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Zweites Kapitel.
Eine Störung

… Ihr seid da bei einem guten Stück Arbeit; soll ich vielleicht helfen?

Der Ton, in welchem diese Worte gesprochen wurden, war so gemüthlich, so ruhig, daß die Ruhe desselben Mannes, der soeben noch mit so viel kaltem Blute zu einer so entsetzlichen That geschritten war, daran zu Schanden ward. Er zog den Kopf aus der Schlinge, taumelte mehr herab, als er sprang, und sah sich entsetzt nach der Seite um, von woher die Stimme gekommen war.

Er brauchte nicht weit zu suchen. An der Krümmung des Wegs, wo er von den Steinbildern her scharf umbiegt, auf eine kleine Erhöhung des Felsen gelagert, saß ein junger Mann in zierlichem Reiseanzug; ein Strohhut mit breitem Rande überschattete sein Angesicht. Neben ihm, gesenkten Haupts, mit stachlichten Nüstern den kahlen Stein beschnopernd, stand sein Pferd, ein kleines, struppiges Thier, von jener unscheinbaren, aber eisernen Race, welche in Gebirgsländern zu Hause ist. Ein Hund, von außerordentlicher Größe, die klugen, hellbraunen Augen unverwandt aus seinen Herrn gerichtet, hielt es beim Zügel. Die ganze Gruppe war so lautlos, so stumm, als ob sie ebenfalls von Stein wäre.

Der junge Mann hielt eine Jägermahlzeit, und zwar eine vortreffliche. Ein gebratenes Feldhuhn, sauber in Papier gewickelt, lag auf seinem Knie; der Rest einer Pastete, feines Weißbrod, eine entstöpselte Korbflasche stand neben ihm. – So saß er da, ein Bild des Wohlseins und der Gemüthlichkeit: und mit diesem gemüthlichen, wohlbehäglichen Tone war es auch, daß er jene, für den Bettler so erschütternden Worte rief:

Ihr seid da bei einem guten Stück Arbeit; soll ich vielleicht helfen?

Der Bettler starrte die Gruppe mit weitaufgerissenen Augen sprachlos an; dann, sich gewaltsam zusammenraffend, mit einer Stimme, welche gleichgiltig sein sollte, aber heiser und röchelnd war, wie die Stimme eines Erstickenden:

Euer Pferd, sagte er, muß einen festen Tritt haben.

Der Fremde hatte während dessen ein Glas Wein eingeschenkt, ließ es in der Sonne funkeln, trank, blies die Tropfen aus dem feinen blonden Schnurrbart, der sich auf seiner Lippe kräuselte:

Fest? antwortete er: o ja, es macht sich; aber doch lange nicht so fest als Euer Schlaf. Ihr habt mir rechten Spaß gemacht, setzte er nachlässig hinzu, indem er wieder anfing sich mit dem Huhn zu beschäftigen: erst die Geschichte mit dem Vogel und der Flasche und dann das Halsband da oben – in der That, sehr gut das, sehr unterhaltend …

Und damit winkte er den Hund zur Ruhe, der durch ein halblautes, unterdrücktes Knurren zu erkennen gab, daß die Nähe des Bettlers ihm weniger angenehm als seinem Herrn.

Der Unglückliche stand noch immer, vergeblich nach Fassung ringend; sein Blick irrte bald auf den Fremden, bald auf den Hund, bald auf den Gaul, aber mit einem so ungewissen, fast blödsinnigen Ausdruck, daß man leicht gewahr werden konnte: dieses Rollen seines Auges war nur mechanisch und er erblickte von Allem eigentlich nichts.

Der junge Mann, der sich an seiner Verlegenheit zu werden schien, erwiderte seinen Blick mit schalkhaft blinzelndem Auge, ohne darum seine übrige höchst angenehme Beschäftigung zu unterbrechen.

Es ist Gebirgsrace, sagte er endlich, auf das Pferd hindeutend: neunjährig, hat Knochen wie Eisen und eine Nase wie ein Jagdhund. Und dann mit einem Tone übertriebenster Höflichkeit: Aber verzeiht, unterbrach er sich selbst: Ihr wart da eben, wie gesagt, bei einem so guten Stück Arbeit, daß ich mir ein Gewissen daraus machen würde, Euch gestört zu haben.

Diese Worte schienen dem Bettler auf einmal sein ganzes Bewußtsein wiederzugeben. Er fuhr mit der Hand an den Nacken, preßte das Kinn gegen die Kehle; darauf, mit voller Stimme und trotzigem Ausdruck, indem er der Gruppe einen halben Schritt näher trat und sie mit festem, fast durchbohrendem Blicke maß:

Ihr habt Recht, sagte er, ein gut Stück Arbeit, und doch nicht so gut, daß ich nicht noch ein besseres wüßte.

