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Die Überwinterung.

Briper Roads.– Herannahen des Witters.– Vorbereitungen für denselben.– Observatorien.– Sonnenuntergang.– Schneestürme.– Zunehmende Dicke des Eises.– Selten Schneefälle.– Polarlichter – Das Leben im Schiff.– Auf Deck.– Weihnachten.– Wiederkehr der Sonne.– Kälte.

 

Lange Zeit hat man die Ueberwinterung in den unwirklichen Regionen der Polarländer, wenn nicht gar als tödtlich, so doch als der Gesundheit von Europäern äußerst nachtheilig angesehen. Allerdings waren auch die ersten Versuche dieser Art nicht geeignet, die herrschenden Vorurtheile zu zerstreuen. Dennoch wurden solche Versuche beständig erneuert, oft mit der unzulänglichsten Ausrüstung. Mehrmals sahen von ihren Schiffen getrennte Matrosen sich genöthigt, ohne alle Hilfsmittel auf Spitzbergen zu überwintern. Erst in unserm Jahrhundert führten die gesammelten Erfahrungen und die Erweiterung unserer Mittel zu einer von Parry 1819 begonnenen Reihe arktischer Überwinterungen, welche die übertriebenen Befürchtungen bei geeigneter Ausrüstung auf das richtige Maß zurückführten. Die von unsern Vorgängern gemachten Wahrnehmungen und Vorsichtsmaßregeln dienten auch uns zur Richtschnur.

Die klimatischen Verhältnisse der ostgrönländischen Küste, namentlich jene des Winters, waren uns so gut wie unbekannt; niemals hatte an derselben innerhalb des Polarkreises eine Ueberwinterung stattgefunden. Dove's Isothermenkarte der Nordpolarländer gab der Breite unseres Winterhafens die mittlere Jahrestemperatur von -8° R.; die durch ein ganzes Jahr fortgesetzten Beobachtungen der Expedition haben -9,34° R. nachgewiesen.

Die beobachteten Temperaturen waren:

Jahr Monat
      Absolutes
    Mittlere Temperatur Maximum Minimum
1869 August +0°54 + 9°2 - 4°9
September -3°46 + 4°0 - 9°4
October -11°06 - 3°5 -18°2
November -14°66 - 7°3 -20°3
December -13°71 - 2°3 -22°2
1870 Jänner -19°32 - 5°8 -26°9
Februar -19°05 - 8°2 -32°2
März -18°66 -10°2 -27°2
April -13°21 - 0°7 -25°2
Mai - 4°34 + 3°9 -14°8
Juni + 1°81 + 6°4 - 3°0
Juli + 3°04 +10°5 - 1°0

Dieser Winterhafen der »Germania« war von Sabine und Clavering 1823 während ihres Aufenthaltes in Grönland zum Zweck von Pendelbeobachtungen benutzt und nebst der angrenzenden Einfahrt Griper Roads genannt worden. Ihre südwestliche Landspitze liegt unter 74° 32' 20" nördl. B. und 18° 49' westl. L.

Der Sommer war zu Ende, – sein Ausgang wies die Temperatur eines mäßigen europäischen Winters, – mit seinem Scheiden erhielt die Physiognomie unserer Umgebung den feierlichen Ernst, welcher arktische Länder auszeichnet. Tief und tiefer sank die Sonne, das Tageslicht ermattete, die Temperatur fiel; die Felsküsten umgab ein Saum zerbrochenen Eises, gleich einer erstarrten Brandung. In langen Reihen waren die Vögel nach Süden, Walrosse und Seehunde nach dem äußern Küsteneis abgezogen, die Pflanzenwelt erstorben; am 20. September erstarrte auch das letzte Rinnsal auf der Sabine-Insel, die Einöde unserer Umgebung harrte wieder der winterlichen Hülle. Am 22. September war das Schiff bereits von einer festen Decke jungen Eises umgeben. Nur der Himmel war noch wochenlang von völliger Klarheit; selten daß Schneeschauer und Stürme das Annahen des Winters verkündeten. Die Vorbereitungen für die lange Polarnacht wurden beendet. Die Tackelung wurde nachgelassen, damit sie der durch wechselnde Temperaturen verursachten Längenänderung ihrer Bestandtheile entspreche. Raaen und Segel wurden abgenommen, das Schiff vom »laufenden Tauwerk« befreit und in einem durch das Eis gesägten Canal noch weiter in die Bai hineingeholt. Vom nächsten Strand war es nur noch 250 Schritte entfernt, es ruhte in zehn Fuß Wasser. Dieses tiefe Eindringen in die Bai, welche während des Winters meist bis auf den Grund ausfror, sicherte uns vor den, das äußere Eis zertrümmernden Winterstürmen. Ein größeres, tiefer gehendes Schiff, als das unsere, wäre dieses Vorteiles verlustig, wahrscheinlich vernichtet worden. Gleichzeitig ward die Maschine auseinander genommen. Nun wurde das Deck mit einem aus dem stärksten Segeltuch gefertigten, durch eichene Pfosten gestützten Zelt dachartig überspannt, mit einer fußhohen Schichte mühsam gesammelten Mooses und mit einer weitern Schicht Schnees überlegt, die später durch hereingewehte Schneemassen beträchtlich zunahm und backsteinähnlich erhärtete. Rings, dicht um das Schiff, wurden ausgesägte, zwei Fuß dicke Eisblöcke, Pallisaden gleich, aufgestellt. Die Stürme umgaben sie und den Schiffsleib nach und nach mit einer hohen massiven Brustwehr von Schnee, Zwölf Fuß dicker Schnee, und sieben Fuß dickes Eis widerstehen der Kälte gleich gut. über welche nur die Masten hervorragten. Der Zweck dieser Einrichtung, sowie der Bau eines sechs Schritt langen Schneetunnels vor der Oeffnung des Treppenhauses auf Deck galt der Erhaltung der Wärme im Schiff. Diese Maßregeln, entlehnt den Erfahrungen unserer Vorgänger, bewiesen sich außerordentlich zweckmäßig.

