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Achtes Kapitel.
Eine stille Familie

Und abgestumpft dagegen bis zum Unfühlbaren war auch der Alte, den wir auf seiner Rückkehr von der Galgenfichte bis hierher begleitet haben. Auch ihm waren Scenen, wie die eben geschilderten, etwas viel zu Alltägliches, als daß er hätte groß darauf merken sollen, vorausgesetzt sogar, daß seine eigenen Angelegenheiten ihm Zeit dazu gelassen hätten.

Dies war jedoch keineswegs der Fall. Vielmehr indem er, nach allerlei Kreuz- und Querwegen, auf den freien Platz in der Mitte des Dorfes gelangt war, wo die große Schenke von Lichtern glänzte und betrunkene Männer, zeternde Weiber, verworfene Dirnen ihr Wesen wüst durcheinander trieben, war ihm offenbar weit weniger daran gelegen, seine Umgebung zu beobachten, als unbeobachtet und unerkannt zu bleiben von ihr.

Seine Besorgniß war unnöthig. Wie wild die Lustbarkeit, wie toll die Stimmung dieses Haufens, dennoch, wo einer den Alten erblickte in seiner dämonischen Mißgestalt, trat er, wie von einer plötzlichen Furcht ergriffen, bei Seite und gab ihm Raum. Einige Gassenbuben, die ihm von Weitem allerhand Spitz- und Schimpfnamen entgegenriefen, verstummten, so wie er sich näherte; die kühnsten von ihnen, wie seine langen Arme im Vorübergehen anzustreifen schienen, ergriffen schreiend die Flucht.

So bildete sich, mitten im dichtesten Gedränge, eine Gasse, durch welche der Alte, sichtlich ergötzt von diesem, wenn auch etwas zweideutigen Respect, den man seiner Person erwies, frei dahinschritt, bis zur entgegengesetzten Seite, wo die Fabrikgebäude, in schweren, alterthümlichen Massen, in die Höhe ragten.

Es war dies ehemals ein Kloster gewesen. Erst zu Anfang des Jahrhunderts, nachdem Krieg und Wechsel der Zeiten die fromme Bewohnerschaft größtentheils verjagt hatte, war dasselbe aufgehoben worden. Die Klostergüter hatte der Staat eingezogen; die weitläufigen Gebäude, nachdem sie eine Reihe von Jahren wüst und öde gestanden, waren endlich, wie es in solchen Fällen zu geschehen pflegt, dem ersten, dem besten Käufer, weit unter ihrem eigentlichen Werthe, zugeschlagen worden. – Der künstlich zugespitzte Thurm, der ehedem das langgedehnte, fensterreiche Hauptgebäude gekrönt, hatte längst, wegen Baufälligkeit, abgetragen werden müssen. Ein breiter, jetzt wasserleerer Graben, der die Gebäude in regelmäßigem, scharfgeschnittenem Viereck umgab, war, nebst der alterthümlichen Brücke und der schwerfälligen, thurmartigen Eingangspforte, so ziemlich das Einzige, was noch an die ursprüngliche Bestimmung des Gebäudes erinnerte, wenigstens so lange man es nur von außen betrachtete.

In diesem Graben nun, angeklebt, gleich einem Schwalbennest, an die riesenhafte Umfassungsmauer des Fabrikgebäudes, oder um es gleich mit dem Namen zu nennen, der bei Beiden, den Bewohnern des Dorfes sowohl, wie des Gebäudes selber, üblich war: des Schlosses, lag das armselige Häuschen, welches dem Alten zur Wohnung diente.

Wenn auch nicht ganz mit der Behendigkeit einer Katze, doch ebenso unhörbar wie diese, kletterte er die schlecht zusammengeflickten Stufen hinunter. Das Haus, von der gegenüberliegenden Seite des Grabens überschattet, lag ganz im Finstern; nur durch den Laden des einzigen niedrigen Fensters quoll, wie ein einsam verlöschender Stern, der spärliche Schein einer Lampe.

Ebenso geräuschlos, wie er gekommen, öffnete der Alte die Thür, die er sogleich wieder hinter sich verschloß.

Auf dem kleinen dunklen Hausflur blieb er mit verhaltenem Athem stehen, indem er das Ohr dicht an die Thür des Wohnzimmers legte.