Der Fremde hatte ein zweites Glas Wein geleert; mit größter Ruhe schwenkte er den Kristallbecher aus und, ohne den Bettler eines Blicks zu würdigen:

Als zum Beispiel, sagte er, Rebhühner essen? Habt nur Geduld, es wird schon noch etwas für Euch übrig bleiben. Nicht wahr, Strom, setzte er, zum Hunde gewendet, hinzu, du theilst mit dem Manne?

Dem Bettler stieg das Blut in die Stirn. Ich dank' Euch, sagte er mit derselben vollen, nachdrücklichen Stimme, und es freut mich, daß Ihr so höflich geworden seid. Ihr wart es, entsinne ich mich recht, nicht immer. Denn ich denke (und damit trat er ihm wieder einen Schritt näher) wir haben uns schon einmal gesehen.

Der Fremde schien einen Augenblick zu schwanken, was er thun sollte. Gleich darauf, mit einem zuvorkommenden Lächeln, beeiferte er sich, den breitrandigen Strohhut aus der Stirn zu schieben, gleichsam als wollt' er dem Andern die Erkennungsscene erleichtern. Denk' es gleichfalls, sagte er: heut früh, drüben im Walddorf …

Ja, Herr, antwortete der Bettler, und seine Stimme bebte jetzt vor Zorn, heute früh im Walddorf; Ihr rittet über die Brücke, ich sprach Euch um ein Almosen an …

Der junge Mann, aufs Neue in sein Frühstück vertieft, mit vollen Backen, fand für gut, seine Zustimmung nur durch ein leichtes Kopfnicken zu erkennen zu geben.

Der Andere fuhr fort:

Und Ihr, Herr, statt eines Almosens gabt Ihr mir einen Schlag mit der Peitsche, Herr …

Der Fremde sah gleichmüthig zu ihm empor und lachte.

Man hat so mitunter seine Humore, sagte er.

Gewiß, antwortete der Bettler: man hat seine Humore, Herr, und zum Beispiel ich, Herr, da ich doch einmal aus der Welt zu gehen entschlossen bin …

Und dabei hatte er, mit raschem Griff, den Knotenstock an sich gerafft und stand dem Fremden dicht gegenüber …

Wenn ich nun zum Beispiel, sagte er, den Humor hätte, Euch vorher ein Weniges den Schädel einzuschlagen, wie dann, Herr?

Auch jetzt noch blieb der junge Mann unerschüttert. Er hatte eben ein Hühnerflügelchen zwischen den Zähnen.

Der Gedanke an sich betrachtet, sagte er langsam, wäre so übel nicht. … Hier hatte er das Flügelchen abgenagt und schnellte es, mit einer zierlichen Handbewegung, hinter sich. … Nur was die Zeit der Ausführung betrifft, … indem er die Finger flüchtig gegen ein Tellertuch von blendender Weiße drückte, … so scheint mir dieselbe … hier fuhr er mit der Hand in den Busen … nicht ganz passend gewählt!

Diese letzteren Worte hastig, mit herrischer Stimme hervorstoßen, ein doppelläufiges Terzerol aus der Brusttasche ziehen, aufspringen und das Gewehr, den Finger am Drücker, dem Bettler vor die Brust halten – das Alles war das Werk eines Augenblicks. In demselben Moment ließ der Hund den Zaum des Pferdes fahren und stellte sich, mit grimmig gefletschten Zähnen, sprungfertig neben seinen Herrn. Selbst das Pferd schien die Bedeutung der Situation zu erkennen; es spitzte die Ohren, biß in den Zügel und stieß ein unterdrücktes, geschreiähnliches Wiehern aus.

Der Bettler hatte den Stock zum Schlag erhoben; sein Arm war fest, sein Auge unbeweglich. So standen sich Beide eine Minute lang gegenüber. Kein Wort wurde gewechselt.

Zuerst brach der Bettler das Schweigen.

Ihr seid ein tapferes Kerlchen, sagte er, ich mag Euch leiden. … Dann, den dicken Knotenstock mit einem einzigen mächtigen Griff über dem Knie zerbrechend, wie von einem plötzlichen Wahnsinn befallen, schleuderte er die Stücke weit von sich und tanzte, in abenteuerlichen Sprüngen, jauchzend umher.