Sowohl um Raum im Schiffe zu gewinnen, als auch um das Einlaufen in unsern seichten Hafen zu ermöglichen, waren schon vorher der Theil des Proviants, dem der Frost nichts anhaben konnte, die 1500 Faden lange Lothleine, sonstiges Tauwerk, die drei Boote (darunter das fünf Tons tragende Rettungsboot), außerdem Fässer, Pulver, Riemen, Raaen, Spieren, Schiffsgeräthe aller Art ans Land geschafft und daselbst, thunlichst gesichert vor Eisbären, deponirt worden. Am nächst gelegenen Strande wurden zwei Observatorien, das eine für astronomische, das andere für magnetische Zwecke, roh aus den schon angefrornen Steinen erbaut, und vom Schiffe aus eine Reihe Eisblöcke, mittelst eines Taues geländerartig verbunden, aufgestellt, um den Weg dahin auch während Schneetreibens nicht zu verfehlen. Mancher erfror bei diesen Arbeiten die Finger. Gleichzeitig reformirte der Zimmermann Theile der innern Structur des Schiffes. Die Cajüte wurde etwas erweitert, so daß ihre Sohle 12½ Fuß Breite und 13 Fuß Länge erhielt, welcher Raum zum Theil von einem riesigen Arbeits- und Mittagstisch, dem großen Mast, dem Ofen, Er war von so trefflicher Construction, daß er bei hinreichender Erwärmung der Cajüte nur wenig Kohlen bedurfte. Einschließlich des Bedarfes in der Küche kamen wir, selbst während der größten Kälte, mit 70 Pfund Kohlen täglich aus. Unter dem Tisch stand die umfangreiche Medicamentenkiste. sechs Koffern, die das Privatgepäck enthielten, und einer Art Sofa eingenommen wurde, und im Uebrigen sieben Menschen: Börgen, Copeland, Pansch, Tramnitz, Krauschner, dem Bootsmann und mir als Wohn- und Schlafzimmer diente. Von Bequemlichkeit konnte wol keine Rede sein; wenn man aufstand, stieß man mit dem Kopf an die Deckbalken. An den Wänden längsschiff befanden sich je vier Kojen als Schlafstellen, je zwei übereinander. Doch so beengt diese Räume auch waren, sie boten doch eine wohnliche Heimat, und welche Wohlthat gewährten sie rückkehrenden Schlittenreisenden! Capitän Koldewey, ununterbrochen besorgt um das Wohl der kleinen Gemeinde, ebenso Sengstacke bewohnten einen mit der Cajüte communicirenden Verschlag; das Mannschaftszimmer, das, zugleich die Küche, acht Seeleuten zum Aufenthalte diente, war von der Cajüte nur durch eine Thür getrennt.

Mehr und mehr wurde unsere Umgebung schweigsam und ernst. Am 13. October ging die Sonne schon um 3¾ Uhr Nachmittags hinter dem 3500 Fuß hohen Sattelberg unter. Woche für Woche steigerte sich der Frost um einige Grad; selten zeigte sich ein Bär oder ein weißer Fuchs, der Boden wurde felsenhart, rings um uns herrschte die Stille der Einsamkeit. Doch blieb das Wetter noch herrlich; die Luft war so trocken, daß man trotz der Kälte den Athem nicht wahrnahm, in der Kajüte war häufig das Gegentheil der Fall. Eine Glatteisfläche überdeckte die Wasserfläche der Fjorde und der äußern Küste und bot eine wohlbenützte Gelegenheit zum Schlittschuhlaufen. Die Zerstörung der Bahn durch Stürme glich der Frost bald wieder aus. Die Erbauung der Observatorien und geologische Excursionen füllten die Zeit aus. Auf der Rückkehr von einem solchen Ausfluge brachte uns einmal ein starker Südwind, gegen welchen wir schlittschuhlaufend bei -16° R. ankämpften, dem Erfrieren nahe. Am 4. November waren wir von unserer letzten Herbstschlittenreise zurückgekehrt. Tags darauf wurden Pflöcke in einer Reihe quer über der Längenaxe eines Gletscherembryos nahe dem Hafen eingeschlagen, bis zum Frühjahr hofften wir die Fortbewegung des Eisfeldes zu messen. Leider führte die Ungunst besonderer Umstände zu einem zweifelhaften Resultate.

Bärenjagd im Winterhafen.

Am 6. November ging die Sonne für volle drei Monate unter; doch gewahrte man noch am 11. November von einem 1000 Fuß hohen Standpunkt aus, dicht am Horizont, eine strahlenlose, ovale, der Gluth einer Kohle vergleichbare Lichterscheinung von scharfer Begrenzung, welche man im ersten Augenblick für die Sonne Ein anderes Mal beobachteten wir eine interessante Refractionserscheinung des Mondes. Derselbe war über der eisbedeckten Meeresoberfläche aufgegangen, vermochte sich jedoch scheinbar nicht von ihr zu trennen, so daß er, die Form eines Bechers annehmend, auf ihr zu stehen schien. ansehen konnte. Aber sowohl ihre Declination, als auch die Annahme der günstigsten Bedingungen der Strahlenbrechung Größer als je scheint sie durch Barentz beobachtet worden zu sein. In 76° nördl. B. überwinternd, sollte er die Sonne mit Rücksicht auf die astronomische Strahlenbrechung am 1. November (1596) verschwinden sehen, am 6. Februar wieder erscheinen. Allein die Sonne ging im »Eishafen« erst am 4. November unter und schon am 24. Januar auf. Die beobachteten Thatsachen ergeben also ein scheinbares Abweichen von 1° und 3¾° in der Declination der Sonne, so wie von 13 Tagen in der Zeit. sprachen dagegen. Unsere einzige äußere Wärmequelle war jetzt die Ausstrahlung des Wassers. Die Kälte, in der ersten Hälfte des November stetig zunehmend, erreichte -20,3° R. Noch brach in den Vormittagsstunden der nächsten Wochen ein Orange- oder Dunkelroth, das gegen Mittag an Stärke zunahm, durch den leicht bewölkten Himmel. Die Spiegelflächen der Eisbahn glitzerten noch in gedämpftem Licht; die dem Süden abgewandten Berghänge aber beherrschte bereits ein alle Details verlöschender graublauer Ton. Gleichzeitig mit dem Verschwinden der Sonne traten grauenvolle Schneestürme ein, welche im Verein mit der Dunkelheit unsere Thätigkeit im Freien beschränkten und unsern eigenen Winterschlaf herbeiführten. Auch die Eisbären ließen sich nicht mehr blicken.

