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Sonnenaufgang 1874. Beschluß, das Schiff zu verlassen.

Abnahme der Finsterniß. – Sonnenaufgang. – Beschluß, das Schiff nach Beendigung der projectirten Entdeckungsreisen zu verlassen, um nach Europa zurückzukehren.

 

Ohne Zweifel wäre ein ununterbrochener Winterschlaf ein Segen für den Polarfahrer; besonders nach Neujahr beginnt die Länge der Nacht fühlbar zu werden, namentlich am Nachmittage, der profanen Tageszeit aller Zonen; selbst der Standhafteste verfällt da, selbst des Tages, wenn auch nur ein bis zwei Stunden, dem Schlafe. Nur allmälig verminderte sich die Dunkelheit, und weil das Wetter häufig trüb war, geschah es, daß sie selbst durch den Vollmond Anfangs Jänner und Februar nur wenig gemildert wurde. Am 26. December vermochte man auf die Entfernung eines halben Schuhes erst den Titel der »Neuen freien Presse«, aus Vogt's Geologie jedoch noch nichts zu lesen; am 11. Jänner war in demselben Buche selbst bei klarem Wetter nur das Titelwort »Geologie« zu erkennen und auch da nur, wenn man es gegen die mittägige Dämmerung hielt. In Andrée's »Geographie des Welthandels« war außer diesen Worten nur noch das Wort »Bibliothek« mühsam zu lesen. Am folgenden Tage war es um neun Uhr Vormittags noch immer so dunkel, wie am 21. December Mittags.

Am 24. Jänner kehrte der Mond wieder; vier Tage darauf vermochte man bei seinem Lichte endlich um Mittag den gewöhnlichen Druck der »Presse« wieder zu erkennen, die Thermometer zum ersten Male wieder ohne Licht abzulesen. Ihre Beobachtung ergab für den Jänner -19,6° R. als Monatsmittel, -1,7° R. und -36,7° R., als Extreme. Der Jänner verlief unter einem beständigen Wechsel hoher Temperaturen, dampferfüllter Luft, unter Schneetreiben, endlich Windstille mit großer Kälte, Vorgängen, welche das Aufbrechen des Eises nahe im Süden von uns herbeiführte. Südostwinde beherrschten die ersten Tage des Monats; am 2. Jänner stieg die Temperatur bis auf -2° R., eine Stunde lang fiel sogar feiner Regen, überall begann es zu thauen, und am 8. Jänner vernahmen wir wieder das Geräusch des Eisschiebens. Wunderbare Dämmerungsbilder mit glühenden Farbeneffecten zeichneten die Mittage Anfangs Februar aus; ein unbeschreibliches Feuer lag am südlichen Himmel, es wurde in einer vereinzelten Wacke reflectirt, während über den Eisflächen noch die tiefen Schatten der scheidenden Nacht lagen und ein fast schwarzer Saum gegen Mittag hin den Gesichtskreis schloß.

