Wilhelm Raabe
Kloster Lugau
Wilhelm Raabe

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Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Schrecklich aber wahr – in dem eben mitgeteilten Brief kam jedes Wort aus dem Herzen und entsprach auch durchaus, wie die Schreiberin die Welt sah, der Wahrheit. Daß wir in einer Welt leben, die jeder auf eine andere Weise sieht, dafür konnte sie, die Briefstellerin, nichts. –

Es herrschte augenblicklich ein vergnügtes Leben in Kloster Lugau, und daß Schwester Seraphine von Kattelen sich einsam und verlassen in ihm fühlte, das war vollkommen begründet. Schwester Augustine verbrauchte darin und zu den allgemeinen Festtagskuchen zu viel Zucker, und die Frau Domina konnte häufig zu stillen, aber bitteren Betrachtungen Anlaß geben. Mit einem: »Liebe Kattelen, Sie müssen das nicht so scharf ansehen!« war doch manchmal manches nicht abgetan. Ein wenig ermahnendes Zureden, Abwehren, kurz eine etwas schärfere Zucht wäre in Küche, Kirche, Keller, im Salon und in den Privatgemächern der Nonnen von Lugau dann und wann wohl an Ort und Stelle gewesen. Wenn der gütige Herrgott der freilich etwas noch nach irdischem Behagen trachtenden Lebensführung seiner frommen Lugauer Damen mit eigenem Behagen zuzusehen schien, durchaus nicht Pech und Schwefel auf sie regnen ließ, ja ihnen zu ihrer diesjährigen Sommerfreude sogar das allerschönste Wetter schickte und ihnen nur selten einen großen Tee oder Kaffee im Klostergarten oder einen Ausflug zu Berg und Wald durch schlechtes Wetter verdarb: so lag das eben in seiner Allgüte. Anspruch hatte Lugau, der Weltanschauung der Schwester Seraphine gemäß, nicht darauf.

Und nun zu der Hauptsache des schwarzgalligen Tintenergusses! Wenn die Briefschreiberin inbetreff des Allgemeinen bei der Dinge Wahrheit geblieben war, so war es geradezu entsetzenerregend, wie gut, wie treu, richtig sie gesehen, gefühlt, empfunden hatte in allem, was sich auf das Besondere bezog.

Ja! Die Tante Euphrosyne war eine zwar halbnärrische, doch sehr energische, schlaue Heimtückerin, und der Zufall – das Schicksal hatte ihr den schwäbischen Vetter nicht zum zeitlichen Besten der Familien Scriewer und Kleynkauer geschickt, gerade in diesem Sommer seinen dummen Kodex im Kloster Lugau zu suchen.

Ja! Dieser fabelhafte Verwandte aus dem Königreich Württemberg war zu einer unheimlich drohenden Gewißheit geworden. Dieser Herr Doktor Eberhard Meyer stellte augenblicklich nicht bloß Lugau auf den Kopf auf seiner Suche nach dem Sachsenspiegel, sondern er war imstande, sich auch auf Kepplershöhe festzusetzen und von dort aus sich recht unangenehm zu machen und Verhältnisse in Verwirrung zu bringen und tröstliche Aussichten zu verbauen, die nach den »Gefühlen« der Frau Blandine Kleynkauer und der Frau Malwine Scriewer sowohl nach menschlichem wie nach göttlichem Recht bis jetzt unanrührbar sicher gestanden hatten.

Ja! Leider ja! Mamsell Euphrosyne Kleynkauer, die Tante Kennsiealle, war fähig – ihr Testament zu ändern, aus reinem Eigensinn, purer Bosheit und auf die Gefahr hin, das künftige Lebensbehagen des armen, blassen, schon so zarten Gänschens, der kleinen Eve Kleynkauer, und ihres trefflichen, zu so schönen Hoffnungen berechtigenden Verlobten recht sehr zu stören. Daß die Lugauer Luft dem lieben, willenlosen Kinde augenblicklich wirklich recht gut zu bekommen schien, änderte somit gar nichts an den trübsten Befürchtungen für die Zukunft.