Die »Germania« im Winterhafen.

Die Schneestürme hielten bis Anfang Mai an, wütheten oft drei Tage lang mit ununterbrochener Heftigkeit, ließen die Festigkeit jedes Gegenstandes bezweifeln und machten das Schiff in seiner eisigen Umhüllung erbeben. Sie kamen stets aus Nord; es schien, als sei die geringere Veränderlichkeit der Windrichtung zum Theil durch das Verschwinden der Sonne herbeigeführt worden. Die Verbreitung dieser Stürme mußte ungemein groß sein, ungleich den Erscheinungen des Sommers, wo sie, namentlich unter Land, wechselvoll und als benachbarte Gegensätze auftraten. Durch das Zeltdach drang die Schneefluth wie durch ein Sieb und lagerte sich auf Deck in fußhohen, die Communication absperrenden Schneewehen; die Masten knarrten, wie die sturmbewegten Bäume des Hochwaldes, in hastig gleichmäßigem Takte klapperten an denselben lose Tauenden, der ächzende Schiffsleib zitterte im Kampfe mit den heulenden Böen, welche in der Cajüte Aneroïdschwankungen bis zu 10 Millimeter herbeiführten.

Das Eis, in welchem das Schiff regungslos eingebettet lag, hatte am 28. September An diesem Tage fror mir das erwärmte Wasser bei einem Versuche, das Schiff zu malen, sofort ein; der Pinsel, aus dem Wasser gezogen, wurde augenblicklich zu einem Eisklumpen. 7 Zoll Stärke besessen, am 11. October betrug dieselbe 16 Zoll, am 10. November 31, am 20. Jänner erreichte sie 53 Zoll, in der zweiten Hälfte Februar 57 Zoll, endlich 7 Fuß. Demungeachtet rissen Winterstürme die Eisdecke bis an 300 Schritt vom Schiffe auf, so daß wir der Gefahr, hinauszutreiben und zu zerschellen, durch eine, wenngleich ohnmächtige Maßregel vorzubeugen suchten, indem wir starke Manilla-Taue und Eisanker im Innern der Bai am Lande radial befestigten. Zuletzt fror die Bai bis auf den Grund aus, nur zum Kiel drang noch Wasser; – in dieser mächtigen, langsam abnehmenden Hülle lagen wir 10 Monate fest. Das Aufbrechen der Eisfelder An der Außenküste setzt das Eis beim Eintritt des Herbstes an das Land heran, das Küstenwasser verschwindet. Im Winter treibt das Eis beständig nach Süd, Nordstürme beschleunigen die Wanderung der Eisfelder, ihre Pressungen verursachen ein weithin hörbares Geräusch. Zuletzt trat der Sturm auch in unserm Winterhafen auf, sein Toben verschlang Alles, was vordem hörbar war. war stets von dichtem »Frostdampf« begleitet, welchen das offene Wasser in der eisigen Luft erzeugte. Die Temperatur des Wassers bildete übrigens eine unversiegbare Wärmequelle; nirgends kann im Winter ihr mildernder Einfluß auf die Umgebung größer sein, als im hohen Norden. Das durch Bohrlöcher im Eise emporquellende Wasser zeigte durch den ganzen Winter keine geringere Temperatur, als etwa 1-2° R. unter Null, obgleich dasselbe der unmittelbar, unter dem Eise liegenden Schichte angehörte. Damit übereinstimmend waren die Beobachtungen der österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition. Am 8. Mai 1874 zum Beispiel betrug die Wassertemperatur dicht unter dem Eise -2° C. In 150 Meter Tiefe belief sie sich auf -1,7° C. und in 210 Meter Tiefe, am Meeresgrunde -1° C. Wir befanden uns damals nahe südlich der Wilczek-Insel. Steigen oder Fallen dieser Temperatur, innerhalb der angegebenen Grenze, war von zunehmender Kälte oder vom Heransetzen des äußeren Packeisstromes abhängig. Den zahlreichen Stürmen im November und December war es ausschließlich zu danken, daß die Kälte nicht in der anfänglich rapiden Weise wuchs; ja, zu Weihnachten nahm dieselbe, wenngleich nur für Stunden, auffällig ab. Während der ersten Periode des Winters gehörten Schneefälle bei ruhigem Wetter zu den Seltenheiten, traten sie ein, so überraschten sie uns gewissermaßen. Die späteren Stürme dagegen, brachten bald ungeheure, rasch zu einer harten Masse sich verdichtende Schneefluthen, bald fegten sie unsere Umgebung völlig kahl, so daß deren Physiognomie sich beständig änderte.

