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Erstes Buch.
Die Galgenfichte


Erstes Kapitel.
Unter der Galgenfichte

Seitwärts von der großen Straße, die über das Gebirge führt, eben an der Stelle, wo sie die äußerste Höhe erreicht hat und nun, in künstlichen Windungen, herniederfällt ins Thal, zweigt sich, zur rechten Hand, ein Fußsteig ab. Ehemals vielleicht, da diese Gipfel noch weit und breit mit dichtem Hochwald bestanden waren, als Holzschleife benutzt, liegt er jetzt seit Langem überwachsen und verwildert; es hält schwer und du mußt schon sehr genau bekannt sein in der Gegend, ihn überhaupt nur aufzufinden.

Ist dies gelungen und du hast dich einige hundert Schritte zwischen den Bäumen hindurch gearbeitet, so kommst du zuerst an einige verwitterte Steinbilder, Reste vermuthlich aus frühern katholischen Zeiten, Heiligenbilder, vor denen der Wanderer, indem er die Höhe des Gebirgs glücklich erreicht hatte, seinen Dank aussprach, oder, niedersteigend, sich der Fürsorge seines Schutzpatrons empfahl. – Jetzt, tief eingesunken, mit Moos bedeckt, unkenntlich, gewähren sie, mitten in der Einsamkeit des Waldes, einen unheimlich befremdlichen Anblick. Zu ihren Füßen, zwischen misfarbigem Moose, kaum sichtbar, in sparsamen Tropfen, sickert eine Quelle hervor; ihr leises Brodeln, einförmig, in ewig gleichem Takte, vermehrt noch das seltsam Schauerliche der Scene.

Einige Schritte weiter vorgedrungen, gewahrst du, wie auch der Weg allmälig sich erweitert; die Bäume hören auf, das Gras selbst verschwindet und der kahle, nackte Stein hallt klirrend unter deinem Tritt.

Plötzlich, bei einer unerwarteten Wendung des Weges … und du taumelst entsetzt zurück vor dem Abgrund, der, senkrecht, zu deinen Füßen, dir entgegengähnt!

Ein beängstigender Anblick! – Es ist die Nordwestseite des Gebirges, das hier in einer einzigen schmalen Klippe, jählings, thurmtief, herabfällt. Wie ein Vogel in der Luft schwebend, von allen Seiten frei, umfassest du hier mit Einem Blick eine unermeßliche Landschaft: Berge und Thäler, Schluchten und Abgründe, in wildem Getümmel durch einander stürzend, ein empörtes Meer, plötzlich, im äußersten Moment des Aufruhrs, zu Stein verwandelt.

Dicht unter der Klippe hin, wol vierzig Klafter tief, windet sich die Landstraße. Sie drängt sich hier so eng an den Felsen, daß man sie von oben nicht sehen kann. Nur das Knarren der Räder, das Zurufen der Fuhrleute, ja selbst das trauliche Gespräch zweier Wanderer tönt, in abgebrochenen Lauten, herauf nach oben: erst indem diese Klänge dein Ohr berühren, hörst du, wie unermeßlich einsam, wie grabesstille es auf der Klippe ist. – Weiterhin taucht die Straße, gleich einem schmalen gelben Bande, leuchtend auf; du siehst, wie sie hier einen Felsen hinanklimmt, dort über eine Brücke läuft, an einer andern Stelle sich in einer Schlucht verliert, um jenseit, in weitem Bogen, wieder aufzutauchen.

In noch größerer Entfernung, aus einer Art von Kessel, in den die Landstraße mündet, ragen mächtige klosterähnliche Gebäude hervor, umgeben von einer Anzahl niedriger hölzerner Dächer; auch wenige Ziegeldächer, höher als die übrigen, leuchten, grellroth, aus der dunkeln Umgebung hervor. – Doch muß der Tag besonders hell sein und die Sonne gerade sehr günstig stehen, um diese Baulichkeiten im Einzelnen zu unterscheiden: so grau, gleichsam Fels auf Felsen, sind diese Mauern, so unscheinbar die Mehrzahl dieser Dächer; nur an der Rauchsäule, welche Tag und Nacht, unbeweglich, über dieser Stelle schwebt, gewahrst du, daß hier eine Wohnstätte von Menschen ist.