O, o! schrie er und hielt sich die Seiten vor Lachen: es wäre doch auch gar zu toll gewesen! ein Mann, der die Weihen hat – denn Sie sehen es mir doch an, mein Herr, daß ich die Weihen habe?! ein Candidatus reverendi ministerii, ein Magister der freien Künste – und ein Straßenräuber! ein Todtschläger! ein Mörder!! O, o, es wäre ja zum Todtlachen gewesen!

Und immer wilder tanzte er umher.

Plötzlich, stillehaltend, mit burleskem Pathos: Alle Wohlgerüche Arabiens, rief er, wären ja nicht hinreichend gewesen, diese kleine lilienweiße Hand wieder rein zu waschen!!

Und damit streckte er seine grobe schwielige Faust pathetisch gegen die Sonne.

Jetzt wär die Reihe zu erstaunen an dem Fremden. Mit einem überaus spaßhaften, sichtbar sich selbst ironisirenden Ausdrucke von Verwunderung, mit offenem Munde, starrte er den Bettler an; es war kein Zweifel, er wollte etwas erwidern, vermochte jedoch die richtige Anknüpfung nicht sogleich zu finden. Er begnügte sich daher, das Pulver auf der Pfanne seines Terzerols zu untersuchen, schob dasselbe darauf in die Brusttasche zurück und setzte sich alsdann, kopfschüttelnd, auf seinen Platz.

Der Bettler inzwischen fuhr fort: Das ist von Shakespeare, Herr; ich hoffe doch, daß Sie Shakespeare kennen? Was halten Sie von Shakespeare? … Mit diesen Worten hockte er dicht vor dem Fremden nieder und sah ihm mit größter Ernsthaftigkeit ins Gesicht.

Der junge Mann konnte noch immer den Ton der Antwort nicht finden. Doch der Bettler überhob ihn der Verlegenheit, indem er, ohne eine Antwort abzuwarten, mit jener ängstlichen Geschwätzigkeit, welche so häufig an Irren beobachtet wird, fortfuhr:

Shakespeare, sagte er, ist überhaupt der einzige Poet, der werth ist, daß man ihn liest. Ich habe sie Alle gelesen, ich kenne den ganzen Quark, alte und neue, ja ich kann sie auswendig – befehlen Sie?

Und hier fing er an, in richtigstem Takt und mit genauester Betonung, ein Bruchstück aus dem Ajax des Sophokles, im griechischen Urtext, zu recitiren. Aber nur wenige Verse – und die berühmte Schilderung des Seesturms aus dem Anfang der Aencide floß von seinen Lippen so wohllautend, mit so richtiger Empfindung, daß das Erstaunen des Fremden sich mit jedem Worte höher steigerte.

Gleich darauf, sich selbst unterbrechend, fuhr er fort:

Aber das Alles, sehen Sie, ist nur auswendig gelernt; jeder Schuljunge kann es. Dagegen wenn ich etwas von Shakespeare citire, verstehen Sie mich recht, so ist es mir allemal, als ob ich selbst es eben erst erfände und es hätte nie einen Shakespeare gegeben, sondern der Shakespeare, das wäre das Ding, das in mir sitzt und mir zuflüstert, bei Tag, bei Nacht. … Das macht, setzte er mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Selbstgewißheit und Altverstand hinzu, weil die großen Geister sich begegnen.

Und sogleich wieder hub er an, in reinstem Englisch, mit gewandter und richtiger Aussprache, die berühmte Stelle aus Shakespeare's Sturm: »Des Dichters Aug', in schönem Wahnsinn rollend etc.« zu declamiren.

Der junge Fremde mittlerweile schien seine Partie genommen zu haben. Mit einem Anstrich von Herzlichkeit und feiner, gebildeter Sitte, der mit seiner eben erst bewiesenen Brutalität allerdings im schneidendsten Gegensätze stand, ihn jedoch nichtsdestoweniger vortrefflich kleidete, erhob er sich, reichte dem Bettler die Hand und sagte, wie beschämt, mit niedergeschlagenen Augen und halber Stimme:

Verzeihen Sie, mein Herr, die rohe und unwürdige Behandlung, welche ich Ihnen so eben angethan habe; Sie können mich nicht tiefer darum verabscheuen, als ich selbst es in diesem Augenblick thue. Hätte ich ahnen können, welch ein Kern sich unter dieser unscheinbaren Hülle verbirgt, mein Wort darauf, Sie hätten mich sollen von einer andern Seite kennen lernen.

