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Die Reise im Eismeere.

Verlassen des »Tegetthoff«. – Schneeerweichung. – Erfolglose Anstrengungen. – Verdienste unserer Hunde. – Proviantergänzungen. – Bärenjagden. – Wasserhimmel, Erwartung baldiger Einschiffung. – Täuschung. – »Im Hafen von Aulis.« – Abholung eines vierten Bootes vom Schiffe. – Witterung. – Vereitelte Einschiffungsversuche. – Zweites Lager »in Aulis«. – Bärenjagd. – Unsere Lage Mitte Juni. – Erste Einschiffung. – Ein Walroß. – Neues Warten. – Verbrennung der Schleifen. – Beginn der Seehundsjagden. – Die Zeit des Uebersetzens. – Das erste Schmelzwasser. – Alle Fortschritte hören auf. – Geringes Jagdergebniß. – Unser Leben. – Furchtbare Lage Mitte Juli. – Zurücktreiben bis in die Nähe des Schiffes. – Verminderung der Rationen. – Pekel's Tod. – Ein Walroß. – Wachsende Fortschritte durch Zertheilung des Eises. – Die Zeit des Auseinanderschiebens der Schollen. – Hilfe durch Nordwinde. – Eisberge. – Bärenjagd. – Regengüsse. – Nebel. – Wir folgen den Schifffahrtsanzeichen des Wasserhimmels. – Das Brod zerfällt in nassen Staub. – Seehundsjagd. – Bärenjagd. – Wachsende Fortschritte. – Umwandlung des Eismeeres. – Eintritt in Treibeis. – Dünung verkündet die Nähe offenen Meeres. – Bärenjagd im Wasser. – Morsches Eis. – Belebte Hoffnungen. – Neue Einschließung. – Unsere Lage Mitte August. – Kalfatern der Boote. – Abschied des Sommers. – Die letzten Tage im Eise. – Die letzte Eisscholle.

 

Der 20. Mai, der große Tag, war endlich da, – derselbe Tag, an welchem einst Kane sein Schiff verlassen hatte. Mit drei Booten, deren zwei größere 26' lang und 7' breit waren. Seine Mannschaft trug Eskimokleider und unbegreiflicherweise auch Gesichtsmasken aus Guttapercha Reisen dieser Art sind wiederholt gemacht worden; doch nur wenige sind zur allgemeinen Kenntniß gelangt. Parry's Nordreise 1827, Kane's Rückzug 1855 und unsere Rückreise bieten viel Gleichartiges; die größten Schwierigkeiten aber waren auf Seite der letztgenannten Unternehmung, weil sie weder über die Subsistenzmittel einer Küste, noch über die eines nahen Schiffes verfügte. Mit Freude begrüßten wir ihn; denn er führte uns zur That. Doch es war ein ergreifender Anblick, als die Flaggen an die Masten des »Tegetthoff« genagelt wurden und der Rückzug begann, tausend Meilen entfernt von den ersten Niederlassungen der Menschen.

Das Verlassen des Tegetthoff.

Der Gedanke, ein Schiff zu verlassen und sein Geschick dem Zufall anheimzugeben, hat selbst unter gewöhnlichen Verhältnissen etwas Beunruhigendes. Um so mehr ist dies der Fall im fernen Eismeer. Aber auch hier hatte die Gewohnheit ihren abhärtenden Einfluß geübt; monatelang hatten wir täglich in der Furcht gelebt, es zerquetscht zu sehen und die schrecklichste Art einer Flucht wählen zu müssen. Nichtsdestoweniger war es uns zwei Jahre lang eine schützende Heimat gewesen. Unter seinem Obdach hatten wir der Gewalt der Eisbewegungen sowohl, als auch den Stürmen und der Kälte Trotz geboten. Mit all diesen Erinnerungen mußten wir es jetzt verlassen; ein Document mit der Begründung dieser Entscheidung war auf dem Cajütentisch niedergelegt worden.