Darüber hinaus dehnt sich eine weite, unterschiedlose Ebene: bis endlich jener zarte blaue Duft, der namentlich in Gebirgsgegenden zu Hause zu sein pflegt, die Aussicht schließt. –

Es ist, wie schon gesagt, die Nordwestseite des Gebirgs; der Sturm, der den größten Theil des Jahres hindurch hier widerstandlos daherbraust, hat Alles öd' und kahl gepeitscht. Auf den Gipfeln kein Baum, an den Wänden kein Halm! Die wilden Wasser, die sich bei den häufigen Regengüssen, Sündfluthen gleich, ins Thal herniederstürzen, haben längst jedes Körnchen Erde, in dem ein Unkraut, ein Gräschen Wurzel fassen könnte, hinweggeschwemmt.

Nur ein einziger Baum ragt in der ganzen Gegend: und der steht auf der Klippe selbst, wenige Schritte vom Abgrund, ein alter, riesiger Fichtenbaum. Zeit, Sturm, Blitz haben ihn beschädigt und zerschlagen; auf der Wetterseite, nach dem Abhang zu, ist er schon völlig abgestorben. Aber auch diese todten Aeste, in knorrigem Wuchs, ragen noch so trotzig, strecken noch so keck sich über den Abgrund hin, die Wurzeln, halb bloßgelegt, in abenteuerlichen Windungen, klammern sich noch so fest, so eisern an den Boden, als sollte noch manch ein Jahrhundert vergehen, bevor der Sturm sie völlig lösen und zerschmettern wird.

Dieser Baum und mit ihm die Klippe, wo er steht, heißt im Munde des Volks die Galgenfichte.

Woher der Name stammt?

Niemand weiß es mehr. Vielleicht, daß hier vor Alters einmal eine That der Verzweiflung geschehen; vielleicht auch, daß die Gestalt des Baumes Veranlassung gegeben, der seine kahlen Aeste galgenähnlich durch die Luft streckt; oder auch, daß der Name nur im Allgemeinen den unheimlichen, grausigen Charakter wiedergeben soll, der auf dieser Stelle lastet und um dessen willen sie von den Leuten gemieden wird und geflohen weit und breit.

Jedenfalls, hätte sie ihren Namen noch nicht gehabt, heute war Gelegenheit, ihn zu bekommen!

Es war im Hochsommer, ein Sonnabend Nachmittag. Die Sonne schoß glühende Strahlen und die kahlen Felswände warfen sie, gleich Brennspiegeln, mit verdoppelter Gewalt zurück. Kein Lüftchen ging; selbst auf der Höhe lagerte gleichmäßig drückende Schwüle.

Unter dem Fichtenbaum, den Kopf an den Stamm gelehnt, die Füße fast über dem Abgrund schwebend, lag ein Mann und schlief. Es war eine stolze, kräftige Gestalt, dem Anschein nach im Anfang der Vierziger; das Haupt, von struppigen, schwarzen Locken wild umwallt, war unbedeckt und ließ die scharf ausgeprägten Züge eines ursprünglich edeln, aber von Leidenschaft durchfurchten, ja zerrissenen Antlitzes frei erkennen. Der Anzug, aus gröbstem Stoffe, hing in Fetzen; die Füße waren nackt. Um die Schultern trug er einen Zwerchsack, wie Fußboten und Bettelleute ihn zu tragen pflegen. Ein mächtiger Knotenstock war seiner müden Hand entglitten; er lag neben ihm, wie ein abgegürtetes Schwert.

Die Sonne brannte dem Manne grade ins Antlitz, seine Wangen waren geröthet, der Schweiß, in dicken Tropfen, perlte von seiner Stirn – er fühlte es nicht. Neugierig, verwundert, krochen Ameisen und kleine Käfer, die in dem Fichtenbaum ihre Nester hatten, über ihn hin – er spürte es nicht. Nur mitunter, als ob ein ängstlicher Traum ihn quälte, murmelte er aus tiefem Schlaf abgerissene, unverständliche Laute und ein hohles, heiseres Lachen stahl sich zwischen den halbgeöffneten Lippen hervor.

Endlich wacht' er auf – nicht langsam, nicht allmälig, nicht die Glieder behaglich dehnend: sondern jählings, als hätte eine Stimme ihm Entsetzliches ins Ohr gerufen … wachte auf und, die sehnigen Arme gegen die Erde stemmend, mit einem gewaltigen Ruck, hoch aufrecht saß er da! Keine Spur von Müdigkeit lag mehr auf seinem Antlitz; alle Fibern waren angespannt und straff; ohne zu zucken, gleichmüthig, blickt' er in den Abgrund zu seinen Füßen.