Aus dem Zimmer heraus tönte der Gesang (wenn man es Gesang nennen konnte) einer rauhen weiblichen Stimme; es war eine einförmige geistliche Melodie, vorgetragen in jener unausstehlichen Weise, mit jenem Zittern, Dehnen, Ueberschlagen, jenem Näseln und Trillern, durch welches unsere alten Weiber Sonntags in der Kirche ihre ganz besondere Gottesfurcht darzuthun pflegen.

Der Alte horchte einige Secunden; dann brachte er das Auge ans Schlüsselloch. – Sie betet, sagte er, mit einem Ausdruck, der aus Befriedigung und Verachtung wunderbar gemischt war – dummes Weib!

Damit endlich trat er in das Zimmer.

Es war ein weites niedriges Gemach, ganz so unwohnlich und widerwärtig, wie das unheimliche Aeußere des Gebäudes es vermuthen ließ. Dem Fenster zunächst, in einer Nische, halb überwachsen von Staub und Spinnengewebe, stand ein alter wurmstichiger Tisch, mit Kasten und Schubläden; auf dem Tisch lagen, neben einem riesigen Tintenfaß, allerhand Bücher und Papiere. An der Wand darüber hing eine abscheuliche Fratze in Holzschnitt, buntgeklext; dieselbe sollte nichts Geringeres darstellen, als den durchlauchtigsten regierenden Fürsten in allerhöchst eigener Person. Daneben ein Kalender, aber so beschmutzt von Fliegen und anderm Ungeziefer, daß es eines eignen Studiums bedurfte, sich darin zurecht zu finden.

Bei dem Tisch stand ein zerlumpter lederner Sessel; beide, Tisch und Stuhl, waren von Staub und Flecken überdeckt. – Das übrige Zimmer war leer, abgerechnet zwei oder drei hölzerne Schemel und den ungeheuern schwarzen Ofen, in welchem, der lauen Sommernacht zum Trotz, ein knatterndes Kohlenfeuer brannte.

Dicht an den Ofen gekauert, auf einer gebrechlichen Fußbank, eine schmierige Oellampe neben sich auf dem Boden, saß ein langes hageres Frauenzimmer, dem Anscheine nach von fünfzig und etlichen Jahren; die kahlen Schläfe, die weitaufgerissenen glanzlosen Augen, die hervorspringenden Backenknochen, der geöffnete zahnlose Mund verliehen, in der scharfen, von untenher fallenden Beleuchtung, ihrem Gesicht eine so merkwürdige wie abschreckende Aehnlichkeit mit einem Todtenkopfe. Sie hielt das Haupt mit beiden Händen gestützt; auf ihrem Schooße lag ein auffallend wohlerhaltenes, fast zierliches Gesangbuch, aus welchem sie, unzweifelhaft zu ihrer Privaterbauung, einen Choral absang.

Diese Gestalt, die mit ihrem langen Wuchs, ihren großen Augen den entschiedensten Gegensatz – und doch zugleich in ihrer ebenso abschreckenden Häßlichkeit das vollkommenste Seitenstück zum Sandmoll bildete, führte den Namen Lore, gemeiniglich Diebslore; sie war nach der Behauptung Einiger eine Anverwandte, nach Anderen sogar die Frau, in der That aber nicht mehr noch weniger als die Gesellschafterin und Hausgenossin des alten Sandmoll. – Verwandt könnte man sie ihm freilich auch nennen: nämlich insoweit gleiche Verworfenheit der Sitten, gleiche Laster, gleiche Verbrechen eine Verwandtschaft begründen können. Möglich auch, daß sie vor Jahren in der That seine Frau gewesen; nur der Priester war alsdann bei dieser Ehe nicht bemüht worden.

Wie nun aber ein so abgeschlossenes, so verstecktes, ja heimtückisches Wesen, wie wir den Sandmoll bereits kennen gelernt haben, überhaupt zu einer Gesellschafterin kam?

