeleien, gegen mein Wunderkind, meinen jungen Freund, zu verbitten. Hatte er doch die Frechheit, mir, als ich ihm in solchem Falle mit Entlassung bedrohte, zu erwidern: ›So viel treue Bediente, als der Herr Doktor zu glauben scheinen, gibt es doch nicht in der Welt. Behalten der Herr Doktor wenigstens meine Adresse, bis Sie meiner Herren Nachfolger satt geworden sind.‹«

»Und er hat den Nachdruck auf das Wort Herren gelegt! Ich habe Ihren Freund Mamert immer gern gehabt, lieber Freund.«

»Er war jedenfalls ein treuer Diener seines Herrn. Und, nicht wahr, Tante, Herr und Diener passen ganz gut zueinander? Das wollten Sie doch sagen?«

»Im eben vorliegenden Falle nicht ganz!« sagte die Tante Euphrosyne kopfschüttelnd, und Franz Herberger bestand weiter nicht darauf, die Meinung der alten Dame, die »sie alle« kannte, ganz genau zu erfahren über sich und – seine frühere Zuneigung zu dem jungen Doktor Scriewer.

»Nun erzählen Sie mir wenigstens etwas genauer, wie der trockene Patron es möglich gemacht hat, Ihnen – Ihnen das Kind zu nehmen!« sagte er nach einer ziemlichen Weile, während welcher die Tante Euphrosyne mit dem Blick auf das Universitätsgebäude ihre Stricknadeln rührte, als ob nichts in der Welt weiter Interesse für sie habe, als wer von ihren jetzigen jungen Freunden heute das Kolleg schwänze und wer nicht. Sie kannte sie ja alle, und also grüßten auch nicht wenige zu ihrem Fenster hinauf.

Sie nickte jedesmal dem Gruße wieder; jetzt holdselig, jetzt etwas besorglich und einmal mit dem Wort: »Dem Müller seine Mutter möchte ich auch nicht sein! An einen Cherub hat natürlich auch sie geglaubt, als sie ihn seinerzeit auf dem Arm trug und das hübsche Näschen putzte, und nun sehe einer, wie sie den alten, guten Jungen ihr als Hackklotz gebrauchen. Jeses, wie haben sie den armen dicken Tropf wieder zugerichtet! Wenn sie nur noch eine gute Photographie von ihm hat aus seiner Engelzeit – wiedererkennen wird sie ihn danach nicht, wenn er wieder nach Haus kommt. Ich muß da wirklich mal ein ernstes Wort sprechen.«

Doktor Herberger wußte, daß die Tante verschiedene Gesichter schneiden konnte; jetzt plötzlich zog sie gar keins mehr, sondern wurde nur zu Stein.

»Fragen Sie sich selbst und meinetwegen ihn selber,« sagte sie. »Da kommt er gerade über den Platz, Herr Wirklicher Geheimer Hofrat. Das ist ja wohl der junge Mensch, unsere jetzige Schleife an unserer Krone, der Erbprinz von Offenbach, dem er die Kollegienmappe trägt, Wittenbergs traumverlorener blonder Eckbert, Ihr – Ihr Doktor Scriewer.«

»Sie wissen, daß Sie nicht nur töricht, sondern auch ungerecht reden, liebe Freundin,« sagte Horatio, und jetzt faßte die alte Dame mit allen ihren Gesichtern auf einmal seine beiden Hände:

»Ja, ja, ja, liebster, bester Freund, ich weiß es, ich weiß es; aber ich kann nichts dafür! Ich habe ja keinen Menschen, dem ich in diesem Falle mein Herz ausschütten könnte, als Sie! Und an wem sonst sollte ich denn meine Wut auslassen als an Ihnen?«

»Vielleicht an den Eltern der Kleinen?« stotterte Horatio.