Wahr, wahr, wahr! Alles wahr in dem Briefe der Schwester Seraphine von Kattelen, und der einzige Mangel daran, daß nicht mit einem einzigen Wort die Rede in ihm war von Gräfin Laura Warberg. Die »ewig lächelnde, maulfaule, boshafte Trine« hätte unbedingt auch noch hineingehört in ihrem Freundschaftsverhältnis zu den zwei Kleynkauerschen Hexen, der jungen Kleynkauer und dem fremden Lümmel, dem Doktor Meyer aus dem Schwabenlande. Vorsicht nach oben hin ziert aber nicht bloß den strebenden Mann im Weltgetümmel, sondern auch die der Welt entfremdete Lugauer Klosternonne in ihrer stillen Klause. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

»He, Doktor, wo stecken Sie denn?« rief Gräfin Laura tief aus dem Busch heraus. »Ich für mein Teil stecke hier gründlich fest und komme ohne Hülfe nie wieder ans Licht und noch weniger nach oben! Nennt das Menschenkind dies einen auch Weibsleuten zugänglichen Pfad! O, hätte ich mich doch mehr auf Förster Gipfeldürres Grinsen, als auf seine Zustimmung verlassen! Doktor Meyer, Sie können dies nicht verantworten! . . . Evchen, Evchen, wenn dies Deine Tante wüßte?«

»Aber meine Damen,« klang es von der Höhe aus dem Buschwald herunter, »i bitt Sie, nur noch fünf Minute mit zugeklappte Sonneschirm' und die Krinoline a bisle z'samme g'nomme, und – venit ad occasus mundique extrema Sesostris.«

»Jetzt spricht das Ungeheuer gar noch griechisch, Eve; und natürlich nur, um sich durch einen Gemeinplatz aus der Verlegenheit zu helfen. Kennen wir, bester Herr, aus eigener anderer Erfahrung! – Kommen Sie lieber zurück und helfen mir in der Bedrängnis. Das Wieselchen hier neben mir windet sich schon eher allein durch!«

»Einen Sonnenuntergang werde wir habe, wie ihn der selige König Sesostris nimmer erlebt hat, und der Tante Augustine Kaffeeküche rieche ich auch schon von der Welt Ende, das heißt der Schutzhütte her,« klang es zurück, und der Gerufene stieg wirklich zu galanter Hülfeleistung wieder hernieder und sagte: »Da, Gnädigste, greife Sie mutig jetzt noch mal in den Griff meines Hakenstocks; i zieh, Bäsle Evele schiebt, und hernach bei dene Kuchenkörb besing i Ihne unsere Heldentat besser als der Marcus Annäus Lucanus die Pharsalische Schlacht.«

Ehe Gräfin Laura sich auf den ritterlich hergehaltenen Stockgriff ihres Führers einließ, tat sie die im Grunde nicht unberechtigte Frage:

»Also aus dem alter Tröster sind alle die gräßlichen Zitate, mit denen Sie uns Ihren so äußerst bequemen Gemsenstieg zu allem übrigen verschönert haben? Haben wir etwa den auch da unten in unserer famosen Nonnenbibliothek?«

»Freilich habe Sie ihn! Auch durch eine unversorgte Wittenberger Professortochter eingeschleppt. Alles habe Sie, was net dahin gehört und jedenfalls anderswo besser aufgehobe wär. Leydener Ausgabe von Oudendorp! und i hab den halben Nachmittag mit ihm im Klostergarten auf der Bank liege müsse, weil die verehrte Schwesterschaft in Christo mit ihrer Toilette net zu Ende komme konnte. Nu, zu hübsch konnte sich g'wiß keine für den lieben Gastfreund machen.«