Die Monotonie des Winterlebens unter dem Polarkreise erfährt keine interessantere Unterbrechung, als die durch die Polarlichter, welche wir so häufig zu beobachten Gelegenheit hatten, und deren spectral-analytische Untersuchung zu den Aufgaben unserer Astronomen gehörte. Diese Polarlichter, mit ihren scheinbar convergirenden, flammenartig gewundenen, rasch aufschießenden, unausgesetzt beweglichen Strahlen von gelber, grünlicher oder lichtrother Farbe, erblickten wir meist in südöstlicher Richtung; oft nahmen sie einen großen Theil des Horizonts ein, vermochten indeß die herrschende Dunkelheit nur in seltenen Fällen erheblich zu erhellen. Weit intensiver war das Licht des wochenlang am Horizont verweilenden Mondes; leider entzogen die Gebirge uns oft seinen Anblick. Die Spectralbeobachtung der Nordlichter ergab eine helle grünlich-gelbe Linie, deren genaue Lage unbestimmbar blieb. Sehr ungleich erwies sich der Einfluß der Polarlichter auf die Magnetnadel. Es geschah, daß sie während sehr heller Nordlichter sich indifferent verhielt, während sie in andern Fällen plötzlich bedeutende Störungen bis zu 2 Grad nachwies. Die Wolkenbedeckung des Himmels verhinderte es häufig, die Gleichzeitigkeit dieser Erscheinung mit der eines Nordlichts zu constatiren. Die wiederholte Bestimmung der magnetischen Constanten durch Börgen und Copeland ergab für Inclination, Intensität und Declination Werthe, welche der Gaus'schen Berechnung sehr nahe kommen; die erstere betrug für den Winterhafen 79° 50', die letztere 45° West.

Werfen wir nun einen Blick in das Innere des Schiffs. Die Thätigkeit darin ist jetzt auf den stündlichen meteorologischen Beobachtungsdienst, Ablesen der am Lande aufgestellten Thermometer, des Barometers in der Cajüte des Fluthapparats am Schiffe; ausgeführt durch Koldewey, Börgen, Copeland und Ellinger. auf das Abräumen und Reinigen des Decks von hereingewehten Schneemassen, auf das stündliche Aufhacken eines Lochs im Eise, Dasselbe diente sowohl zur Beobachtung der Gezeiten, als auch dazu, um im Falle einer Feuersgefahr sofort Wasser schöpfen zu können. die Herbeischaffung des für den Tagesbedarf zu schmelzenden Schnees u. dgl. beschränkt. Vorzugsweise wird die allgemeine Aufmerksamkeit durch die Ausrüstung für die Frühjahrsschlittenreisen in Anspruch genommen. Der Eine fertigt Segeltuchstiefel an, der Andere einen Seehundsrock, oder er besetzt Strümpfe mit Flanellsohlen, erzeugt aus Kautschuk Schneebrillen (nach Art der Eskimo's), durch die man mittelst einer feinen Ritze sieht. Wieder Andere nähen Zelte, Schlafsäcke, fertigen Kochmaschinen an, aus der letzten Eichenplanke einen neuen Schlitten, oder sehen nach ihren dick verrosteten Gewehren. Da wird gesägt, gefeilt, geschneidert und geschmiedet; unmittelbar neben der Sorge für materielle Bedürfnisse werden wissenschaftliche Ergebnisse in Sicherheit gebracht, man rechnet, zeichnet, zieht Vögel oder Füchse ab, ordnet und verpackt Mineralien, oder schreibt Artikel für die »Polar-Zeitung«. Alles dies geschieht fast um einen einzigen Tisch, gewöhnlich auch im Lichtkreis einer einzigen Lampe. Oelmangel erlaubte nur zeitweilig eine zweite Lampe zu benutzen. Die große Sterblichkeit der Glascylinder führte dahin, daß, nachdem uns der letzte, ohnedies wiederholt mit Blech und Draht geflickt, verlassen hatte, der petroleumgetränkte Docht roth und qualmig brannte. Auf dem Ofen steht ein großer Blechkessel mit Schnee, verschiedene Gegenstände harren hier dem Aufthauen entgegen, oder es hängen an ihm mit raffinirter Ausnutzung seiner Peripherie: durchnäßte Kleider, Matratzen, Strümpfe, Stiefel, Pelzwerk; am Mast hängen einige Schneehühner, auf das Anwachsen ihrer Zahl wartend, um zur Sättigung Aller sich berechtigt zu fühlen. Aus dem viel zu geräumigen Winkel neben dem Mast ragt der beständig wachsende Leib einer Diluvial-Moräne in die so beengte Gegenwart herein. Er wird gebildet durch Kisten, die sich nicht anderswo aufbewahren ließen, durch Instrumente, Blendlaternen, Felle, Stative, Bälge, Gewehre, Kleider, Werkzeuge, Stiefel, Wäsche etc. Wenn Einige zur Koje gehen, errichten sie neue Barrikaden durch die ausgezogenen Kleider. Selbst in den Kojen trifft man erratische Ansammlungen; Vogelbälge, Mützen, Hämmer, Wäsche, Patronen, Bücher, Schuhe, Steine, Tabak, Pelzhandschuhe, kleine Kisten u. dgl. können unmöglich zu dem Inventar eines Bettes gezählt werden. Ueber alle Vorstellung beengt war namentlich die Mannschaft in ihrem »Logis«. Wärme und Raum zu sparen, befand sich auch die Küche in demselben, und den Templern gleich, zwei auf einem Pferde, lagen je zwei Matrosen in einer Koje.

Für Augenblicke betritt man das Deck, um frische Luft zu schöpfen. »Im arktischen Winter Tagebuchauszug. wird aus jedem Schiff ein fensterloses Blockhaus. Gehen wir auf Deck! Die Cajütenthür ist geschlossen; hat man die Stiege passirt, so befindet man sich in einem längsschiff führenden, sechs Schritt langen Schneetunnel, dessen Boden mit Bären- und Moschusochsenfellen belegt ist. Selbst wenn man gebückt geht, berührt man die Decke dieses Tunnels; er gleicht den niedrigen Stollen, welche in das Innere der Eskimo-Hütten führen, auf ein Haar. Der Zweck dieses, durch einen Segeltuchvorhang abgesperrten Vorbaues besteht darin, den Andrang der Kälte nach den untern Räumen zu vermindern. Seine Festigkeit ist höchst zweifelhaft, kleine Lawinen drohen in seinem Innern herabzufallen. Wir stehen auf Deck. Völlige Finsterniß umgibt uns, denn das Schiff ist mit einem starken Segeltuchzelt dachartig überspannt, dessen einzige kleine Oeffnung zugleich die einzige Lichtquelle ist; die Tage der Decklaterne sind empfindlichen Oelmangels halber längst vorüber. Aller Verkehr mit der Außenwelt findet durch dieses Loch statt; tiefe Dämmerung dringt in die allernächste Umgebung, und doch ist es Mittag! Will man den rechten Fuß von dem linken durch das Auge unterscheiden, so muß man dicht an die besagte Oeffnung herantreten. Bei schlechtem Wetter gibt es keinen anderen Promenadeplatz, als diese Stelle auf Deck und auch diese bietet nur sechs Schritt Raum zur Bewegung.«