Ich fühle sehr wohl, fuhr er nach einer kleinen Pause fort, während welcher er vergeblich auf eine Antwort von Seiten des Bettlers gewartet hatte, daß mich das durchaus nicht entschuldigen kann. Wir sollen (hier erhob er seine Stimme zu einem unbeschreiblich herzgewinnenden, rührenden Tone, sodaß selbst der Bettler aus seinem Nachdenken emporfuhr und ihn erwartungsvoll anblickte) … Wir sollen, sagte der junge Mann, für das Elend unserer Mitbrüder unter allen Umständen und in jeder Lage offene Augen, offene Herzen haben; das ist eine allgemeine Pflicht, um wie viel mehr also die meinige, der ich das Elend unserer Gesellschaft mitfühlend im tiefsten Herzen trage, ja der ich kein höheres Ziel kenne, keinen glühendem Wunsch hege, als mich der Menschheit und ihrer Befreiung zu opfern! …

Es ist wahr, fuhr er wiederum nach einer kleinen Pause fort, daß das Betragen, welches ich nur gegen Sie habe zu Schulden kommen lassen, Demjenigen, was ich in diesem Augenblick äußere, auf eine für mich sehr beschämende Weise widerspricht, so sehr, daß, wollen Sie meine gegenwärtige Aeußerung für eitel Lüge und Heuchelei erklären, ich selbst nichts dagegen einwenden kann. Ich verschmähe, wie gesagt, jede Entschuldigung; ich verzichte sogar darauf, Sie in mein Herz blicken zu lassen, ich verzichte Ihnen zu zeigen, welche schmerzliche Wunden hier brennen, und welche bittere, welche vernichtende Erfahrungen ich, mitten in meinen uneigennützigsten und edelsten Bemühungen, gemacht habe. Denn wie sagt unser göttlicher Freund Shakespeare? – Auch weiß ein Mann von Ihrem Geist, Ihren Kenntnissen, vor Allem von Ihren Schicksalen, die wunderbar und ungewöhnlich sein müssen, wie ein Werk unsers Dichters – ein solcher Mann, sage ich, weiß ja ohnedies, wie nahe im menschlichen Herzen Gutes und Böses grenzen, und wie leicht, in Folge vielfacher Täuschungen, die reinste Menschenliebe umschlägt in den bittersten Menschenhaß. …

Der Redner (denn so, bei dem fast theologischen Pathos, zu dem er sich allmälig erhoben hatte, mußte man ihn in Wahrheit nennen) schien hier mit Gewißheit auf eine Antwort seines Zuhörers zu rechnen. Da dieser jedoch nur unablässig, mit gespreizten Fingern, die Handfläche auf dem fast nackten Schenkel im Kreise reibend, in seinem Stillschweigen beharrte, so fuhr der Andere fort:

Ja, ich bekenne mich schuldig! Die knechtische Unterwürfigkeit, mit welcher das Volk sein Elend erträgt – erträgt, ohne auch nur zu ahnen, was es erträgt! – hatten mein Herz verhärtet; ich fing an, ein Geschlecht zu verabscheuen, welches, stumpfsinniger als das Thier, nicht einmal so viel Muth hat oder so viel Einsicht, die Hand zu beißen, die es schlägt und die es doch nicht einmal futtert. … Lassen Sie mich (indem er, als hätte er bereits zu viel gesagt oder fürchtete noch es zu thun, die Hand flüchtig gegen den Mund preßte), lassen Sie mich hier abbrechen! Es gibt Dinge, über die (hier legte er dem Bettler die Hand feierlich auf die Schulter und sah ihm mit flammendem Blick fest ins Auge) man entweder gar nicht sprechen muß – oder aber (dies setzte er fast tonlos hinzu) erschöpfend. Für jeden Fall erlauben Sie mir, daß ich mich als Ihr Schuldner bekenne; wo und wie es sei, mit Rath und That, Sie dürfen über mich verfügen.

Bei dieser, mit etwas mehr Pathos, als nöthig war, hervorgebrachten Erklärung blickte der Bettler endlich aus seinem Nachsinnen in die Höhe. Er fixirte den Fremden lange und brach dann wiederum in ein fast wahnsinniges Gelächter aus.

»Wär' alles Leben von Athen in Diesem«, rief er, »so äß' ich's!«

Mit diesem Citat aus Shakespeare's Timon, ohne eine Einladung seines neuen Freundes abzuwarten, indem er nur gegen den Hund eine hämische Verbeugung machte, warf er sich auf die Reste des Mahls und schlang sie, mit entsetzlicher Gefräßigkeit, hinunter.


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