»Was sagst du dazu, Evchen?« lachte die Gräfin. »Ist dir in Wittenberg in deinen Lebenskreisen je eine solche Unverschämtheit vorgekommen? Mir in den meinigen wohl – aber jedenfalls doch in etwas anderer Form. Na, dann spannen Sie sich wieder vor, Sie Schwabenspiegler, und du faß meinen Rock, Kind; aber reiß mir die Krausen nicht aus, sonst schelten sämtliche ehrwürdige Tanten da oben auf dem Bergesgipfel. So! uf! Langsam, Doktor! Bedenken Sie, daß Sie heute nicht mit Ihren Sechsen am Spieß aufs Abenteuer ausziehen! . . . Gott sei Lob und Preis, da sehe auch ich noch mal Licht zwischen den Bäumen und rieche der Tante Augustine Kaffeeküche!« –

Daß die »zueinander passenden Elemente« des Klosters Lugau sich wieder einmal zu einem Ausflug auf einen der ihrer Stiftung zunächstliegenden schönen Berge zusammengetan hatten, werden wir keinem mehr zu sagen brauchen. Von den hohen Würdenträgerinnen der geistlichen Gemeinschaft war diesmal keine bei diesem unschuldigen Sommervergnügen zugegen. Der Frau Oberin war's zu heiß gewesen, und die Frau Priorin fand überhaupt nie ihre Rechnung bei derartigen Torheiten, wo alles zuletzt doch nur auf Ärger, Verdruß, zerrissene Kleider, zerschlagene Gliedmaßen und gewöhnlich auch zum Beschluß auf einfallende Gewitterangst, richtigen Landregen, aufgespannte Regenschirme und durchgeweichtes Schuhwerk hinauslief. Vermißt wurde die Gute kaum.

Die älteren Damen hatten den hübschen Aussichtspunkt und die Schutzhütte natürlich zu Wagen erreicht; die Jugend bis an den Fuß des Berges auch, war dann aber, wie Gräfin Laura sich ausdrückte, wieder mal so dumm gewesen, das Gute für das Bessere hinzugeben. Wir haben die jungen Leute auf des schwäbischen Vetters lieblichem, angenehmem und äußerst bequemem Richtewege angetroffen.

»Wenn Sie wieder einmal des Reiches Sturmfahne bei solchem Pläsiervergnügen voranzutragen wünschen, so suchen Sie sich doch lieber ein ander Heergeleit dazu aus, mein Herr. Ich bin eigentlich a bisle zu schwer dazu!« seufzte – aber im vollsten Sommerbehagen – Laura, unter dem allerletzten Aufstieg noch einmal auf einen bemoosten Stein sinkend und sich so viel Luft als möglich mit dem Taschentuch zufächelnd. »Und wenn das deine Tante Euphrosyne geahnt hätte, so weiß ich doch nicht, ob sie dir, Kleine, die Erlaubnis gegeben haben würde, dich hier so an meine Courschleppe zu hängen! Laß dich doch mal besehen, wie siehst du denn eigentlich aus auf die Strapazen?«

Ei, es war ein Wunder, wie gut das Kind aussah, wie gut ihm die kurzen Wochen seines Aufenthalts in der Lugauer Luft und dem Lugauer Leben bekommen waren! Ganz Wittenberg hätte man dreist herzurufen können und hätte nichts von ihm gehört als: »Aber nein, Fräulein, welch eine Veränderung? und in der kurzen Zeit!«

»Eine Bitte habe ich, Herr Doktor Meyer,« sagte Gräfin Laura«

»Die wäre?« rief der schwäbische Gelehrte, von seinem Steinblock am letzten Ruhepunkte unter der Bergeskuppe mit der schönen Aussicht in dem hellsten Eifer aufspringend.

»Bitte, bleiben Sie sitzen,« lachte Wittenbergs »Ophelia«, mit beiden Händen abwinkend. »Es würde mir nur sehr angenehm sein, wenn Sie es uns vorher wissen lassen wollten, wen von uns beiden, das Evchen oder mich, Sie zuerst zu verschlingen wünschen.«

Den Mund öffnete der Vetter aus Schwaben weit genug hierauf, aber nachher doch nur zu dem abgebrochenen Ausruf:

»Ja, aber um Gottes Wille –«

»Nämlich in unserm ganzen Leben sind wir nicht so unheimlich angestiert worden wie jetzt eben von Ihnen. Bitte, bitte, sagen Sie es uns, ehe Sie zuschnappen, daß wir wenigstens unsere Sonnenschirme in der letzten Not aufspannen können.«