Auch von seinen Schätzen mußten wir uns trennen, den zoologischen, botanischen und geologischen Sammlungen, den Instrumenten, Folgende Instrumente blieben zurück: 1 Sextant, 1 Mikroskop, 1 kleines und 1 großes Universalinstrument, 2 Boxchronometer, 1 Taschenchronometer, 1 magnetischer Theodolit, 1 Azimuthalcompaß sammt Stativ, 1 Quecksilberhorizont, 3 Heberbarometer, 1 zweizölliges Teleskop, 6 Aräometer, 1 Nivellirinstrument, 3 Tiefseethermometer von Casella, 5 Aneroïde, 1 Variationsapparat, 25 gewöhnliche Thermometer, 18 Minimallhermometer, 18 Maximalthermometer. der kostbaren Bibliothek, dem Proviant, der noch reichlich für ein halbes Jahr reichte, und den 67 zubereiteten Eisbärenfellen. Einige hatten die mitgebrachten Photographien ihrer Freunde oder Bekannten in ihren Rahmen ans Land getragen und an einer Felswand aufgehängt, um sie dem Schicksal des Schiffes zu entziehen, von welchem wir annahmen, daß es binnen Kurzem ans Land gedrängt und zerpreßt werden müsse. Nur unser Munitionsvorrath für die Lefaucheux-Gewehre war nahezu erschöpft, so daß wir uns für den Fall eines dritten Winters vorzugsweise der sonst trefflichen Werndl-Gewehre hätten bedienen müssen, für welche noch einige tausend Patronen erübrigt waren.

Wir hatten am Tage geschlafen und Abends das letzte Mahl auf dem Schiffe eingenommen; dann waren wir in leichtem Reisecostüm ausgezogen, um uns vor den Booten zu versammeln (neun Uhr). Dunkle Wolkenmassen, die über dem Lande lagen, hatten die Sonne verhüllt, und unser Weg nach Süden hin führte in das trostlose Einerlei schneebedeckter Eishügel, – drei Monate lang war es fortan unsere Welt. Die Leistung des ersten Tages bestand darin, daß wir, elf und zwölf Mann, vor ein Boot oder einen Schlitten gespannt, Anfangs in zwei, später in drei Abtheilungen, den Colonnen von Weyprecht, Brosch und Orel. diesen mühevoll eine Meile weit nach Süden schafften, auf den Tegetthoff zurückgekehrt nochmals Thee tranken und nach dreimaliger Wiederholung dieses Weges uns in der Nähe des Schiffes zur Ruhe begaben.

Dieser geringe Fortgang blieb nun constant; an manchen Tagen aber erreichte er nicht einmal eine halbe Meile, und es half sehr wenig, daß wir auch den geringsten Wind aus Nord benützten, um sowohl für die Boote als auch für die Schlitten die Segel zu setzen. Die Ursache dieser geringen Fortschritte lag in der Erweichung des Schnees, in Folge deren die Schlitten tief einsanken und die Bootsschleifen sich ihrer niedrigen Hörner wegen überall stemmten und eingruben. Es war absolut unmöglich, unser Gepäck auf einmal fortzuschaffen: die Hälfte von uns genügte kaum, um einen Schlitten oder ein Boot vorwärts zu bringen. Dadurch waren wir genöthigt, den Weg Strecke für Strecke dreimal lastenziehend, zweimal ledig zurückzulegen, – in tiefem Schnee wahrhaft sinnverwirrende Anstrengungen.

