Wilhelm Raabe
Kloster Lugau
Wilhelm Raabe

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Dreizehntes Kapitel.

Ja, das nächste Frühjahr! Der neue Frühling!

Der Mensch bleibt doch immer derselbe. Auch in den Zuständen, in denen er nur vom Zufall noch Hülfe, Rettung, Genesung und sonst alles Beste erwartet, läßt er doch im tiefsten Innern das Vertrauen auf das ewig Bleibende, immer Wiederkommende, keinem Zufall Unterworfene nicht los. Im Sommer wird er immer auf den Winter rechnen und im Winter auf den Sommer, und aller Trost, den ihm gute Freunde spenden, wird nie auf den Deus ex machina hinweisen, sondern stets auf die Regel, das ganz Selbstverständliche, das Dauernde im Wechsel.

Und nun, da wir dieses sehr schön auseinandergesetzt haben, dürfen wir ja auch wohl ruhigen Gewissens und, wie als wenn wir gar nichts gesagt hätten, dem Zufall, dem Gott aus der Maschine, sein volles Recht geben und den Leuten die unzweifelhafteste Berechtigung, die Hände zusammenzuschlagen und zu rufen:

»Nein, wie das doch so oft ganz anders kommt, als man es sich eingerichtet und erwartet hatte!« –

Nämlich, während man in »Wittenberg« noch im dicksten Winter schmachtete, die Tante Euphrosyne dem Elend kein Ende absah und »Horatio« ihr mit seinen Betrachtungen und Zusprüchen mehr und mehr lächerlich vorkam, und zwar, je weniger sie zum Lachen aufgelegt war, saß in Tübingen im Schwabenlande ein junger Mensch, der keine Ahnung davon hatte, daß er je von irgend welchem Werte hier sei und gar nicht im Zusammenhange der Dinge zu entbehren sei, im grünsten, blühendsten, sonnigsten Frühling, und zehntausend Lerchen tirilierten in seiner Seele, wenn er zufällig mal von seinen Büchern und Handschriften aufsah und in das Schneegestöber draußen hineinlachte.

Denn was das Äußerliche anbetraf, so war's in Tübingen noch ebensosehr Winter wie in Wittenberg, ja fast noch mehr. Was die Rauhe Alb an Wetter und Wind in das Neckartal hinübersandte, machte ihrem Namen alle Ehre. Ihr waghalsigster Sänger und Dichter hätte es jetzt noch nicht gewagt, ihr Wehen lind und ihren Atem weich zu nennen. Sie heizten in Stadt und Universität noch ebenso energisch wie im höheren Norden, jenseit der Mainlinie. Der Neckar war ausgefroren, und Uhlands Grab lag ebenso tief im Schnee wie Bürgers und Höltys. In dieser Hinsicht war im Süden keine Eigentümlichkeit bemerkbar, die dazu hätte berechtigen können, eben erwähnte Mainlinie politisch aufrecht zu erhalten. –

Was der Historisch-Gelehrte im Januar immer sagt, wenn ihn friert, das sagte auch unser Jüngling im deutschen Süden, nach dem Blick aus dem Fenster sich am Ofen behaglich die Hände reibend:

»Des kann e Chronikenwinter gebe!«

Dann, die kurze, fröhliche Joppe um seine mannhaften Glieder fester zusammenziehend, ging er zu seinen Büchern und Manuskripten zurück, und wir erlauben uns, ihm über die Schulter einen Blick auf das zu werfen, was er da augenblicklich treibt, und da ist es ein wahres Glück, daß die Leserin nicht mit uns zuguckt. Erstens würde sie nichts von der ganzen Geschichte auf dem Tische verstehen, und zweitens würde sie doch einer gewissen Enttäuschung anheimfallen: dieser junge Mann beschäftigte sich, nach diesen vorliegenden Skripturen, nicht damit, verklungenen Sang wieder aufzuwecken und die Ritterharfe vom Staufen wenigstens so gut als möglich bürgerlich weiter zu schlagen.