Ganz einfach und ganz nothwendig: wie alte Jungfern zu ihren Schooßhunden kommen, wie ergraute Hagestolze sich Papageien und Dompfaffen hatten, wie kinderlose reiche Witwen armer Leute Kind zu sich ins Haus nehmen –: um etwas zu besitzen, womit sie, je nach ihrer Laune, spielen können und zanken; um ein Ding um sich zu haben, das ein lebendiges Wesen und im Uebrigen doch nicht besser ist, wenigstens von ihnen nicht höher geachtet zu werden braucht, als wie ein todter Stein; dem sie erzählen können und es darf nicht antworten; das sie puffen und knuffen können und es darf sich nicht widersetzen! – Lore, wie schon ihr Beiname vermuthen ließ, war ehedem eine gewandte Diebsgefährtin des alten Sandmoll gewesen; dasselbe Urtheil hatte Beide in dasselbe Zuchthaus geliefert. Als endlich derselbe Tag Beiden die Freiheit zurückgab und Sandmoll, durch die Vermittlung seines Sohnes, des sogenannten Herrn von Lehfeldt, die nichts weniger als ehrenvolle, aber sichere Stelle im Fabrikdorf als Executor und Polizeispion erhielt, vergaß er, sei es aus den eben angedeuteten Gründen, sei es aus Gewöhnung, sei es endlich auch aus einer Art von Gutmüthigkeit, die man ja bei gewissen Verbrechern dieses Schlages nichts weniger als selten findet – genug, der Sandmoll vergaß seiner alten Gefährtin nicht; er nahm sie zu sich ins Haus, sowohl um sich von ihr die Nothwendigkeiten der Wirthschaft besorgen zu lassen, als auch, um Jemand um sich zu haben, an dem er seiner Laune, je nach Beschaffenheit, ungehindert Luft machen durfte. Lore besaß überdies zwei Eigenschaften, welche für einen Mann von Sandmolls Lage und Verhältnissen geradehin unschätzbar waren und die auch allem Vermuthen nach seine Wahl entschieden hatten: sie war schwerhörig, beinahe taub, und in Folge dessen, bei einer erprobten Verschwiegenheit, im äußersten Grade wortkarg; es gab, ihren Gebieter abgerechnet, kaum einen Menschen im ganzen Dorfe, der sich rühmen konnte, eine zusammenhängende Rede von einigem Umfang aus ihrem Munde vernommen zu haben.

Wie Sandmoll übrigens gewohnt war, mit seiner Freundin umzugehen, davon gab er sogleich beim Eintritt eine deutliche Probe. Ohne Begrüßung oder ohne sonst irgend ein Wort zu sagen, ging er geradewegs auf sie los und, einen seiner gewaltigen Arme in Bewegung setzend, mit einem einzigen wohlgezielten Schlage, mitten im schönsten Choral, schleuderte er ihr das Gesangbuch vom Schooße.

Plärre, sagte er, wenn dich die Leute hören; um mich brauchst du dir keine Mühe zu geben. – Diebslore, ohne eine Silbe zu erwiedern, sah ihm steif ins Gesicht; dann, als wäre nichts vorgefallen, nahm sie das Gesangbuch auf, rückte sich noch näher an den Ofen und setzte, wenn auch mit einigermaßen gedämpfter Stimme, ihren Gesang unerschüttert fort.

Sandmoll fühlte sich von der einmaligen Kundgebung seines souverainen Willens befriedigt; indem er sich stellte, als ob er den Gesang weiter nicht hörte, ging er das Zimmer einige Male mit starken Schritten (nämlich was für einen Mann von seiner Beschaffenheit starke Schritte waren) auf und nieder, wobei er die Finger heftig knacken ließ, was bei ihm allemal ein Zeichen großer gemüthlicher Aufregung und lebhafter geistiger Arbeit war.

Einige Minuten mochten auf diese Weise vergangen sein und jeder Andere würde geglaubt haben, das Vorgefallene sei auf beiden Seiten längst vergessen, oder es sei überhaupt niemals beachtet worden: als plötzlich die taube Lore ihren Gesang unterbrach und mit einer auffallend rauhen, fast männlichen Stimme, gleichsam als ob sie jetzt erst dahinter käme:

Wenn ich nicht mehr singen soll, sagte sie, so wird der Herr Prediger sich auch hüten, mir neue Gesangbücher zu schenken – und warme Strümpfe gar erst.

Sandmoll achtete es nicht der Mühe werth, auf diese Bemerkung, so viel Richtiges sie auch haben mochte, etwas zu erwiedern. Er setzte seinen Gang durchs Zimmer fort, indem er jetzt zum Fingerknacken auch noch jenes schon früher geschilderte, eigenthümlich girrende Lachen vernehmen ließ.