Fast bei jedem Schritt brachen wir knietief in den Schnee ein, besonders Unglückliche auch an Stellen, wo die Anderen leicht über die Oberfläche hinwegschritten. Von Scarpa namentlich wurde behauptet, daß während des Ziehens selten mehr von ihm über dem Schnee zu sehen sei, als der Kopf. Wiederholt mußten wir einen Schlitten abladen, oder uns für einen Augenblick sämmtlich vorspannen, wenn er in eine tiefe Schneegrube versunken war. Die Hälfte des Marsches verlief mit ungehindertem Ziehen, die andere unter vergeblichem Anrücken und »Aussingen« zur Erzielung gleichzeitiger Anstrengungen. Dabei rann uns der Schweiß über das Angesicht; namentlich bei bedecktem Himmel war die Luft ungemein schwül, schon nach einigen Tagen hatten Mehrere ihre Schultern wund gerieben. War eine bestimmte Wegstrecke durch dreimaliges Befahren zurückgelegt, so glich sie einem ausgeschaufelten Schneehohlweg; zu seiner unfreiwilligen Herstellung, nicht aber zu befriedigenden Fortschritten hatten wir unsere Kraft verbraucht. Durst kam hinzu, wer an das Ertragen desselben und an die Strapazen des Fußreisens nicht gewöhnt war, sank bei jeder Rast in den Schnee und aß ohne Unterlaß davon.

War die Möglichkeit der Rettung von einem solchen Verlauf unserer Reise zu erwarten? Wie schwierig das Reisen im Eise bei vorgerückter Jahreszeit mit großem Gepäck oder unzureichender Ausrüstung ist, zeigt der Rückzug von J. Roß 1833 vom Victory Harbour zur »Fury«. Um 2 Boote, Proviant für 5 Wochen etc., 30 Meilen weit in der Luftlinie successive vorzuschieben, war seine gesammte Mannschaft einen Monat lang thätig, und genöthigt, 329 Meilen zurückzulegen. – Nein, Niemand von uns zweifelte daran, daß sie nur durch eine außerordentliche Wendung geschehen könne, für welche noch langehin alle Anzeichen baldigen Eintritts fehlten. Um uns solchem niederbeugenden Eindruck zu entreißen, konnten wir nichts Besseres thun, als alle Gedanken an die Zukunft grundsätzlich zu vermeiden.

Es war die Bestimmung der Hunde, an der Fortschaffung des Gepäcks teilzunehmen; Carlsen hatte es übernommen, ihnen dabei behilflich zu sein. Allein sie erwiesen sich ihm gegenüber träge und unfolgsam, fuhren den belasteten Schlitten mit Vorliebe in tiefem Schnee fest, und für den alten Mann war es unausführbar, ihn daraus allein zu befreien. Auch war es ihrer Kraft nicht entsprechend, daß sie den Weg höchstens zweimal, und zwar mit je nur einem Centner zurücklegten. Sollten sie aber ausgiebigere Dienste leisten, so mußten sie von Jemand geführt werden, dem sie gehorchten, der ihnen durch Schieben oder Ziehen half, den umgeworfenen Schlitten sofort wieder aufrichtete, schwer belud, im Stande war, die schweren Säcke unzählige Male zu heben, endlich den Weg selbst vier-, fünfmal und noch öfter zurückzulegen. Dieser Dienst wurde in der Folge abwechselnd von Haller und mir versehen, und es gelang uns, täglich sämmtliches Brod und den Spiritus, d. h. acht bis zehn Centner auf diese Weise fortzuschaffen, späterhin in einzelnen Fällen sogar die gesammte in Partien abgetheilte Last eines großen Schlittens. Ich erwähne dies nur zu dem Zwecke, um die großen Dienste hervorzuheben, welche unsere Hunde, selbst in so geringer Zahl, noch während des Rückzuges leisteten. Pekel pflegte voranzugehen, die noch härteren tragfähigeren Schneewehen auszukundschaften. Hatte er sie eine Strecke weit geprüft und für die Schlitten tauglich befunden, so kam er wedelnd zu den Vorangehenden zurück.

