Wilhelm Raabe
Kloster Lugau
Wilhelm Raabe

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Drittes Kapitel.

Als der damalige Doktor der Philosophie Franz Herberger seinen Erbprinzen »auf Universitäten« begleitete, um nach dem Willen des Schicksals am hiesigen Ort für sein späteres Leben Wurzel zu schlagen, hatte sowohl die Universität wie die Stadt den gesellschaftlichen Zuwachs sofort nach vollem Wert zu würdigen gewußt. War Seine Hoheit entzückend, so war der gelehrte Bärenführer wirklich bezaubernd liebenswürdig gewesen. Und dazu mit einem »anerkennungswerten wissenschaftlichen Fundament«! Daß sich ihm in seiner Stellung die besten Häuser erschlossen, wollte nichts sagen; daß sich aber auch die Herzen ihm öffneten, war von Bedeutung – für uns. Wenn er damals den Herrn von Nieß vielleicht ein wenig zu sehr agierte, so hat dieses heute nichts mehr auf sich: Hofrat Herberger führt jetzt seinen hinter vorgehaltener Hand geflüsterten Wittenberger Namen »Horatio« nicht ohne ernsten Grund. Franz Herberger hat lange genug in der Welt gelebt und tief genug in sie hineingesehen, um sich ruhig in dem lieben Neste Wittenberg von allen Shakespeare-Kennern und -Kennerinnen hinterm Rücken Horatio nennen zu lassen. Es knüpfte sich an das Wort doch ein Respekt, der seinen letzten Grund nicht bloß in seinen noch möglichen Verbindungen bei Hofe, seinem Rang und Titel und noch weniger seinem »doch etwas dilettantischen« Gelehrtentum hatte, sondern in einem wirklichen Wert des Mannes selbst haftete. Darüber aber hier weiter zu reden, ist unnütz: wenn sich das nicht von selber ausweist, ist der ganze Kerl doch nichts wert – weder literarisch noch gesellschaftlich.

Nun, der damalige, hier in Betracht kommende Thronerbe hatte längst seinen Frieden mit seinem Herrn Oheim gemacht – Gift war damals auch genug in die Ohren geträufelt worden, aber die fürchterlichen Konsequenzen wie in Helsingör hatte es in *** nicht gehabt. Polonius war immer noch Hausminister, und es wird sich ausweisen, daß wir ihn als solchen fürs erste noch lange nicht entbehren können. Excellenz saßen, was der ruhige Bürger »recht wohlbehalten« nennt, hinter den Tapeten und dachten noch lange nicht daran, eine Gesellschaft politischer Würmer bei sich zu Tisch zu laden und für das Menu persönlich aufzukommen. Ophelia war nicht in ein feuchtes Grab hinabgesunken, nachdem ein »falscher Ast« unter ihr gebrochen war, wie die Welt in Wittenberg meinte.

Um ihre wilden Kränze an dem gesenkten Zweige aufzuhängen, sollte sie, wie gleichfalls die Welt in Wittenberg meinte, etwas zu hoch gestiegen sein. Daß die Komtesse aber den Hof verlassen hatte und sehr wohlbehalten in Kloster Lugau saß und an ihrer Anlage zum Fettwerden (wie sich Hof und Stadt sehr geschmackvoll, liebenswürdig, geistreich und wahrheitsgetreu ausdrückten) ganz behaglich weiter bildete, ist eine Tatsache, an der wir die Leser späterhin gern noch genauer teilnehmen lassen dürfen. Vorerst genügt in dieser Hinsicht die Notiz, daß sie in fortwährender Korrespondenz mit Ho – nein, sagen wir jetzt hier nicht so, sondern sagen wir: mit dem Doktor der Philosophie Franz Herberger stand. Sie bediente sich bei ihrem Briefwechsel mit dem Säkulum und also auch dem Doktor Herberger ruhig der gewöhnlichsten Post und der üblichen Postwertzeichen. Es war durchaus leider nichts Geheimnisvolles, Verstecktes dabei.