»Außerhalb des Schiffes rast ein Schneesturm, etwas Grauenhaftes in diesen Einöden; eine Schneefluth braust vorbei, in der man absolut nichts sehen kann. Der Sturm vermöchte Wälder umzublasen, Menschen gleich einer Feder fortzuschleudern. Das Schiff bebt und ächzt, die Rauchfänge rasseln und wecken den schwer verhaltenen Groll des Kochs; das Zeltdach ist windgeschwollen wie ein Sturmsegel, durch das Gewebe fällt eisiger Schneestaub und bildet mit den zur Zeltöffnung hereindringenden Massen auf Deck täglich neue, knietiefe Schneewehen. Unten in der Cajüte macht das Getöse des Sturmes den Eindruck, als zöge ein Continent auf einer stark ausgefahrnen Bahn im Schnellzug vorbei. Es gibt Augenblicke, in welchen der hintere Schiffstheil von dem vordern fast abgesperrt ist. Allmälig hört die Finsterniß auf dem Auge undurchdringlich zu sein; man erkennt einzelne Gegenstände, die in »geordneter« Unordnung dastehen, oder vielmehr man erkennt sie, weil man weiß, daß sie sich hier befinden: eine unverständliche Combination von Eisenstangen, Rädern, Platten, zwischen welchen Schneewehen und flockige Gebilde nisten, – die Feldschmiede und das Maschinenhaus, dicht neben dem Zelteingang eine lichtere Masse, dem Anschein nach eine Capelle, – den aus Schneeblöcken erbauten Gewehrstand. Die Gewehre jedoch (Zündnadel-, Wänzl- Seine Excellenz, der damalige Kriegsminister Feldmarschall-Lieutenant Baron Kuhn, hatte die Güte, der Expedition 8 Jägerstutzen des System Wänzls mit 6000 Patronen zu überlassen; sie waren uns von großem Nutzen. und Lefaucheux-System, nebst verachteten Vorderladern) sind entweder verschleppt oder beschneit. Da selbst Bärenfett bei -16° R. gefriert, durften diese Waffen nie eingefettet werden. Eine andere Gruppe aufgestapelter Schneeblöcke gehört in das Departement der Küche; sie ergeben den Tagesbedarf an Schmelzwasser. Dies ist die Gegend, in der man sich bewegen darf. Dringt man unbesonnenen Schritts weiter, so setzt man sich Gefahren von mancherlei Art aus, in eine Walroßlanze, über eine Kanone zu stürzen, über eine Gruppe von Eskimo- und Bärenschädeln, oder gar in den Maschinenraum zu fallen, den Kopf am Steuer, an den Zeltstützen zu zerschellen. Die beständige Ortsveränderung von Schneeschaufeln, Eishacken, Stativen, Brettern, Thierfellen, Renthiergeweihen, Moossäcken, Proviantkisten, Fässern, Schlittschuhen, Schlittengeräth, Kübeln, Walroßzähnen, Spirituskannen, Brennholz, geleerten Blechbüchsen, Flaschen, Steigeisen, Bergstöcken etc., gibt eine Menge Hinterhalte ab. Der Schnee knirscht grimmig unter den Füßen, durch das Tackelwerk rauscht ein Flüstern bis zum wilden Anprall der Böen; die eisige Zwangsjacke preßt den Schiffsleib, so daß die Innenhölzer knacken und knarren. Der »meteorologische Beobachter« erscheint mit einer Blendlaterne; das Thermometer am großen Mast zeigt in der Regel 20 bis 30° R. unter Null, die Temperatur am Lande ist immer um 1½-2½° R. geringer. Der stündliche Gang nach dem Observatorium unterbleibt nur während des heftigsten Sturmes; sonst irrt das Licht regelmäßig vom »Fluthloch« Die Beobachtung der Gezeiten geschah daselbst mittelst einer am Heck des Schiffes befestigten Scala, welche sich an einem horizontal feststehenden Zeiger auf und nieder bewegte. Der Zeiger war das umgebogene Ende einer am Meeresgrund verankerten Eisenstange. Ein Tau an den Zeiger befestigt, lief durch eine Rolle der Heckdavits und war durch ein Gegengewicht beschwert. Das Emporsteigen und Fallen des Schiffes durch die Gezeiten gestattete ihre Messung. beim Steuer nach dem Lande«.