»Das Märchen! Das Märchen!« rief der Schwab im reinsten Hochdeutsch, seinerseits beide Hände zum lachenden blauen Himmel erhebend. »Fräulein – Gnädigste, der Traum! der Traum! Haben Sie Erbarmen, haben Sie Mitleid mit meiner äußerlichen Hülle! Weiß denn meine unsterbliche Seele selber von der noch Bescheid, und wie sie sich in der Erdenwelt aufführt? Hab' ich die Damen mal wieder angestiert? . . . Komtesse Warberg, wenn mir mein preußisches Bäsle nicht zu Hülfe kommt, so hab' ich keine Waffe mehr gegen Sie; – der Traumwandler ergibt sich auf Gnade und Ungnade in alles, was Sie über ihn verhängen. Gestern noch Winter, Tübingen, Wittenberg, Eike von Repkow; heute die Tante Euphrosyne, Kloster Lugau, Gräfin Laura Warberg, Förster Gipfeldürre – Kepplershöhe, – die Höhe da über uns und der Sonnenuntergang nachher vor uns: wer soll da nicht Augen zum Verschlingen machen? Wer soll nicht große Augen machen, Bäsle Evele, wenn er Sie damit ansehen darf?«

»Liebe Eve, ich glaube, wir haben uns jetzt wohl so weit erholt, daß wir weiter klettern können. Ich meine, allmählich müssen die guten Tanten da oben mit einiger Unruhe nach dir ausschauen.«

Es war etwas wie eine leise, trübe Warnung in dem Ton, mit welchem »Ophelia« die letzten Worte sagte; aber der Himmel blieb lichtblau und wolkenlos, das junge Waldgrün leuchtend wie vorher. –

»Sie lesen auch den Shakespeare, Herr Doktor?« fragte sonderbarerweise die Gräfin, zum Weiterklimmen sich von ihrem Sitze erhebend. Und verwundert sah der schwäbische Gelehrte sie an.

»Was soll nun das wieder. Gnädigste? Jawohl, ein wenig – von Zeit zu Zeit – in verlorenen Augenblicken. Aber mit gütigster Erlaubnis, weshalb fragen Sie danach gerade jetzt?«

»Nun, haben Sie ihn denn nicht eben zitiert? My bosom's lord sits lighty in his throne – leicht auf dem Thron sitzt meiner Brust Gebieter! Hat Sie Kloster Lugau wirklich so selbst- und weltvergessen gemacht, daß Sie gar nicht mehr wissen, was für Augen Sie machen und was für Reden Sie führen?«

Herr Eberhard faßte sich mit beiden Händen an den Kopf und rief lachend:

»Ja, ja, es ist so! Aber wie kann ein Mensch, der so wie ich im Glückstraum schwimmt, alle seine fünf Sinne und seinen kompletten Intellekt gesund beieinander behalten? Da schwätzt man denn so vor sich hin und weiß selber net was.«

»Komm, mein Herz,« seufzte Gräfin Warberg, »jetzt nimm du meinen Arm und laß dich von mir führen, laß auch mal deinen Puls fühlen. Nun, das geht ja! . . . Gottlob, da sind wir auf der Höhe! – Das war ein Ritt, Evchen, für den ich die Verantwortung nicht wieder mit übernehme. Da wedelt die Tante Euphrosyne uns ihre Sorgen, aber auch ihr Vergnügen schon mit dem Taschentuche zu. Dem Himmel sei Dank, diesen angenehmen Nachmittag scheint uns hier in Mantua, das heißt da oben in der Schutzhütte, noch kein Bote, kein Signor Balthasar durch die neuesten Nachrichten aus Verona verdorben zu haben!«

Dem letzten Stoßseufzer hatte das kluge, behagliche, gute Mädchen keine lauten Worte gegeben. Dazu verdarb es sich von Natur aus und durch Erfahrung zu ungern selber irgend eine helle, ruhige, freundliche Stunde im wirren, unruhvollen Erdenwesen.

 


 


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