In der ersten Woche geschah es jedesmal, wenn Schiffslieutenant Weyprecht das Nachtlager nach beendetem Tagmarsche bezog, daß ich mit Haller oder Zaninovich und den Hunden nach dem Schiffe zurückkehrte, um zu ergänzen, was wir inzwischen an Vorräthen verbraucht. Eine Strecke, zu welcher wir mit dem gesammten Gepäcke fast eine Woche bedurft hatten, legten die Hunde dann in ein bis zwei Stunden zurück. Am Schiffe suchten wir alle die bescheidenen Bestellungen und Bitten zu erfüllen, welche man uns ans Herz gelegt hatte. Der Raum wurde durchsucht; aus vielen der Fässer jedoch, welche wir öffneten, sah nichts mehr hervor, als ein eingesalzenes Bärenfell. Massen von Thee wurden verwandt, ein Ankerfäßchen mit dem concentrirtesten Getränk davon zu füllen, der Rumvorrath erschöpft, ihm liebliche Stärke zu verleihen. Wir waren Räuber, die sich selbst überfielen; vor dem Schiffe zeterten und haderten die Eismöven in Schwärmen um die erschlagenen Bären. Zuweilen sah man auch lebende Bären das Schiff in der Ferne umkreisen und darauf warten, bis die Reihe des Raubens an sie käme. Sie schienen nur des Moments zu harren, bis das Schiff völlig verödet sei, um diese ihrem Geschlechte bisher so feindselige Burg für alle Zeiten in Besitz zu nehmen.

Bisher hatten sie uns noch einiges Geleit auf unserem Wege gegeben. Am 23. Mai war einer derselben durch Schiffslieutenant Weyprecht erlegt worden, und die Möven, welche überall sofort zur Stelle waren, wo es etwas Eßbares gab, hatten seine Ueberreste mit erstaunlicher Präcision bis auf die Knochen verzehrt. Am 26. Mai befand ich mich mit dem Hundeschlitten zwei Meilen von den Abtheilungen entfernt, um zurückgelassenes Gepäck nachzuschaffen, als ich plötzlich eines Bären ansichtig wurde, der etwa hundert Schritt entfernt im Schnee lag und schlief. Sofort stürmten die Hunde heulend auf ihn los; ich hatte Mühe, sie zum Halten zu bringen, indem ich den Schlitten innerhalb einiger Hummocks umwarf. Der Bär hatte sich aufgerichtet; von einer Kugel getroffen, schleppte er sich nur mühsam fort. Die Hunde aber rissen den Schlitten mit sich und griffen den plötzlich ermuthigten Bären mit einer Wuth an, welche ihnen bei dem geringsten Hemmnisse, das der Schlitten fand, verderblich werden mußte. Toroßy insbesondere verrieth durch sein Anspringen, Bellen und Wedeln eine beunruhigende Unklarheit über die Sachlage und wurde nur durch Jubinal den Klauen seines Angreifers entzogen; denn so oft der Bär das Gespann erreicht hatte, schwenkte dieser in einem zierlichen Bogen ab, bis ich in solche Nähe herangeeilt war, um den Bären mit meiner letzten Patrone sicher zu tödten. Am 31. Mai hatte auch Klotz einen Bären erlegt, der den Booten bis auf zehn Schritte genaht war; allein trotz dieses Zuschusses an frischem Fleische behielt das Schiff als Quelle des Ueberflusses seinen Zauber.

Kehrten wir kurz vor dem Aufbruche der Abtheilungen nach den Booten zurück, so gewann die Stille dieser seltsamen Schlafstätten im Eise augenblicklich die Lebhaftigkeit eines Marktes, und unter großem Beifall floß das noch lauwarme Getränk in die gescharten Blechtöpfe. Den größten Anklang aber fand der letzte Rest der mitgebrachten Milch, – nicht allein deßhalb, weil es Milch war, sondern vorzugsweise darum, weil sie für uns die einzige Milch in der Welt war.