Die Alte hub aufs Neue an – oder richtiger, sie fuhr, als wäre gar keine Pause gewesen und sie brächte ihren Satz ruhig zu Ende, fort:

Und wenn er mir keine neuen Gesangbücher mehr schenkt und keine warmen Strümpfe, dann ist er auch nicht unser Freund mehr. Und wenn er nicht mehr unser Freund ist, dann hat auch unsere Herrlichkeit ein Ende mit Nächstem. – Denn, setzte sie wiederum nach einer Pause hinzu: der Herr Prediger kann Alles – Alles …

Sandmoll schien mit seinen Betrachtungen wieder einmal zum Schluß gekommen. Er schüttelte sich ein, zwei Mal über den ganzen Leib; dann, vor seiner Freundin stehen bleibend:

Was Neues unterdeß? fragte er.

Statt aller weitern Antwort und ohne den wieder begonnenen Gesang zu unterbrechen, begnügte Lore sich, rückwärts mit dem Daumen nach dem Schreibtisch zu deuten, wo, bei den übrigen Papieren, einige frisch angekommene Steuerlisten, Executionszettel und Aehnliches lagen.

Und nichts von da? fragte Sandmoll weiter, indem er, ebenfalls mit stummer Geberde, nach der Gegend des Schlosses deutete.

Wieder eine Pause. Dann in einem Tone, der es völlig unentschieden ließ, ob dies eine Antwort sein sollte auf seine Frage oder eine selbständige Rede:

Der Commerzienrath, sagte sie, indem ihre Augen noch immer stier auf den Zeilen des Gesangbuchs hafteten, ritt heute vorbei.

Der Alte horchte mit unbeschreiblicher Spannung. Doch kannte er seine Gefährtin zu gut, als daß er, und ob er vor Ungeduld gestorben wäre, sie hätte zu größerer Eile antreiben sollen: er wußte, daß dies das beste Mittel gewesen wäre, sie gänzlich verstummen zu machen, und daß dann keine Drohungen und keine noch so grausamen Mißhandlungen ihre Lippen in Bewegung setzen konnten.

Auch fuhr sie wirklich schon fort.

Der gnädige Herr, sagte sie, rief mich an: ich solle dir sagen, sagt' er, es würde bald Regen geben; wer etwa noch Gras auf der Wiese hätte, sollt' ich dir sagen, sagt' er, der möchte zusehen, daß er es hereinbekäme, aber schnell.

Der Alte zog die Schultern hoch und lachte höhnisch.

Weiß er es auch schon? sagte er: Nun gut, so wissen wir es alle Beide. – Und wann, meinte der gnädige Herr, würde das Wetter kommen?

Morgen mit dem Frühesten, erwiederte Lore: und eine Stunde nach Mitternacht, im Westen, müßt' es sich entscheiden.

Eine Stunde nach Mitternacht, im Westen; es ist gut, wiederholte der Sandmoll. Aber in der Art, wie er diese Worte vorbrachte und die jedem Fremden gewiß völlig unverfänglich erschienen wäre, erkannte Lore, daß die angekündigte Wetterveränderung ihn näher anging, als er wollte merken lassen.

Sie klappte das Buch zu und schickte, die Arme in einander gelegt, sich eben an, ihre glanzlosen Augen auf ihn zu richten: als der Sandmoll hastig die Lampe ergriff, an den Tisch trat, die Papiere öffnete …

Einige davon steckte er zu sich, andere warf er zu dem übrigen Haufen; noch andere endlich, die er aus dem Innern des Tisches, aus einem verborgenen Fache nahm, verbrannte er an der Lampe.

Darauf aus einem andern Fach nahm er ein großes wappenähnliches Schild, aus blankem Messing, dergleichen Gerichtsdiener, Executoren und ähnliche Leute bei ihren amtlichen Verrichtungen zu tragen pflegen. Er rieb und putzte daran und ließ es an der Lampe spiegeln, bis es ihm blank genug schien; dann befestigte er es an seinem Rocke, auf der linken Brust.

Er vertauschte ferner den abenteuerlichen grauen Filz mit einer dienstmäßigen runden Mütze mit schmalem grünem Streifen. Endlich warf er einen alten misfarbigen Mantel über, und nahm den großen Amtsstock, oben mit Messing beschlagen, in die Hand.