»Sind denn die nicht zu dumm dazu? O, ich kenne sie ja alle! o, wenn ich sie nur nicht alle zu genau kennte!«

»Vielleicht an dem Kinde selbst?«

»Ist denn da nicht meinerseits geschehen, was menschenmöglich war? Aber ist sie nicht die Dümmste von allen? Und hat das arme Wurm nicht das Recht, die Dümmste zu sein, weil sie die Schwächste, die Unschuldigste ist? . . . Was habe ich auf das alberne Frauenzimmer hineingeredet! ›Kind‹ habe ich gesagt, ›so nimm doch Vernunft an! Was tust du mit einem Mann, dem Sägemehl statt des Bluts in den Adern rinnt? Bohre ihn nur an, wo du willst, und du wirst das schon erfahren; brauchst gar nicht bis nach der Hochzeit zu warten.‹ – ›O Tantchen,‹ schluchzt die Närrin, ›wie kannst du nur so sprechen? Er ist so gelehrt, sagt alle Welt, und der Herr Doktor Herberger, dein Freund, auch‹« (»ich danke!« brummte Horatio) »›und hat mich recht lieb, sagt er selbst, und wird mich immer lieber haben, denke ich, und hat so gute Verbindungen, sagen Papa und Mama, und wird seinen Weg ganz gewiß noch einmal gehen, und es ist ja nun einmal geschehen; wie es zuging, weiß ich eigentlich selber nicht recht; aber ich war doch recht glücklich, da ich Mama und Papa und ihn so glücklich durch meine Einwilligung machte; und ich will ihm auch eine gute Frau werden, und,‹ – ›Du dumme Gans mit deinem glücklich machen,‹ sagte ich. ›An mich dachtest du wohl gar nicht? Oder glaubtest du auch mich durch deine sogenannte Einwilligung glücklich zu machen? Einer Frage wäre das doch wohl wert gewesen.‹ – ›O, Tantchen,‹ ruft da das Kind händeringend, ›hab' ich ihn denn nicht gerade bei dir kennen gelernt, das heißt er mich, und in Gesellschaft deines lieben Herrn Herbergers? und wie gut und freundlich hast du dich immer mit ihm unterhalten, Tante Euphrosyne!‹ – ›Weil ich auch ihn ganz genau kennen lernen wollte, unglückliches Geschöpf! Des Spaßes wegen und wegen der gewöhnlichen Menschenüberhebung im Verkehr mit Leuten, von denen man sonst weiter nichts will. Wie teuer bezahle ich jetzt meinen Spaß, und wie reuevoll büße ich auch diesmal wieder für meine Überhebung!‹ Ach, Herberger, nehmen Sie nur auch Ihr Teil von meiner Schuld auf sich! O, hätten Sie uns doch Ihren, wie Sie sich ausdrückten, so brauchbaren, strebenden jungen Studiengenossen vom Leibe gelassen! konnte ich allein alles dafür – dafür, daß ich hier eine neue, verbesserte Auflage von Ihnen kennen zu lernen glaubte?«

»Sie haben recht; wir werden am gerechtesten und am bittersten für unsere Überhebungen gestraft,« seufzte Horatio.

»O nein, doch nicht ganz, lieber Freund. Es kommt auch vor, daß wir am ungerechtesten dafür gestraft und sehr süß dafür belohnt werden.«

»Sie haben wieder recht, Tante Euphrosyne,« murmelte Franz Herberger, plötzlich mit seinen Gedanken durchaus nicht in Wittenberg, sondern weit weg, nämlich in Kloster Lugau.

Nachher erfuhr er natürlich aber doch das Weitere und Nähere, wie sich, was Eckbert und Eva anbetraf, während seiner Abwesenheit es gemacht habe; aber da es auf dem ganz gewöhnlichen Wege zugegangen war, so wissen auch wir nichts Neues zur Sache beizubringen. Die Welt hatte der alten phantastischen Dame am Universitätsplatz das Kind unter den Händen weggezogen, und die Kleine hatte es sich gefallen lassen müssen; denn die Welt mußte so etwas doch am besten verstehen. Zumal wenn sie auch noch durch Papa und Mama vertreten wurde und Widerreden aus eigener Kraft also noch weniger als sonst galt.

Am Abend fand sich der Herr Hofrat mit seinem Elefantenorden in der Gesellschaft des Herrn Professors Kleynkauer ein, täuschte ein wenig die Erwartungen derselben, aber blieb der liebenswürdige, ruhige, ja behagliche Mann, der er immer war. Nachher ging er, nachdem er sich seiner kleinen Freundin gegenüber durch einige beruhigende Worte abgefunden hatte, nach Hause und ließ den lieben Gott für seine Welt weiter sorgen, auch in diesem doch verhältnismäßig unbedeutenden Falle. Im Grunde ist das auch stets das beste, sowohl in den unbedeutenden wie in bedeutenden Angelegenheiten der Menschen auf dieser Erde.

Übrigens hatte er auch noch nach Lugau zu schreiben.

 


 


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