»Wer vom Deck herabkommt, wobei Temperaturextreme bis 50° R. im Augenblicke durchgemacht werden, gewahrt im düstern Gemach zunächst nur das mattrothe Licht der Lampe, erst allmälig auch einzelne Gegenstände. Mit diesem kläglichen Ersatz der Sonne mußten wir uns durch fast sieben Monate begnügen; erst gegen Ende April gestattete das Nachlassen der Schneestürme, die schützende Eindeckung des Schiffes und Decklichts abzunehmen. Obgleich durch einen Ventilator und zwei Condensatoren Metallkessel, welche auf Deck über zwei in die Cajüte hinabführende Oeffnungen umgekehrt aufgestellt wurden, damit die emporsteigende Feuchtigkeit darin zu Eis condensire. Vorsorge getroffen war, eine gesunde Atmosphäre in der Cajüte zu erhalten, konnten wir doch der Ueberhandnahme der Feuchtigkeit nicht steuern. In besonders lästiger Weise machte sich dies während stürmischen Wetters geltend; die Kleidung Eintretender war mit Schnee überschüttet, die beim Oeffnen der Thüre einströmende Eisluft verursachte sofort Dampfbildung oder gar Schneefall. Der Boden war naß und kalt, so daß man gern mit emporgezogenen Beinen arbeitete. In den Cojen, wie auf der Sohle der durchnäßten Matratzen setzte sich das Eis in dicken Krusten an. Das Schiff war während dieser Zeit allerlei Einflüssen ausgesetzt, die durch Temperaturänderungen, Stürme, Ebbe und Fluth u. dgl. hervorgerufen waren. Bald äußerte sich dies in anhaltend dröhnendem Platzen, Knacken und Knarren im Schiff, bald darin, daß seine Eisumhüllung zersprang; oder es geschah, daß das vom Eise getragene Fahrzeug seine Gleichgewichtslage änderte, so daß wir in der Cajüte mit einem durch 10 Grad Neigung ausgedrückten Niveau-Unterschied zu kämpfen hatten und die angesammelte Nässe stets nach derselben Richtung strebte. Der Boden durfte nie gewaschen, sondern nur mit heißem Sand abgerieben werden.«

Zu dem peinlichsten Ungemach einer arktischen Ueberwinterung gehört der unvermeidliche Verzicht auf Reinlichkeit. So sehe ich mich genöthigt, über die Farbe unserer Wäsche tiefes Schweigen zu beobachten. Da ein im September durchnäßter Gegenstand erst im nächsten Juni trocken oder eisfrei wurde, so konnte während dieser ganzen Zeit nichts gewaschen werden; das geringe, nicht einmal für das Trinkbedürfniß ausreichende Wasserquantum schränkte die Menge, welche zur persönlichen Reinigung disponibel blieb, auf das äußerste Minimum ein. Bäder gab es nicht; wir brachten es Monat für Monat höchstens zu einer Schüssel lauwarmen Wassers! Eine arktische Waschkammer mit 10° R. unter Null sieht einer Eishöhle nicht unähnlich. Vor uns stehen angefrorne Gläser, Schüsseln mit vereisten Tümpeln grauen Schmelzwassers; von den dicht mit Eis bekrusteten Wänden hängen tropfsteinähnliche Bildungen herab, in jedem Winkel nisten gefrorene Stiefel, Geschirre, Oelkleider, Gewehre etc.

Geradezu drückend wirkt die Einförmigkeit der Existenz und das lange Warten auf die Sonne. Sieben Monate lang beleuchtete eine Lampe unsern Winterschlaf; ein schweigsames Trappistenkloster war unsere Welt, Eintracht die Ordensregel. Ein Büßerkleid aus Seehundsfell war das äußere Zeichen des Gelübdes der Armuth. In der That glich diese gänzliche Absperrung von der übrigen Menschheit einem Verbannungsleben im Monde. Parry sagt bei der Schilderung seiner Ueberwinterung auf der Melville-Insel: »So groß war der Mangel an Gegenständen, die dem Auge Erholung, oder dem Gemüth Beschäftigung geben konnten, daß ein Stein, der etwas mehr als gewöhnlich über den Schnee in der Richtung, in die wir gingen, hervorragte, sogleich ein Punkt wurde, auf den wir unbewußt unsere Augen richteten, und auf den wir mechanisch zugingen.« Diese Seite ist es namentlich, welche den Beruf des Polarfahrers schwerer erträglich macht, als den des Afrikareisenden. Er verbringt nicht wie dieser seine Tage bald in Gesellschaft schwarzer Könige, preisgegeben oder begünstigt durch ihre unberechenbaren Launen, durch die Unersättlichkeit ihrer räuberischen Unterthanen zum Bettler oder Gefangenen verwandelt, unter Gefahren und Noth, stets aber im raschen Wechsel von Natur und Menschen. Vollständiges Aufgeben seiner Individualität ist daher ein unerläßliches Opfer, das der Polarfahrer der Erreichung seiner Zwecke bringen muß. Die Sache, der er sich gewidmet, duldet keinen Parteistandpunkt, noch viel weniger besondere Ansichten über Geschmack oder Bequemlichkeit. Alle Unebenheiten des Geistes, Gemüthes oder Magens werden durch die reizlose Kost der Conserven, welche sein Blut auslaugt, auf das Niveau stoischer Apathie herab nivellirt. Er wird sanftmüthig, behält die Fassung bei der täglichen Wiederkehr der Tischgespräche, schon längst geschilderte Abenteuer betreffend, welche der Mangel an Neuem nicht auszurotten vermag. Seine Gedanken sind frei von den Schlacken irdischer Wünsche; sein Selbstbewußtsein wird endlich im Interesse des Friedens unter einem Berge wechselseitiger Rücksichten verscharrt. Woche für Woche sitzt eine Gruppe blasser Menschen, deren Sehkraft der ununterbrochene Lampenschein angreift, um den gemeinsamen Tisch. Abspannung und Schlafsucht weit über das Bedürfniß sprechen aus ihren Zügen. Rauchen, aus Rücksicht gegen Nichtraucher ohnedies nur Nachmittags gestattet, und Schachspiel haben ihren Reiz verloren. Nachts dringt ein Aechzen und Stöhnen aus den Cojen, als hätten die Inwohner schwere Lasten fortzuwälzen; an dem unkenntlich gewordenen »Tage« wächst die Zahl der »auf die Sonne Wartenden«, d. h. der auf den Kisten herumliegenden Schläfer. Ich gestehe es ohne Rückhalt, daß wir uns diesem »Warten« zu sehr überließen. Auch unsere Phantasie war gelähmt; die anregendste Lectüre besaß für uns den Ernst und die Schwermuth einer Legende. Unser Appetit hatte abgenommen, das köstlichste Gericht: gekochte Füchse oder das Herz des Walrosses, verglichen Undankbare mit der keuschen Mahlzeit Johannes des Täufers in der Wüste, oder derjenigen »irrender Ritter«. Inzwischen hat der allmälige Verbrauch des Mitgebrachten es herbeigeführt, daß der Mehrbesitz sonst geringfügiger Gegenstände dem glücklichen Inhaber ein gewisses Uebergewicht verleiht. Ein Bleistift, ein Stück Leder, ein Paar wollene Strümpfe reichen dazu vollkommen aus; ein langer Stock oder gar ein Paar Bergschuhe sind ganz unschätzbar.