Schon seit einigen Tagen waren dunkle Wolkenmassen in südwestlicher Richtung bemerkbar, wie sie über Stellen offenen Wassers zu schweben pflegen, und es war kein Zweifel, daß sie denjenigen Sprüngen entstammten, welche wir drei Wochen vorher vom Cap Brünn aus beobachtet hatten. Unsere Hoffnung war daher nicht unbegründet, daß wir schon in wenigen Tagen das zur Zeit noch festliegende Landeis überwunden und das Netz der ewig ruhelosen Canäle und Schollen erreicht haben würden. War dies der Fall, dann vermochten wir uns vielleicht schon in einer der nächsten dieser Wasserstraßen einzuschiffen und, indem wir den Irrgängen ihres Verlaufes folgten, zwischen den Eisfeldern hindurch mit wachsender Beschleunigung nach Süden hin zu entrinnen.

Und diese Hoffnung schien noch durch die Wirklichkeit übertroffen zu sein, als wir am 28. Mai unvermuthet die kleine flache Lamont-Insel erreichten, deren Existenz uns bisher unbekannt geblieben war, und von deren höchstem Punkte aus wir nun eine nach Südosten führende Wacke erblickten. Ein gewaltiger Tafeleisberg schwamm in ihrer Mitte, ihre Entfernung vom Südrande dieser von hoch emporgepreßtem Eise umgebenen Insel betrug nur noch eine Meile.

Am 29. Mai hatte uns leichtes Schneetreiben in den Booten auf der Lamont-Insel zurückgehalten und nur gestattet, vereinzelte Treibholzstücke am Strande einzusammeln; am 30. Mai säumten wir nicht länger, bis an den Rand des Wassers vorzudringen und die Einschiffung zu beginnen.

Allein es kam anders, als wir vermuthet hatten. Der Eisstrand, den wir gerade südlich aufsuchten, erwies sich als unzugänglich, und wenn wir gleich dem offenen Wasser entlang nach Südosten zogen, um einen besseren Einschiffungsplatz zu ermitteln, so erreichten wir damit nach mehrtägiger Wanderung nur die Ueberzeugung, daß an die Möglichkeit einer Einschiffung gegenwärtig noch nicht zu denken sei, weil die Wackenränder überall mit breiten Barrièren von Eistrümmern umgeben waren, welche den Durchgang der Boote verwehrten.

Schiffslieutenant Weyprecht und der Tyroler Klotz waren recognoscirend vorangegangen, ihre Mittheilungen erwiesen, daß auch die Chancen für den Schlitten zu Ende seien. Der unübersetzbare Sprung vor uns zog sich fern gegen Osten hin; ein solcher Umweg war umso weniger verlockend, als er über und durch bis fünfzig Fuß hohe Wälle emporgepreßten Eises hätte zurückgelegt werden müssen.

Diesen trüben Constellationen gegenüber zogen wir uns zunächst auf eine freiere Ebene des Eises zurück und bezogen am 3. Juni eine Art verschanztes Lager, das wir scherzweise den » Hafen von Aulis« nannten; denn in jedem Falle hatten wir hier, wie die Griechen damals an jenem Orte, auf den Eintritt günstiger Winde zu harren. Nur Winde konnten das Eis vor uns öffnen und zu fahrbaren Canälen zerstreuen. Gleichwie wir uns während des successiven Vorschiebens unserer Last auch während des Tages niemals weit von unseren Booten entfernten, so hatten wir uns auch jetzt dicht aneinandergedrängt, weil frische Sprünge im Eise sein baldiges Aufbrechen und Auseinandertreiben befürchten ließen. Unsere geographische Breite betrug hier 79° 46'; wir waren daher erst fünf Minuten in Südrichtung vom Schiffe entfernt, das Cap Tegetthoff lag deutlich vor uns am nördlichen Horizont. Doch auch hier war unseres Bleibens nicht lange; in Rücksicht auf den Raum der Boote, der für das aufzunehmende Gepäck und die Besatzung nicht zureichte, hatte Schiffslieutenant Weyprecht beschlossen, noch eine der am Schiffe zurückgebliebenen Jollen zu holen, zu welchem Zwecke er mit Schiffsfähnrich Orel und neun Mann dahin zurückkehrte, nachdem wir uns sowohl mit den Schlitten, als auch mit den Booten bis zur Lamont-Insel zurückgezogen hatten (4. Juni). Da diese Rückkehr zum Schiffe aber auch den Zweck hatte, einige unserer Lebensmittel zu ergänzen, so war ich mit den Hunden dahin vorausgegangen, und schon nach drei Stunden legten sie eine Strecke zurück, zu welcher wir vorher acht Tage gebraucht hatten. Ihr Eifer war umso größer, als sie eine frische Bärenspur entdeckten, welche der betretenen Bahn entlang zum Schiffe lief; indem wir uns diesem auf tausend Schritt näherten, war auch der Bär zu sehen, doch ohne daß er auf einem Kampf bestand.