Schwabenspiegel – Corpus juris – fränkische Kapitularien – Kaiserrecht – Laßberg, Wackernagel, Gengler – fränkische und alemannische Volksrechte – Sachsenspiegel – Land- und Lehnrecht – Homeyers kritische Ausgabe – Eike von Repkow – Eike von Repkow – Eike von Repkow, und so weiter, Blatt ein, Blatt aus, mit frischester Tinte im Text der Handschrift des neunzehnten Jahrhunderts, unterm Text und am Rande – dem findigsten Setzer nicht lesbar, wenn keine vernünftige Abschrift genommen wurde. Diejenige junge Leserin, der es hier nach dem ersten Blick nicht so bunt, konfus und wirr vor den Augen wurde, wie es dem jungen Gelehrten bei seinem Werk nach dem Hunderttausendsten geworden zu sein schien, die hatte was zuzusetzen auf diesem Felde, konnte selber eine Abhandlung über Sachsen- und Schwabenrecht schreiben und durfte, wenn sie sich nachher nach ihrem eigenen Recht im Spiegel besah, einerlei ob als Schwäbin oder als Sächsin, sich ungemein interessant und reif für den Züricher Doktor vorkommen, so hübsch sie sonst auch sein mochte.

Es war ein germanistisches Meisterwerk, das da vorlag, oder sollte doch eines werden. Und daß der jüngste Tübinger Doktor, der Doktor Herr Eberhard Meyer in Tübingen mit dem ausgefrorenen Neckar unter seinem Fenster, mit seinem ganzen Hirn und Herzen augenblicklich sich an der ebenso eisstarrenden Elbe, Saale oder Leine befand und doch so frühlingswarm und in seiner Bude donnernd auf- und abschritt, das hatte ebenfalls seinen Grund. Bis auf Eine Lesart war der letzte Herausgeber des Schwabenspiegels ad absurdum geführt – Herr Julian Schmidt wußte nicht mehr von dem Dinge als dieser arme Sünder. Diese Lücke ausgefüllt, und die Sache war fertig, die Handschrift abgeschlossen und der Ehrenplatz auf diesem Felde der historisch-juristischen Wissenschaft glorreich errungen. Und Herr Eberhard Meyer hatte es herausgebracht, wo der Kodex des Sachsenspiegels lag, der für alle kommenden Zeiten hier Ordnung stiftete und der in diesem Fache gelehrten Welt endlich ihre Ruhe gab! Diejenigen Leser aber, die jetzt den Ort nicht auch schon wissen, sind einfach dumm, und an ihrer weiteren Bildung und Aufklärung hoffnungsreich weiter zu arbeiten, ist für den Historiographen in der Tat eine schwere Auflage.

Natürlich lag der Kodex in Wittenberg, und ebenso selbstverständlich hatte der junge Rechtshistoriker im deutschen Süden darum an die dortige Universitätsbibliothek geschrieben, und der Dekan seiner Fakultät hatte dem Briefe das Zeugnis mitgegeben, daß man dem Absender die kostbare Handschrift zu seinem Zwecke wohl anvertrauen könne, daß sie in guten Händen sein werde und ihrer Zeit ohne Eselsohren, Schnupftabaksnasentropfenflecke, Fett- und Tintenflecke und dergleichen Verunzierungen treulich und dankbarlichst zurückgestellt werden würde.

In fröhlichen Schmerzen wartete nun Herr Meyer seit einigen Wochen auf das Anlangen des Cimeliums, und wenn er, das Lied von der alten Burschenherrlichkeit pfeifend, im kitzelnden Behagen sich die Hände reibend, aus dem Fenster seines Burschenstübles, sei es in das Schneegestöber, sei es auf den im Wintersonnenschein unter seiner Eisrüstung glitzernden Neckar blickte, sah er viel weniger nach dem Wetter als nach dem Briefträger aus.

An dem Morgen aber, an welchem wir zuerst seine Bekanntschaft machen, mischte sich zum ersten Mal doch einige wirkliche Ungeduld in sein bis jetzt, wie geschildert, durchweg vergnügtes Hoffen und Harren.