»Es freut mich sehr, Dich demnächst wieder in Wittenberg und also auch in meiner Nähe zu wissen, lieber Freund,« hatte sie neulich noch nach Paris geschrieben; und nichts hindert uns, ihre Freude zu teilen, ja, sie im noch höheren Maße zu empfinden: wir haben den Mann ja bereits wieder in Wittenberg, und nicht nur in der Nähe, sondern vollständig auf dem Halse! Damit tritt denn aber auch die Antwort verlangende Frage an uns heran: Was konnte einem solchen Mann in und an Wittenberg eigentlich interessant sein außer dem Gefühl, sich wieder irgendwo wenigstens verhältnismäßig zu Hause zu fühlen? Gottlob ist die Beantwortung leichter, als sie scheint: Die ganze weite Welt mit allen ihren Wundern konnte ihm das nicht bieten, was ihm diese mittlere Provinzialstadt und große deutsche Universität vollauf gewährte: Befriedigung seines Kleinkramertums und seines Weltbürgersinns, seiner persönlichen Eitelkeit und seines philosophischen Strebens nach vollkommener Loslösung von den Dingen der Zeitlichkeit, kurz seiner Dummheit und Klugheit, seiner Torheit und Weisheit. Noch kürzer: Er konnte nirgends in der Welt, weder in Kopenhagen noch in Berlin, weder in London noch in Rom und Paris, so sehr als sein eigener persönlicher Narr sich über die andern erheben als wie hier. So sagte er wenigstens; wir aber wissen es besser und sagen, die Nähe von Lugau war's, die ihn nach Wittenberg zog. Und nun, da wir so weit mit ihm sind, können wir denn ihn, mit einem bequemen Hinüberlegen im Lehnstuhl und einem leichten Gähnen, die Hand nach der Goldbronzeschale auf dem Tische ihm zur Seite, das heißt also nach der während seiner Abwesenheit eingelaufenen Korrespondenz, ausstrecken lassen. Sein früherer hoher Zögling würde wahrscheinlich geraten haben: »Doktor, wollen Sie wirklich keine Waffen nehmen gegen diese See von Plagen? Ich an Ihrer Stelle würde die ganzen Chikanerien unbesehen in den Ofen stecken.« Aber wenn die hohen Herrschaften so sein dürfen, so dürfen die großen Philosophen um so weniger so sein.

Der Doktor griff nach dem nächstliegenden Blatt und wurde sofort dafür belohnt.

Eine Schusterrechnung! – Wie wohl das tat, als wirklicher Prinzenerzieher außer Dienst und Hofrat Herberger sich noch fest auf den Füßen, forsch in den Stiefeln als rüstiger Fußgänger fühlen zu dürfen!

Eine Nummer des illustrierten Witzblattes von *** unter Kreuzband: Horatio-Herberger zwischen die im Grabe Ophelias sich in den Haaren habenden Herren Hamlet und Laertes eine Gießkanne ausleerend. Unter dem drolligen Bilde die Legende: »Die Philosophie eines Bewußten«.

»Sie schlagen lustig an auf falscher Fährte. Verkehrt gespürt, ihr falschen Dänenhunde! Ein veraltetes Citat zu einer veralteten dummen Niederträchtigkeit!« sagte Franz, in vollkommener Sicherheit in Wittenberg. »Verstellte Handschrift des Absenders; aber sicherlich ein sehr guter alter Freund.«

Er schob das Blatt nicht in den Ofen und bewies dadurch wieder sehr, daß er seines hohen Scherznamens in Wahrheit nicht unwürdig sei.

In den Ofen steckte er dagegen dann mit verächtlichem, dann mit behaglichem Lächeln eine ganze Serie von Zuschriften und Zusendungen, in die uns kein Einblick verstattet worden ist. Er mußte es ja wohl wissen, warum er das tat; wir wissen es nicht und können nur aus eigener Erfahrung sagen, daß es verdrießlich ist, den Raum beengt und das freie Atemholen hindert, wenn die Makulatur des Lebens sich zu sehr um einen her anhäuft und man nichts dagegen tut.

Nun wog der behagliche Träumer eine Sendung, die gleichfalls unter Kreuzband gekommen war, in der Hand. Eine Abhandlung mit Widmung des Verfassers, Professors Doktor Nachkauer: Dilucidationes philosophicae de deo, anima humana, mundo et generalibus rerum affectionibus.

In den Ofen? Bei den unsterblichen Göttern nicht! Was, wovon der würdige Verfasser selbst keine Ahnung gehabt hatte, konnte man hier in gegebenen Stunden zwischen den Zeilen finden, wenn man selber so sehr über Gott, die menschliche Seele, die Welt usw. sich zu dilucidieren, das heißt aufzuklären gesucht hatte, wie der Doktor Franz Herberger? Welche dilucida intervalla, helle Minuten, lichte Augenblicke vielleicht demnächst im Laufe des Winters, wenn in der Wittenberger Gesellschaft ein Engel durch das Zimmer ging und der Satan die Gelegenheit benutzte, sich belehren zu lassen, und also das Gespräch auf alles dieses brachte!

Der Philosoph am Winterofen blätterte sich schon jetzt in das Buch hinein, es war ihm immer noch interessanter, als den Inhalt der Bronzeschale mit dem Satyrzug weiter zu durchstöbern, und auch uns kann das angenehm sein. Auch wir kommen dadurch über die Aufgabe hinweg, ihm dabei über die Schulter sehen zu müssen – im Interesse unserer Leser und Leserinnen. Dafür sorgte das Schicksal schon, daß den letzteren das Interessanteste für sie in dem entzückenden Gefäß nicht entging.