So saß er etwa zwei Minuten. Dann wurden die gewaltigen Arme schlaff, der Nacken senkte sich, die ganze Gestalt brach ohnmächtig, krankhaft, in sich zusammen; er preßte die Hände vor die Stirn, das Haupt wiegend, leise, langsam, und doch mit so viel innerer Heftigkeit, daß die schwarzen Locken ihn, Schlangen gleich, umzüngelten.

Und wiederum saß er so einige Minuten.

Dann, mechanisch, griff er in den Zwerchsack. Der Sack war leer; er kehrte ihn um – und nichts fiel heraus, als eine geleerte Branntweinflasche und wenige unsaubere, verschimmelte Brosamen.

Die Brosamen rollten vor ihn hin, das abschüssige Gestein entlang, bis hart vor den Abgrund. Ein Vögelchen, das in einer Spalte des Felsens, dicht unter dem Abhang, nistete, kam begierig herbeigeflattert und pickte mit hungrigem Schnabel von den harten Krumen.

Da war es wundersam zu sehen, welch eine Veränderung in dem Angesicht des Mannes vor sich ging. Wie Sonnenschein glitt es darüber hin; die harten, wilden Züge wurden weich und mild, in das starre, umflorte Auge trat ein warmer, lebensvoller Schein, den trotzigen Mund umspielte ein gutmüthig kindliches Lächeln. Geräuschlos, vorsichtig, den kleinen Näscher nicht zu stören, bog er sich vorwärts, mit verhaltenem Athem und langgestrecktem Halse; alles Andere war vergessen und versunken, keine Sorge mehr schien er zu kennen, nichts mehr zu thun zu haben, als nur das Treiben des Vögelchens mit einer fast mütterlichen Sorgfalt zu bewachen.

Von dem Nest herauf tönte das Zirpen und Girren der Jungen; das Vögelchen, mit großer Aemsigkeit, flog hin und wieder. Wo eine Krume zu groß war und sie entfiel seinem Schnabel, kehrt' es um, pickte sie entzwei, kostete von den Stückchen, piepte laut, wetzte den Schnabel, sah mit den klugen Aeugelchen um sich; dann, mit raschem Fluge, trug es sie einzeln zu Neste.

Der Mann wurde nicht müde, dem Spiele zuzusehen; wo ein Krümchen gar zu weit gefallen war, schob er es dem Vögelchen leise, leise in die Nähe: und wenn es dann glücklich aufgepickt ward, lachte er still in sich hinein.

Auf einmal verzerrten sich seine Züge: ein kurzes, schreckliches Lachen ausstoßend – oder war es mehr Schrei als Lachen? – ergriff er die Flasche und warf sie, mit bebender Hand und indem es schien, als ob sein Auge Funken sprühte, nach dem Vögelchen.

Der Vogel floh, laut kreischend, davon; die Flasche, in tausend Trümmern, klirrte den Abgrund hinab.

Der Mann stand auf; sein Gesicht war jetzt wieder ganz ruhig geworden, nur daß es bleich war, wie eines Todten. Er schüttelte sich und reckte die Glieder, daß sie knackten. Dann, einen Schritt zurücktretend, maß er mit sicherm Blick den Fichtenbaum.

Zwei Schuh über Mannshöhe ragte aus dem zersplitterten Stamm ein abgebrochener Ast hervor. Der Mann trat auf die Zehen, und sich gewaltsam in die Höhe dehnend, prüfte er mit nerviger Faust die Haltbarkeit des Stumpfes.

Er schien mit dem Ergebniß zufrieden. Zwei Schritte ging er vorwärts, nach dem Abgrund hin, holte einmal kurz Athem; dann, rückwärtsschreitend, indem er den Baum unausgesetzt im Auge behielt, mit einer solchen Ruhe, als machte er die Nachttoilette, um sich ins Bett zu legen, löste er sein zerfetztes Halstuch, rutschte den Stamm in die Höhe, knüpfte das Tuch um den Ast, zog den Knoten derb zusammen, steckte den Kopf durch die Schlinge …

In diesem Augenblick tönte eine Stimme an sein Ohr.


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