Erst am 23. Februar Mittags begann ein helles Roth durch die wallenden Nebel zu glühen; es war der Vorbote der Sonne, die den langen Bogen der Nacht überwunden hatte, und deren Wiederschein nun den Frostdampf durchbrannte. Am 24. Februar aber erschien die Sonne selbst wieder am Horizont; elliptisch verzerrt und gehoben durch die Refraction, war sie schon um zehn Uhr Vormittags aufgegangen, und so übertraf ihre mittägige Höhe die Größe ihres Durchmessers. Zum ersten Male wieder lagen über dem Schnee jener zauberhafte Rosaton, jene lichtazurnen Schatten, die im hohen Norden selbst der dürftigsten Landschaft ein poetisches Aussehen verleihen. Die Wiederkehr des Lichtes war diesmal die Erlösung aus einer 125tägigen Nacht. Parry's Winternacht 1819-20 auf der Melville-Insel währte 84 Tage, jene von J. Roß im Boothia-Golf 50 Tage, die des Kane im Rennselner Hafen 113 Tage, die von Hayes 123 Tage. Im letzten Falle waren jedoch nur die Gebirge des südlichen Horizonts daran Ursache, daß die Sonne nicht früher sichtbar war. Mit Spannung hatten wir dieser Wiederkehr geharrt und sie freudig begrüßt, wenn auch nicht mehr mit dem Ungestüm des verflossenen Jahres. Damals hatte uns der Anblick der Sonne allein genügt, da wir das Gefühl hatten, gleichsam aus der Hölle erlöst zu sein; jetzt waren uns alle Sonnen der Welt gleichgiltig geworden, und die, welche wir vor uns hatten, galt uns nur als Mittel zum Zweck: zum langersehnten Antritt jener Schlittenreisen, deren Ziel die Erforschung des Kaiser Franz Joseph-Landes war. Der bloße Gedanke an die Möglichkeit neuer Entdeckungen versetzte uns in fieberhafte Ungeduld, und mehr als je erhob sich die Befürchtung, das Schiff mit seiner Scholle könnte wieder dahintreiben, und die Ausführung unserer Pläne unmittelbar vor ihrem Antritt vereitelt werden.

Noch an demselben Tage hatten Schiffslieutenant Weyprecht und ich den Beschluß gefaßt, das Schiff nach der Beendigung der projectirten Entdeckungsreisen zu verlassen und die Rückkehr nach Europa mittelst unserer Boote und Schlitten zu versuchen. Es bedurfte wahrlich nicht der Auseinandersetzung der zwingenden Ursachen, um Jeden von der unvermeidlichen Nothwendigkeit dieses Entschlusses zu überzeugen. Unbefreibar lag unser Schiff auf seiner eisigen Höhe, der Proviant reichte nicht mehr für ein weiteres Jahr aus; beredter aber als alles Andere sprach die drohende Besorgniß, daß unsere Gesundheitsverhältnisse in einem dritten Winter sich noch mehr verschlimmern würden. Wenn wir die einst so reichhaltige, nun fast leere Apotheke und die wenigen Flaschen Limoniensaft erblickten, über welche wir noch verfügten, so mußten wir die Unmöglichkeit erkennen, länger in diesem Klima zu verweilen. Auch der traurige Ausgang der Franklin'schen Expedition stand uns als lehrreiches Beispiel vor der Seele. Allem Anschein nach hatte diese Expedition die Rückkehr nach dem Süden ein Jahr zu spät, überdies geschwächt und in einer Verfassung angetreten, welche die Frage, ob ihr Vorhaben gelingen werde, im Voraus verneinen ließ.

Auch an manchen anderen Vorräthen begannen wir bereits Mangel zu leiden, wenn auch größere Sparsamkeit oder völlige Enthaltung diesen minder fühlbar gemacht hätten. So verfügte Jeder außer den für die Schlittenreisen bestimmten Segeltuchstiefeln nur noch über ein Paar Lederstiefel. Die Ausrüstung zu diesen Reisen erschöpfte unsern letzten Vorrath an Wäsche und setzte unser Spiritusquantum auf das für die Rückreise unentbehrlichste Maß herab. Zu diesen Bedenken kam noch das nicht sehr tröstliche Bild, welches der Doctor von dem Gesundheitszustand unserer Mannschaft entwarf, indem unter neunzehn Mann folgende Erkrankungen eingetreten waren: Maschinist Krisch, Scorbut und allgemeine Tuberculose; Marola, Scorbut beginnend, die Folgen nicht mit Bestimmtheit anzugeben; Fallesich, Scorbut überstanden, aber fortwährende Neigung zum frischen Ausbruch; Vecerina, Scorbut mit vollkommener Unbrauchbarkeit der untern Extremitäten; Palmich, stete Neigung zu Scorbut und periodische, durch längere Zeit andauernde krampfhafte Zusammenziehung der untern Extremitäten; Pospischill, ausgesprochenes Lungenemphysem; Haller, Neigung zu rheumatischen Schmerzen in den untern Extremitäten, bis zur völligen Unbrauchbarkeit gesteigert.


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