Wilhelm Raabe
Kloster Lugau
Wilhelm Raabe

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Neunzehntes Kapitel.

Ja, mit der Vetternschaft machte sich das auf die natürlichste, einfachste Weise. Wir hockten wieder in der Bücherei auf der Suche nach dem lugauschen Sachsenspiegel, wir drei: der Schwab, die Gräfin Laura und ich. Rund um uns bergehoch das gelahrte Kraut und Rüben unseres hiesigen Jahrtausends, in Folio, in Quart und Duodez, wie du willst, in Rollen, geschrieben, gedruckt und gemalt. Daß die Regierung da nicht längst einmal ein Einsehen getan hatte, war freilich eine Merkwürdigkeit. Selbst einem Laien mußte es klar werden, daß jetzt nach 66, von Berlin aus wohl eine Kommission mit voller Verfügung über die Nonnen von Lugau eintreffen und besser als wir nach der Ordnung sehen und den Schlüssel, das Reinmachen, die Motten und die Spinnen in ihre uniformierte Verwaltung nehmen könne. Die bösen Ahnungen unserer Frau Domina konnten da recht gut zur Wahrheit werden, und zwar nicht zu unserm fernern stillen Klosterfrieden und Behagen. – ›Schauen Sie, meine Damen,‹ sagt plötzlich unser Schwab, auf einen würdigen Perückenkopf aus dem Anfang des vorigen Säkulums in einem Quartanten deutend, ›da haben wir wieder einen aus der großen Familie der Meyer, in dem ich in Ihrem edlen Wittenberg die Verwandtschaft hätte begrüßen dürfen, wenn er heute dort noch das Katheder paukte. Da hat ein schwäbisch Magistergewächs vor anderthalbhundert Jahren eine Quecke von Maulbronn nach dem Norden zu getrieben, Knollen angesetzt und einen neuen Busch aufgetrieben, der sich wie Ihres verehrten Freiherrn von Münchhausen türkische Bohne bis zum Monde aufrankte und von dort bei zu- oder abnehmendem vom untersten Horn in die Wissenschaft des gegenwärtigen Tages herniederbammelt.‹ – ›Was Sie sagen!‹ rufe ich, mit beiden Händen nach dem Tröster greifend. ›Wie kommt denn dies Buch aus der Kleynkauerschen Bibliothek in die Luganer? Da sehen Sie das Bücherzeichen, Doktor, Sie können das hundertfach in den Schränken meiner Base Euphrosyne antreffen. Und nun sagen Sie mal, süddeutsches Menschenkind, da haben Sie bei Ihrer neulichen Durchreise durch Wittenberg nicht den kleinsten Versuch gemacht, eine noch möglicherweise dort vorhandene Verwandtschaft wieder aufzufinden?‹ – ›Hm, gnädiges Fräulein, zwischen dem alten Herrn hier auf dem Titelblatt und den heutigen im Schwabenlande verbliebenen schönen Resten der Familie Meyer liegt nicht nur der Siebenjährige Krieg, sondern auch die französische Revolution, der Kaiser Napoleon, der Überfall bei Kitzen, die Schlacht bei Leipzig, und neulich haben sich auch noch die Schlachten bei Königgrätz und Tauberbischofsheim dazwischengelegt. Dergleichen verwischt die zärtlichsten früheren Bezüge und Verbindungen im unruhigen Erdenleben. Dazu suchte ich auch wirklich für diesmal nichts weiter bei den Borussen und Neoborussen als – was wir drei hier eben auch mit allem Eifer suchen: meinen, meinen, meinen Sachsenspiegel! Zeigen Sie doch noch mal die Schwarte her! Ein feines Exlibris! Was ist das für ein Turmgebäude zwischen den Posaunenengeln und Rokokoschnörkeln?‹ – ›Kepplershöhe ist das, Schwabenmensch!‹ schreie ich. ›Kepplershöhe, wie sie Ihr Ahnherr vor anderthalbhundert Jahren aufgerichtet hat! Und auf Kepplershöhe sitzt meine Base und Ihre Tante Euphrosyne Kleynkauer in völliger Gesundheit, den besten Lebensjahren und verteidigt den Familienturm gegen den Stadterweiterungsplan und hält auch für Sie undankbaren Spiegelschwaben die alten glorreichen Familienerinnerungen und Andenken fest und beieinander!‹ – Euphrosyne, jetzt hättest von Rechts wegen du und nicht wir zwei andern die Augen des jungen Mannes sehen müssen. – ›Nun vielleicht läßt sich das in Wittenberg an verwandtschaftlichem Gefühlsaustausch Verabsäumte hier im Kloster Lugau nachholen,‹ mischt sich jetzt Gräfin Laura nach ihrer guten Weise behaglich in die Auseinandersetzung. ›Zu Pfingsten kommt sie ja nach Lugau, die Tante Euphrosyne. Franz – der Herr Doktor Herberger hat es mir auch geschrieben!‹ – Und dann fügt sie lachend was Italienisches an, was auf Deutsch heißen sollte: an diesem Tage lasen wir nicht weiter; – und da hatte sie recht: für diesen Tag war's vorbei mit dem Suchen nach dem Sachsenspiegel bei den Nonnen von Lugau.«