»Endlich könnte Se da hinte in ihre Nordpolarländer sich wenigstens zu einer höflichen Antwort aufgeschwunge habe,« brummte er, nach einem neuen Auslug aus dem Fenster und zwar nach links, gegen des seligen Meisters Ludwig Behausung hin. »Ja, freilich, wenn der sie um die Gefälligkeit angegange wäre, hätte sie, wenn auch nur aus politische Rücksichte, mehr Anstand walte lasse. Ja, so sind sie, diese Preuße, und ihre Mußpreuße mache es ihne in allem, was unsereinem an ihne nit behaglich ist, natürlich mit Erfolg nach. Herrgott, na wartet nur, ihr Makedonier! Euch wird Athen auch nach Chäronea noch recht häufig den Schwa – den Höflichkeitsspiegel über den Main vorhalten müssen! An mir soll's wenigstens nit liegen, wenn –«

»E Briefle, Herr Doktor Meyer!«

»E Batzen Trinkgeld, Schwitzgäbele, wenn –«

»Er von der Braut ischt, Herr Doktor?«

»Von der nordischen Vormacht, dummer Kerle.«

»Des kann i weiß Gott nit sage; aber von die – Preuße kommt er wohl; und a paar Kreuzerle verdient i bei der Saukälte wohl von jedem Korreschpondenten, dem i dies Wetter von der Gaß mit in die warme Stube bring.«

Der Götterbote war gegangen, und der Göttergünstling, das Schreiben in den Händen wendend und das Sigill der Wittenberger Universitätsbibliothek darauf gewahrend, zitierte zuerst den göttlichsten Sänger seines Vaterlandes:

»Und leis, wie aus himmlischen Höhen
Die Stunde des Glückes erscheint,
So war sie genaht, ungesehen,
Und weckte mit Küssen den Freund.«

Dann sagte er etwas kleinlaut: »Was Teufel, bloß e Schreibebrief?«

Dann erst öffnete er die Antwort der »nordischen Vormacht« auf sein höfliches Ersuchen.

»Kodex?! . . . Jawohl – Podex! Herrgottssackerment!« ächzte er sofort nach dem flüchtigsten Überblick der dienstlichen Mitteilung der Wittenberger Universitstsbibliothekverwaltung.

Wir werden die Antwort nicht ihrem Wortlaut, sondern nur ihrem Inhalt nach, aber ebenfalls dienstlich, mitteilen. Den Wortlaut schenkt die Leserin uns gern und wir ihn ihr noch lieber: mit dem Schema holt man weder dem Zusammenhang der Dinge noch dem Zufall gegenüber den Kern des eben vorbeigleitenden Daseins heraus.

Mit dem besten Willen konnte Wittenberg dem literarischen Wunsche aus dem Süden nicht Folge leisten. Und wenn Ludwig Uhland aus dem Grabe aufgestanden und gekommen wäre, um hier eine Lücke in der deutschen Rechts- und Volksgeschichte auszufüllen – einerlei, ob als Rechtsanwalt, Mitglied der württembergischen Ständekammer, Abgeordneter zum deutschen Parlament, oder als Professor der deutschen Literatur und Poet: Wittenberg hätte ihm den Sachsenspiegel nicht zur Einsichtnahme vorlegen können. Aus dem einfachen Grunde, weil es ihn doch nicht hatte! – –

Aber der Kodex sollte, mußte sich dort befinden! Wußte das die gelehrte Welt nicht ganz genau?

Jawohl! Wenigstens beinahe. Nicht in Wittenberg lag er, sondern in Lugau; aber Lugau steht so in jahrhundertelanger Verbindung mit Wittenberg, daß hier ein kleiner Irrtum, auch der gelehrtesten Forscher, möglich und entschuldbar war. Das Schlimme aber war, daß die Damen von Lugau ihre wissenschaftlichen Schätze nicht jedem beliebigen durch die Post zur Verfügung stellten und solches auch gar nicht durften.

Wer in dieser Hinsicht wie auch in anderer von den Nonnen von Lugau etwas wollte, der hatte, seit der Reformation, selber zu kommen. Kam er als ein höflicher, liebenswürdiger, angenehmer Mensch, so stand ihm vieles zur Verfügung. Es hat sich seit Doktor Martin Luthers Zeiten mehrere Male zugetragen, daß ein anderer Doktor, meistenteils freilich jüngerer Gelehrter, die Literaturkostbarkeiten der tausendjährigen Stiftung sich hat zeigen lassen, daß er genaue Einsicht zu seinem Zweck nahm und nachher – die Bücher an ihrem Orte liegen ließ, aber eine der Bibliothekarinnen mit sich nahm, und sonderbarerweise immer eine der jüngsten und hübschesten.