Im Hafen von Aulis.

Am 7. Juni war die Ausrüstung der Jolle beendet, und mit etwa drei Centner boiled beef, Schrot u. dgl. kehrten wir zu unseren Gefährten nach der Insel zurück. Die alte hartgetretene Bahn kam uns dabei sehr zu statten; zwischen Schneeabgründen, wie aus einem Sumpfpfade, behielten wir genau ihre Richtung, und wenn wir einen Schritt von ihr abwichen, blieben wir sofort stecken. Die Ursache davon lag in der vorschreitenden Umwandlung des Schnees; überall, wo er in größerer Mächtigkeit lag, hatte er seinen pulverartigen Charakter abgelegt und den eines Breies angenommen. Wenige Tage noch, und wir mußten von Sümpfen umgeben sein.

Die mittlere Tagestemperatur, welche Ende Mai zwischen -3 und -6° R. geschwankt hatte, war seit Anfang Juni andauernd auf 0 Grad gestiegen. Sie erhob sich jedoch auch während der folgenden Wochen des Hochsommers nur wenige Grade über Null. Bei Parry's Nordreise 1827 betrug die Temperatur des Tages gewöhnlich +1,8 bis 5,8° R.; zwei- oder dreimal erreichte sie bei mildem, ruhigem Wetter 12,8 bis 15,1° R. Am 3. Juni hatte es zum ersten Male etwas geregnet, und immer entschiedener nahm das Wetter seitdem seine Lieblingsform im Eismeere an, die des Nebels und » Nebelreißens«. Klare Tage waren sehr selten, nur für Stunden durchbrach die Sonne das Gewölk.

Als wir bei den Booten anlangten, hatten sich deren Insassen erhoben, und gleich den jungen Vögeln in ihren Nestern sahen sie sich um, ob wir ihnen vom Schiffe etwas mitgebracht hätten. Namentlich galt Tabak als ein königliches Geschenk, und Dr. Kepes, dem ich einen abgeschnittenen Hemdärmel damit vollgestopft übergab, dünkte sich ein Krösus.

Wieder harrten wir auf die Einschiffung. Von unserer Insel aus wollten wir die nächste Erweiterung eines Spaltes benützen, um nach Süden hin zu enteilen. Allein, so oft die commissionelle Untersuchung der Wacke in den nächsten Tagen auch stattfand, immer wieder erwies sie sich als geschlossen, und der Versuch, eines unserer Boote in einen ausgehauenen Dock zu bringen, hätte beinahe dessen Verlust nach sich gezogen; denn schon hatte es sich mit Wasser gefüllt, ein anderes Mal auch das Eis zu pressen begonnen. Somit blieb uns nichts übrig, als die Wiederholung des Flankenmarsches entlang des fatalen Sprunges bis zum »Hafen von Aulis« (11. Juni), um hier in unmittelbarster Nähe auf sein Auseinandergehen zu lauern.