Trotz der mannigfachen, dem im hohen Norden überwinternden Europäer so feindseligen Einflüssen des Klimas ließ der Gesundheitszustand an Bord der »Germania« nichts zu wünschen übrig. Ohne Zweifel hatten wir dies nicht nur allein der körperlichen Eignung unserer Mannschaft für Strapazen zu danken, sondern auch der Vortrefflichkeit unseres Proviants und des reichen Zuschusses an frischem Fleisch, Daß dies allein nicht hinreiche, den Scorbut fern zu halten, zeigte unter Anderm die österreichisch-ungarische Nordpol-Expedition 1872-74,ebenso Parry's Ueberwinterung auf der Melville-Insel. Binnen einem Jahre erbeuteten seine Leute daselbst 3 Moschusochsen, 24 Renthiere, 68 Hasen, 53 Gänse, 59 Enten, 144 Schneehühner, zusammen etwa 3800 Pfd. Fleisch; dennoch wurden einige von der Mannschaft scorbutkrank. welchen die Jagd gewährte. Eigentliche Krankheitsfälle kamen, mit Ausnahme zweier Verwundungen, fast niemals vor. Von Scorbut zeigten sich keinerlei Symptome; unser überaus großer Vorrath an Limoniensaft gestattete uns durch täglichen Genuß desselben seinem Auftreten vorzubeugen. Zu diesen glücklichen Verhältnissen einer überwinternden Gesellschaft kam noch die Sicherheit unserer Lage, herbeigeführt durch den Besitz eines Winterhafens.

Der 21. December war endlich da; wir sahen der Wiederkehr der Sonne entgegen, dem Mittelpunkt aller Erinnerungen und Erwartungen. Für den Neuling hat die Stille des arktischen Winters etwas Unheimliches; die ewigen Schatten belasten das Gemüth. Alle Töne der Schöpfung sind erloschen, das Rauschen von Bächen verklungen, die Stimme der Vögel, das Gebrüll des Walrosses, das Gebell des Fuchses, die Brandung der Wogen verstummt. Der Wasserfall ist an der kalten Felswand erstarrt, das Pflanzenleben unter der Schneelast begraben. Kein Sonnenblick färbt die Höhen, die schimmernden Eiskolosse, vergoldet die Spiegelfläche des Meeres. Ein weites Leichentuch umhüllt die Glieder der Natur. Darüber lastet eisige Nacht, die Sterne senden lebhaft zitternd ihr kaltes Licht herab auf die bleichen Schneehänge. Düster ragt die Felsenstirn des Kammes in die Nacht empor; Schneeflocken gleiten in geräuschloser Monotonie herab auf die stumme kalte Erde, auf die Eisdecke, welche das Schiff gefesselt hält. Das Zeltdach ist schneebelastet, Masten und Raaen strecken ihre schwarzen Glieder gegen den Himmel; an den Tauen haftet der Frost in zarten krystallenen Geweben, das Steuer ist unter Eisblöcken vergraben.

Noch lange währte es bis zur Wiederkehr des Lichts. Die Sonne stand Mittags 8° unter dem Horizont. Monotone, grauviolette Schneewüsten dehnten sich nach allen Richtungen aus; das Schiff erschien auf 100 Schritt als gleichmäßig dunkle Masse. Schneezelt, Masten, Rumpf unterschieden sich nicht mehr durch die Farbe; nur die stärksten Taue der Tackelung waren erkennbar. Auf wenige Schritte konnte eine 2½ Zoll starke, im Schnee liegende Ankerkette mit einem Tau verwechselt werden. Die Basaltsäulengruppen des Strandes waren auf 20 Schritte nur schwach wahrzunehmen. Mittags wurde jedoch das Zwielicht Es war, der geringen Polhöhe unserer Ueberwinterung entsprechend, minder düster, als an den kürzesten Tagen, welche die österreichisch-ungarische Expedition im Süden des Franz Joseph-Landes verbrachte. Drei Zoll vom Auge entfernt, ließ sich in Naumann's Geologie selbst kleiner Druck mit einiger Mühe lesen. einer tiefen Dämmerung von einem matten Rosa unterbrochen, welches am Saume des südlichen Horizonts, gleich einer Verheißung der Sonnenwiederkehr, emportauchte, und in dessen zarten Hauch die isolirte Felswand der Walroßinsel düster hineinragte. Ein viele Meilen breiter Packeisgürtel erstreckte sich gegen Ost; zwischen seinen sich pressenden Gliedern stieg, den Rauchwolken eines Brandes nicht unähnlich, der Frostdampf in die dunkle Nacht auf. Werden diese bleifarbigen Klippen, zwischen welche während eines Wintersturmes zu gerathen, unfehlbaren Untergang bedeuten würde, im gewünschten Augenblick sich wieder öffnen? Welches Schicksal wurde unserm, seit einem halben Jahre verschollenen Begleitschiff, der »Hansa«? Wer von uns hätte geahnt, daß ihre Besatzung nun schon den dritten Monat schiffbrüchig auf einer Eisscholle dahintrieb!

Neujahr 1870.

