Robert Eduard Prutz
Gedichte - Neue Sammlung
Robert Eduard Prutz

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Lügenmärchen.

Vgl. Wilh. Wackernagel's deutsches Lesebuch,
Th. II., Vorr. p. IX.

        Jüngst stieg ich einen Berg hinan,
    Was sah ich da!
Ich sah ein allerliebstes Land,
Der Wein wuchs an der Mauer,
Und dicht am Throne, rechter Hand,
Stand Bürgersmann und Bauer.
  Wunder über Wunder!
    Keine Barone
    Neben dem Throne?
Unterdessen nimmt michs Wunder.

Und weiter stieg ich frisch hinan,
    Was sah ich da!
Kein Leutnant war, kein Fähnrich dort
Und kein Rekrut zu sehen,
Man wußte nicht das kleinste Wort
Von stehenden Armeen.
  Wunder über Wunder!
    Keine Barone
    Neben dem Throne?
    Glückliche Staaten
    Ohne Soldaten?
Unterdessen nimmt mich's Wunder.

Und weiter frisch den Berg hinan,
    Was sah ich da!
Das ganze liebe Land entlang,
Ins Bad und auf die Messe,
Man reiste frei und reiste frank
Und brauchte keine Pässe.
  Wunder über Wunder!
    Keine Barone
    Neben dem Throne?
    Glückliche Staaten
    Ohne Soldaten?
    Kein Paßvisiren
    Und Chikaniren?
Unterdessen nimmt mich's Wunder.

Und wiederum ein Stück hinan,
    Was sah ich da!
Ein Jeder durfte laut und frei
Von Herzen räsonniren,
Man wußte nichts von Polizei
Und nichts von Denunciren.
  Wunder über Wunder!
    Keine Barone
    Neben dem Throne?
    Glückliche Staaten
    Ohne Soldaten?
    Kein Paßvisiren
    Und Chikaniren?
    Ohne Spione,
    Denkt Euch nur: ohne?
Unterdessen nimmt mich's Wunder.

Und noch einmal den Berg hinan,
    Was sah ich da!
Die Volksvertreter, Mann für Mann,
Da ging's um Kopf und Kragen;
Doch dachte kein Minister dran,
Den Urlaub zu versagen.
  Wunder über Wunder!
    Keine Barone
    Neben dem Throne?
    Glückliche Staaten
    Ohne Soldaten?
    Kein Paßvisiren
    Und Chikaniren?
    Ohne Spione,
    Denkt Euch nur: ohne?
    Ganz ungenirte
    Volksdeputirte?
Unterdessen nimmt mich's Wunder.

Und immer höher ging's hinan,
    Was sah ich da!
Sah Poesie und Wissenschaft
Mit Lust die Schwingen breiten,
Und die Censur war abgeschafft
In alle Ewigkeiten.
  Wunder über Wunder!
    Keine Barone
    Neben dem Throne?
    Glückliche Staaten
    Ohne Soldaten?
    Kein Paßvisiren
    Und Chikaniren?
    Ohne Spione,
    Denkt Euch nur: ohne?
    Ganz ungenirte
    Volksdeputirte?
    Freie Autoren
    Ohne Censoren?
Unterdessen nimmt mich's Wunder.

Und weiter, weiter, frisch hinan,
    Was sah ich da!
Ich sah die Weisen, Hand in Hand,
Wie sie der Lüge wehrten,
Und wie für Recht und Vaterland
Mitkämpften die Gelehrten.
  Wunder über Wunder!
    Keine Barone
    Neben dem Throne?
    Glückliche Staaten
    Ohne Soldaten?
    Kein Paßvisiren
    Und Chikaniren?
    Ohne Spione,
    Denkt Euch nur: ohne?
    Ganz ungenirte
    Volksdeputirte?
    Freie Autoren
    Ohne Censoren?
    Die Philosophen
    Nicht hinter'm Ofen?
Unterdessen nimmt michs Wunder.

Und immer wieder ging's hinan,
    Was sah ich da!
Im ganzen Lande keine Spur
Von Muckern und von Frommen,
Und Niemand kann durch Beten nur
Ins Ministerium kommen.
  Wunder über Wunder!
    Keine Barone
    Neben dem Throne?
    Glückliche Staaten
    Ohne Soldaten?
    Kein Paßvisiren
    Und Chikaniren?
    Ohne Spione,
    Denkt Euch nur: ohne?
    Ganz ungenirte
    Volksdeputirte?
    Freie Autoren
    Ohne Censoren?
    Die Philosophen
    Nicht hinter'm Ofen?
    Kein Pietismus,
    Kein Servilismus?
Unterdessen nimmt mich's Wunder.

Und nun zum letztenmal hinan,
    Was sah ich da!
Ein Jeder durft' auf eignem Bein
Die ew'ge Wahrheit suchen,
Kein Pfaffe durfte kreuz'ge! schrein
Und von der Kanzel fluchen.
  Wunder über Wunder!
    Keine Barone
    Neben dem Throne?
    Glückliche Staaten
    Ohne Soldaten?
    Kein Paßvisiren
    Und Chikaniren?
    Ohne Spione,
    Denkt Euch nur: ohne?
    Ganz ungenirte
    Volksdeputirte?
    Freie Autoren
    Ohne Censoren?
    Die Philosophen
    Nicht hinter'm Ofen?
    Kein Pietismus,
    Kein Servilismus?
    Sanfte Theologen –
    Das ist gelogen!
Unterdessen nimmt mich's Wunder.

 


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