Hier, »im Hafen von Aulis«, begann nun das zweite verschanzte Lager; den ganzen Tag hindurch hockten wir in den engen Booten, – und von unbeschreiblicher Langweile gequält, warteten wir des Morgens auf das Ende des Tages, von einer Mahlzeit auf die andere und auf das langsame Dahinscheiden des Datums. Die Eismöven gesellten sich zu uns, und wenn der heisere Jammerruf der Bürgermeistermöve in der Stille der Nacht ertönte, so traf es uns, wie die Stimme aus einer abgeschiedenen Welt und eine dämonische Verkündigung, daß uns alle Anstrengungen Nichts helfen würden, der Gewalt, die uns umfangen hielt, zu entrinnen. In diese ereignißlose Zeit brachte endlich am 14. Juni die Ankunft eines Bären willkommene Abwechslung; er fiel gewissermaßen in unsere Suppe hinein, an deren reizlosen Genuß sich nunmehr auch die Standhaftesten hatten gewöhnen müssen, weil sie nicht länger vom Wassertrinken und Rauchen allein zu leben vermochten. Toroßy hatte zu bellen begonnen, Wie wenig frühere Expeditionen gegen Eisbären gerüstet waren, zeigt die Ueberwinterung Mojsejew's in der seichten Bai auf Nowaja Semlja. Während derselben wurde es als eine Wohlthat angesehen, daß die Hunde die Bären verscheuchten. Pekel das Bellen von ihm abgenommen; beide waren dann gegen den Wind hinabgejagt. Gleich darauf hörten wir in unseren verschlossenen Booten einen Schuß, – Haller, der Koch, hatte den Bären in den Kopf geschossen, und zwanzig Schritte von uns entfernt war er, ein großes mageres Thier, todt in den Schnee hingestürzt. Die Freude darüber war allgemein; auch unsere Hunde waren schon recht schlank geworden. Pekel hatte bisher vom Zufall gelebt, die anderen nur ? Pfund Zwieback täglich erhalten. Jubinal war dadurch so hungrig geworden und in seiner Würde gesunken, daß er den Vögeln nachlief, der alte Hund mit Pekel und seinem tölpischen Collegen Toroßy, welchen sie beide noch immer als das »Kind« betrachteten. Jetzt aber lagen sie sofort in einer Reihe am Rücken und wälzten sich vor Freude im Schnee. Dann wohnten sie, sehr zu ihren Gunsten, dem Zerlegen des Bären bei; schon eine Stunde später erhoben sie ein merklich kräftigeres Gebell als sonst.

Die Mitte des Monats Juni war herangekommen; noch immer herrschten südliche Winde, kein Wasser zeigte sich um uns. Wochenlang hatten wir bereits im Umkreise des Schiffes herumgelegen, der dritte Theil des Proviants war fast verzehrt und von den 250 deutschen Meilen unseres Rückweges hatten wir bereits 1¼ Meile zurückgelegt. Ging es so fort, so hatten wir die Aussicht, binnen zwanzig Jahren sicher nach Hause zu kommen. Es war kein Zweifel darüber möglich, daß die dichte Lage des Eises in der noch so frühen Jahreszeit alles Reisen zu Wasser, selbst für unsere kleinen Boote, unmöglich machte. So trübe aber auch unsere Aussichten waren, immer wieder gab es Momente, wo wir uns hinreißen ließen, das Ende aller Uebel zu verkünden. Am 17. Juni hatte sich eine Wacke im Süden geöffnet, und eilig waren wir nach derselben aufgebrochen. Der Tag war völlig klar, die Temperatur im Schatten betrug zwar nur 0° R.; aber für uns war es eine afrikanische Hitze. Wir hatten die Wälle des Eises eingerissen, eine Straße für die Schlitten geebnet und standen in der folgenden Nacht mit sämmtlichem Gepäck am Rand des offenen Wassers, dessen Längenaxe von Osten nach Westen zog.