»Das ist nun das menschliche Leben!« ächzte der liebenswürdige, junge schwäbische Gelehrte, nachdem er zu der geschäftlichen Mitteilung auch die höflich bedauernde Privat-Schlußwendung des Wittenbergers in sich aufgenommen hatte. »Da liegt die ganze Herrlichkeit über den Haufen! Da steh i nun! wie e Kind, das sich noch e Zuckerpüpple vom Baum holen wollte und sich die ganze Christbescherung über den Leib heruntergezogen hat. Das ist 'ne schöne Bescherung – sackerment, was tu i denn jetzt nur hier? Rein muß mei Sach ins Buch, oder i verzicht auf den Lorbeer ganz und lasse die ganze Suppe stehe! Und wieder die Frauenzimmer im Spiel! Herrgottsackerment, selbst aus dem Schwaben- und Sachsenspiegel können sie ihre Nasen nit weglasse. Lugau. Die Nonnen von Lugau? Ja, wenn's im schönen Sommer wäre, könnte man das Ding beinahe von der poetischen Seite nehme. In einem Klostergarten – dem Klostergarten von Lugau – unter Rosen, Orgelklängen, stillen Jungfrauen – schwarzweißen natürlich! den Schwabenspiegel kollationiert haben: des könnte wirklich was werden, womit man hernach hier am Ort nit bloß bei dene Fachgenossen, sondern auch in der Kneipe die Gemüter bewegen könnte. Aber jetzt – bei dieser Jahreszeit nach dem Nordpol? I danke gehorsamst! Die alten, heimtückischen Schachteln – diese Lugauer Christusbräute werde sich sauber mit meinem Kodex in ihre Klausur verkroche habe, wenn – sie nit gar schon mit ihm eingefeuert habe. Na ja, die Lugauer Schwester Pförtnerin, die mir mit solcher Benachrichtigung ans Tor käme, möchte i auch nit sein – meines Gesichtes wegen. I selber besähe es ums Verrecke für längere Zeit in keinem Spiegel der Welt!«

Das letztere Wort stellt auch für den fröstelndsten Feinsinnigen es unumstößlich fest, daß Doktor E. Meyer trotz seiner Abneigung, im kalten Januar und einer gelehrten Schnurre wegen den Main zu überschreiten, in Gedanken packte, ja sich schon auf der Heerfahrt befand, ja, ja, ja, sogar schon in Lugau angelangt war und dort in der Klosterbibliothek unter den Jungfernpergamenten wütete und wirtschaftete wie im Cäcilienkloster seines großen Landsmannes die Gebrüder Grimm – wollt ich sagen die Kameraden Spiegelberg und Grimm und die andern Libertiner.

»Daß sie ihres eigenen wissenschaftlichen Bedürfnisses wegen jetzt in ihrer Bücherei das Feuer im Ofen nicht ausgehen ließen, steht nit zu vermute,« seufzte unser Spiegel-Schwab. »Aber heize müsse sie mir, oder, Herrgottsackerment, ich heize ihne ein, sei es mit Liebenswürdigkeit, sei es mit Grobheit! Aber – wer weiß – vielleicht kann die Sache ja auch ganz nett und lieblich ausfalle und unter Umständen angenehmer, als wenn man's mit so 'nem brutalen Flegel von Alma mater Kanzleiverwandte zu schaffe kriegte. Herrgott, und wie ischt mir denn? Auch das Herz brauchte ja da nit zu kurz zu komme! Dem Blutgeruch könnte man nachgehe! Die Verwandtschaft möglicherweise begrüße! Sitze uns denn da nit seit dem Anfang des vorigen Säkulums die allermöglichsten unbekannten Vettern und Basen? Des ischt nun wieder mal so, wie es ischt! Mit dem Schwaben- und Sachsenspiegel zermartert man sich seit Aeonen, und an dieses denkt man mit keinem Gedanken. Na, wartet, den lieben Leuten dort kann, wenn sie sich nur in der bescheidensten Weise anständig aufführe wolle, mit einem Vetter aus Schwaben ausgeholfe werde! Also vorwärts zu dene Wende, Wilze und Obotrite! In Gottes Namen hinein ins unheilige Deutschrußland, zu dene Semnone, Saxone, Burgundione, Variner, Rugier und Heruler, kurz, zu dene verflixte Borusse!«

 


 


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