So, zum Aufbruch gerüstet, stellte er sich seiner Freundin gegenüber. Sie war so groß oder er so klein – genug, es fehlte nicht viel, so war sie im Sitzen ebenso groß, wie er im Stehen; sie konnten sich also sehr bequem Aug' in Auge sehen. Nur Schade, daß die Augen der Einen so erloschen waren, die des Andern so tief in ihren Höhlen lagen, so daß, wer die beiden Personen nicht kannte, sie in diesem Augenblick, da sie einander so ausdruckslos anstarrten, nothwendig für zwei Blinde gehalten hätte.

Aber diese seltsamen Geschöpfe, so zu einander gehörig, so in einander verwachsen durch gemeinsames Elend, gemeinsame Verworfenheit, verstanden ihre kaum sichtbaren Blicke gegenseitig besser, als viele ehrliche Leute ihre ausgesprochenen deutlichen Worte. – Nachdem Lore ihre großen faden Augen eine Zeitlang auf dem Antlitz des Alten hatte ruhen lassen, mit einer Bestimmtheit, die etwas Entsetzen Erregendes hatte:

Der Junge ist wieder da, sagte sie.

Sandmoll nickte; es war ein langsames, nachdenkliches Nicken.

Jetzt erst schien Diebslore seinen veränderten Anzug zu bemerken.

Wohin so spät noch? fragte sie.

Dienst, antwortete Sandmoll, indem er mit einem unbeschreiblich boshaften Grinsen die Mütze fester rückte. – Auch dies war etwas Merkwürdiges in dem Umgang dieser beiden Personen, daß, trotz der notorischen Schwerhörigkeit des Frauenzimmers, der Alte seine Stimme doch nicht im Mindesten anzustrengen brauchte, um ihr jederzeit vollkommen verständlich zu sein – nämlich sobald sie ihn verstehen wollte! Sie las, würde man in anderen Fällen gesagt haben, die Worte von den Lippen; – aber nur von diesen aufgeschwollenen, wulstartigen Lippen, was ließ sich lesen?!

Das Weib versank wieder in sein früheres theilnahmloses Schweigen. Nur indem der Alte bereits unter der Thüre stand, mit derselben, starken, harten Stimme, wie bisher:

Wenn es der Junge gar zu arg macht, sagte sie, mußt du doch einmal die Gelegenheit wahrnehmen und ihn auf den Kopf schlagen.

Sandmoll, der eben damit beschäftigt war, pantomimischen Abschied von seiner Freundin zu nehmen, das heißt, er hob den messingbeschlagenen Stock mehrmals drohend in die Höhe, – nickte wiederum, aber diesmal auf eine durchaus vergnügte und beifällige Weise.

Ah, ah, röchelte er, indem er sich die Schwelle vorsichtig hinabließ, ist doch bei alledem ein gutes Weib, die alte Lore! ein gutes Weib! ein kluges Weib!

Mit diesen Worten schloß er die Hausthür sorgfältig hinter sich ab.

Das gute kluge Weib verhielt sich einige Minuten hindurch unbeweglich. Dann, sowie sie die Ueberzeugung gewonnen, daß der Alte das Haus wirklich verlassen und sie nicht etwa nach hinterwärts belausche, auf nackten Füßen, schlich sie ans Fenster und lauschte durch den Spalt im Laden. – Dienst will er haben? murmelte sie dabei vor sich hin: das mag er einem Andern weiß machen – Dienst um zehn Uhr in der Nacht? … Richtig, fuhr sie fort, indem sie, vollkommen befriedigt, vom Fenster zurücktrat: ins Haus des Meisters, ich dacht' es mir. Zehn Uhr Nachts und er geht noch in das Haus des Meisters? Ah, steh' mir Gott bei, das muß ein garstiger Aerger gewesen sein, den er gehabt hat! Für den bin ich zu schlecht, ihn an mir auszulassen, da muß er sich was extra zu Gute thun; darum geht er ins Haus des Meisters … Fast dauert er mich, setzte sie hinzu, der arme Meister; es wäre besser todt sein, obschon todt sein höchst entsetzlich sein muß, höchst entsetzlich –! (und hier schlugen ihr die Zähne an einander) als dies Leben. Aber woher kommt's? Er ist ein Ketzer, sagt der Herr Prediger, und will nicht aus dem Gesangbuch singen …

Damit hatte sie sich ihren Sitz am Ofen wieder zurecht gerückt und hub von Neuem an mit lauter plärrender Stimme die geistlichen Melodien des Gesangbuchs abzusingen.


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