»Welch ein merkwürdiges Zusammentreffen!« murmelte Euphrosyne Kleynkauer.

»Nicht wahr? Ja, es passiert dann und wann doch noch etwas auf Erden, was einen gewissermaßen in Verwunderung setzen kann. Das ganze Kloster kam in Aufregung über den Fall. Die weiteren Verhandlungen darüber verlegten wir natürlich ins Freie, in den Garten, unter die grünen Bäume. Nun, was deinen Herrn Vetter aus Schwaben und mich anbetrifft, so wissen wir jetzt so ziemlich um einander Bescheid. Das Weitere ist nun deine Sache, Synchen. Meiner Meinung nach ist dieser Schwabenspiegel oder Spiegelschwab ein Menschenkind, das man Herr Vetter, Herr Bruder oder Herr Neffe nennen kann, ohne sich vor der Welt mit ihm zu blamieren. Bis auf Fräulein von Kattelen sind wir hier auch sämtlich dahin über ihn einig, daß es, wenn kein Prachtmensch, so doch ein braver Gesell ist und daß wir seit Jahren keine vergnügtere Unterbrechung unserer, offen gesagt, oft etwas langweiligen Klosterstille gehabt haben, als wie jetzt durch ihn. Und auch er scheint mit uns zufrieden zu sein, und ehrlich ist er auch: ›Des hätt i mir nimmer gedacht,‹ hat er in seinem allerliebsten Dialekt gesagt, ›daß man das Fest der Freude in einem neupreußischen Nonnenkloster angenehmer begehen könne als wie daheim, wo es wahrlich keinen Anstand hat, daß sie gerade zu Pfingsten auf den sonnigsten Bergeshöhen, den romantischsten Burgtrümmern, in den elegischsten Klosterruinen einem die Bowle mit Politikgift, Pfaffengalle, allgemeiner Dummheit und persönlichster Unverschämtheit vergifte.‹ – Allmächtiger, da schlägt es ja schon Mitternacht, und morgen müssen wir beizeiten in die Kirche, wie du weißt, Kleynkauern. Komm zu Bett, alte, liebe Seele, und denke, daß man gottlob im schlimmen Leben auch die Zeit zu allem Guten immer noch vor sich haben kann!«

Ehe die beiden »Alten« selber zu Bette gingen, standen sie in Strümpfen noch eine ziemliche Weile vor dem Bettchen des »Kindes«. Das schlief einen ruhigen Kinderschlaf und hatte von ihrer Unterhaltung in seine süße Bewußtlosigkeit hinein nicht das mindeste vernommen.

 


 


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