Weihnachten kam; ein Christbaum aus hölzernen Sprossen und angesäumten Moosen ward als freundliches Zeichen unserer Erinnerung an die Heimath aufgerichtet; Rheinwein vertrat die Stelle grauen Schmelzwassers, Einige tanzten sogar auf dem Eise. Dagegen finde ich in meinem Tagebuche bald darauf reactionsähnliche Symptome verzeichnet: 25. December. Alles in den Kojen, zu den Mahlzeiten schwacher Andrang. 26. Jedermann schläft, zum Essen muß stets neu geweckt werden. 27. Die Schlafsucht ist schwer abzuschütteln. Mittags versuchte ich das Schiff zu zeichnen; eine Laterne beschien das Papier, ein Gewehr lag gespannt am Boden. 1. Januar. Während eines prächtigen Nordlichts umzogen wir beim Beginn des neuen Jahres das Schiff mit Fackeln. 5. Januar. Magnetischer Termintag, sehr intensives Nordlicht, heftige Schwankungen der Magnetnadel. In den Observatorien am Lande kann, da wir keine kupfernen Oefen besitzen, nicht geheizt werden. Der nach je zwei Stunden abgelöste Beobachter leidet empfindlich durch Kälte. Gegen Bärenüberfälle dient ihm ein in der Ecke liegender Revolver, dessen Localattraction bestimmt ist. Wenn Wagner, der Schmied, sich außerhalb nähert, wird die Nadel unruhiger, als bei einem Nordlicht; denn er führt stets mehrere Pfund Eisen bei sich und besteht darauf, daß man alle seine Messer sehe. 10. Januar. Heute wurde der Maschinist durch unsere Intervention von der Gesellschaft eines Bären befreit. Diese Thiere scheinen den Winterschlaf schon beendet zu haben, vorausgesetzt, daß sie überhaupt schlafen. 11. Januar. Feuer im Schiffe. Es entstand im Achtertheil der »Germania«, in der unbewohnten Cajüte, ergriff die Deckbalken und inneren Verschalungen. Brandgeruch erfüllte die Schiffsräume und führte uns auf Deck, dichter Rauch lag unter dem Zelte; kaum konnten wir athmen, fast erloschen die Lampen. Wir durchschnitten das Zelt, entdeckten die Feuerstelle, und den vereinten Anstrengungen, Wasser aus dem Fluthloche herbeizuschaffen, gelang es, einer Katastrophe von unberechenbarem Ausgang vorzubeugen. Ströme Wassers flossen in die zu einer raucherfüllten Hölle verwandelten Cajüte. Eine halbe Stunde später entdeckt, hätte das Feuer die Kohlen ergriffen. 13. Januar. Die Dämmerung ist jetzt schon Vormittags bemerkbar, in jener hellen undefinirbaren Farbe, welche ebensowohl roth, als gelb oder grün genannt werden kann. Klentzer wurde durch unsere Hilfe von einem Bären befreit. 20. Januar. Schwache Nebenmonde. 31. Januar. Die Dämmerung ist schon um 6 Uhr Morgens bemerkbar 1. Februar. Endlich ist unsere Umgebung aus ihrer bleifarbigen Monotonie erwacht; der Widerschein eines zarten Roths erwärmt wieder die Schneefelder, blaue Schatten geben den Dingen die Plastik zurück.

Nach der Berechnung unserer Astronomen sollte die Sonne am 3. Februar den Scheitel des fast 1000 Fuß hohen Germania-Berges nächst unserem Hafen zum ersten Male wieder erleuchten. So zogen wir dahin, den ersten Sonnenstrahl nach dreimonatlicher Nacht um einen Tag früher zu bewillkommnen, als dies für den Horizont des Schiffes möglich war. Von der Höhe des Berges aus gewahrten wir nach Ost und Süd eine das Meer gleichmäßig bedeckende Eismasse. Am folgenden Tag erreichte das Sonnenlicht die Ebene des Eises. Es war das Gefühl der Erlösung, als das sehnsüchtig erwartete Gestirn über die Eishöcker blitzend emporstieg. Ging es auch gleich wieder unter, so trat mit der Wiederkehr des Lichts doch ein regeres Leben an Bord ein. Erweiterte Jagdausflüge fanden statt; namentlich hatten die auf den Eisflössen schlafenden Walrosse viel zu leiden. Es wurden Versuche über die Fortpflanzung des Schalles gemacht, die Vorbereitungen für die große Frühjahrsreise nach Nord beendet. Da die Declination der Sonne um das Frühlings Aequinoctium sich rasch ändert, so hatten wir schon am 10. Februar 6 Stunden Tag. Die rauhe Witterung gestattete es jedoch erst zwei Monate später davon Nutzen zu ziehen und die Eindeckung des Schiffes zu entfernen. Parry ließ die Fenster seiner Cajüte schon Mitte Februar ihrer schützenden Umhüllung entkleiden, um das Sonnenlicht zu genießen. Die Folge davon war, daß seine Chronometer stehen blieben, und man in den Schiffsräumen empfindlich durch die Kälte litt.

Feuer im Schiff.

Die fortgesetzten Schneestürme verhinderten den Aufbruch nach Nord bis Anfang März; wir wollten jene traurigen Erfahrungen vermeiden, welche Kane's vorzeitiges Verlassen des Schiffes nach sich gezogen hatte. In höherem Maß, als bei uns, findet in hohen Breiten ein Nachschleppen der Temperatur -Maxima oder -Minima in Folge der Trägheit statt, mit welcher das Land die herrschende Lufttemperatur annimmt. Die Verdunstung des Eises war so bedeutend, daß die im Herbst aufgestellten Eisblöcke ungeachtet der Kälte sichtlich abzehrten; Ende Juni waren sie gänzlich verschwunden. Selbst die Polarnacht hatte diesen Proceß nicht gänzlich verhindert; auch bei der österreichisch-ungarischen Expedition gewahrten wir, daß die ausgesägten Eiswürfel noch im December abnahmen, besonders bei Wind.

Am 21. Februar zeigte das Thermometer 32,2° R. unter Null, die größte während dieser Reise beobachtete Kälte; ausgesetztes Quecksilber begann sich an der Oberfläche mit einer Haut zu bedecken, doch hatten wir nicht das Vergnügen, es vollständig gefrieren zu sehen.


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