Nach einer Viertelstunde des Blätterns warf der weltweise Hofhauslehrer außer Dienst die lichten Augenblicke des Professors Nachkauer mit solcher Wucht physisch und psychisch verdunkelten Selbstbeherrschungsvermögens auf den Tisch, daß die Schale umfiel, über die Platte rollte und einen großen Teil ihres Inhalts nun auch über den Fußteppich verstreute.

Ein zierliches Kuvert, das ihm eben angezogenes Schicksal dicht vor den türkischen Pantoffeln niedergelegt hatte, nahm der Hofrat noch selber auf. Dann aber klingelte er und seufzte:

»Suche doch den Wust mal wieder zusammen, Mamert.«

Ein Dokument aber, welches er in der Hand hat, besieht auch der weltgleichgültigste Philosoph, ehe er es beiseite legt zu dem übrigen ihn weiter nichts Angehenden. Horatio tat so mit dem Umschlag in Querkleinfolio, zog eine goldgeränderte Doppelkarte, eine Verlobungsanzeige, hervor und hätte nun den seine Papiere zusammensuchenden treuen Diener vom Erdboden auflesen können. Im jachen Emporspringen hatte er seinen Mamert so über den Haufen gestoßen, daß der Ahnungslose sich auf dem glücklicherweise weichen Smyrnateppich dreimal überkugelte. Die selige Verkündigung aber lautete bloß:

auf der einen Seite:

»Die Verlobung unserer Tochter Eva mit dem Dr. philosophae Herrn Eckbert Scriewer beehren wir uns ergebenst anzuzeigen.

Professor der Gottesgelahrtheit,          
Ober-Konsistorialrat Dr. th. Martin Kleynkauer
und Frau Blandine geb. Husäus.«         

auf der andern Seite:

»Meine Verlobung mit Fräulein Eva Kleynkauer, Tochter des Herrn Professors der Gottesgelahrtheit Ober-Konsistorialrat Dr. th. Martin Kleynkauer und Frau Gemahlin Blandine geb. Husäus beehre ich mich ergebenst anzuzeigen.

Im September 1869.

Dr. phil. Eckbert Scriewer.«

»Auch die noch! Mein Maienglöckchen!« stammelte der Doktor der Philosophie Herberger poetisch. »Mein Maienglöckchen auch nach Lugau?« stammelte er nicht nur poetisch, sondern auch verblüfft-wütend.

»Um so poetischer, weil verblüfft; um so verblüffter, weil poetisch-wütend; also, da Kürze des Witzes Seele ist – außer sich vor erstauntem Verdruß oder verdrießlichem Erstaunen,« würde Polonius (an dieser Stelle nicht Seine Exzellenz, der Herr Minister des Hauses und Vormund der Klosterschwester Laura Warberg im Kloster Lugau) gesagt haben.

»Fliegenpapier und kein Ende!« ächzte der Hofrat. »Ich habe dir doch nicht weh getan, Mamert? Dieser Mensch – unser Herr Doktor Scriewer hat sich nämlich mit unserer Eve – ist mit Fräulein Eve Kleynkauer verlobt worden.«

»Der Herr Doktor haben mir durchaus nicht weh getan, und der junge Herr sind mir schon in der Gasse begegnet um dem Fräulein am Arm und haben es nur noch nicht gewagt –«

»Mir noch einmal mit einem Katzenbuckel auf die Bude zu rücken? Mein blonder Eckbert! Der blondeste aller Wittenberger Streber! Aber das hat nur die alte Kleynkauer angerichtet. Welch ein Verdienst sich derjenige erwürbe, der dem Weib die Hosen aus, und sie ihrem Mann anzöge!«

»Der Herr Professor sind mir auch hinter der Universitätskirch begegnet und lassen den Herrn Hofrat höflichst bitten, der Frau Gemahlin und ihm doch ja die Ehre Ihrer Gegenwart morgen abend bei der gewohnten musikalischen und wissenschaftlichen Abendunterhaltung zu schenken.«

Für einen Mann, der nie Fortunens Griff als Pfeife diente und dem es einerlei war, ob er vom Geschick einen Kuß oder einen Rippenstoß bekam, zeigte Franz Herberger eine sehr unstoische Aufregung. Weshalb – wird sich ja nach und nach zeigen.

»Lebt denn die Tante Euphrosyne noch, Mamert?« fragte er nach einer Weile.

»Ich glaube, ich habe Fräulein auf dem Universitätsplatze nach gewohnter Weise an ihrem Fensterplatze gesehen.«

»Besitze ich noch einen Frack?«

Auf diese Frage antwortete Mamert nur durch verwundert, entrüstetes Aufrücken seines ganzen oberen Menschen.

»Wir waren doch neulich noch in den Tülljerien!«

»Dann klopfe ihn aus, und – hörst du – wenn du ihn finden kannst, lege auch meinen Elefantenorden zurecht. Vor allen Dingen werde ich der Tante Euphrosyne morgen früh einen Besuch machen.«

»Im Frack und mit dem Elefantenorden?«

»Dummkopf!« sagte Franz Herberger.

 


 


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