Hier kam es am Morgen des 18. Juni endlich zu unserer ersten Einschiffung; während ihrer Vollführung tauchte ein Walroß, das erste, welches wir in dieser Region sahen, nahe vor uns aus dem Wasser. Die Boote wurden in die Wacke hinabgelassen und in ihren Verhältnissen zu einander mit Lebensmitteln etc. beladen, die Schlitten aber auf die Schleifen gebunden und schwimmend nachgezogen. Auch die Hunde wurden vertheilt; doch nur Jubinal zeigte Vertrauen zu den Booten, weil er einsah, daß er darin nicht ferner im Schnee zu schlafen hatte. Toroßy aber, der niemals offenes Wasser gesehen hatte, und Pekel mußten mit List in dieselben gelockt werden. Nachdem wir noch etwas Thee mit dem letzten Reste unseres Rums getrunken hatten, stießen wir ab; rudernd und segelnd schwammen wir nach Süden, und es war gewiß ein Zeichen der gehobenen Stimmung, daß sämmtliche dreiundzwanzig Tabakspfeifen sich in Thätigkeit befanden.

Die erste Einschiffung während des Rückzuges.

Unser Fortgang war indeß nur sehr gering und betrug kaum eine Meile in der Stunde. Die schwere Belastung der tief eintauchenden Boote und das Hemmniß der nachschwimmenden Schlitten trugen in gleicher Weise die Schuld daran. Wir mochten etwa drei Meilen in Südrichtung zurückgelegt haben, als eine starke Scholle am Südrande der buchtenreichen Wacke uns aufnahm. Für den Augenblick gab es kein Wasser mehr zum Weiterreisen; die Boote wurden daher aufs Eis gezogen, und wir begaben uns zur Ruhe. Bald darauf fiel Schnee, ein westlicher Wind setzte ein, der immer mehr nach Süden umschlug; – die Schollen trieben wieder zusammen, und als wir aufbrechen wollten, waren selbst die zusammenhangslosen Lücken der Canäle geschlossen. Wieder mußten wir warten, nur mit dem Unterschied, daß wir von nun an abermals ein Spielball des Windes waren, der uns mit der Scholle, unserer jeweiligen Lagerstätte, dahintreiben konnte, wohin es ihm gefiel.

Die Schleifen wurden jetzt beseitigt, weil ihre Bretter sich geöffnet hatten, weil sie minder unentbehrlich waren als die Schlitten, Auch Kane sagt bei seinem Rückzuge von den seinigen: Sie waren unentbehrlich für die Boote, um das Eis zu überschreiten. und die Bewegungen der Boote im Wasser zu sehr hemmten. Sie lieferten ein offenes Feuer, das tief in den Schnee hineinbrannte, und für diejenigen, welche die stumme Gastfreundschaft der Hunde in Anspruch nahmen und diesen ein Stück rohes Bärenfleisch entlehnten, bot dieses Feuer noch den Vortheil, daß sie es im Rauche zu heißen schwarzen Ballen rösten konnten. Auch am 19. Juni mußten wir in den Booten liegen bleiben, am 20. Juni vermochten wir sie nur bis an den Rand eines Spalts zu schieben, in diesen hinabzulassen, zu laden und am jenseitigen Ufer wieder zu entladen, so daß der Gesammtfortgang dieses Tages nur in unserer Umsiedlung auf eine nachbarliche Scholle bestand. Weiter vorzudringen verwehrte die Kleinheit der folgenden Schollen und der gänzliche Mangel fahrbarer Canäle. Am 21. und 22. Juni verblieben wir in dieser Stellung; das einzige Ereignis; dieser Tage war die Erbeutung eines Seehundes ( Phoca grœnlandica), der eben hinreichte, um die Suppe unseres Nachtmahls schmackhafter zu machen. Schiffslieutenant Weyprecht hatte ihn erlegt, auch in der Folge war er der Glücklichste unter uns in dieser nur den Ausdauernden begünstigenden Jagd. Da das Erlegen eines Seehundes jedoch die Ersparniß desjenigen Proviantes nach sich zog, welcher sonst zur Ausgabe gekommen wäre, so begannen diese Jagden eine große Wichtigkeit für uns anzunehmen, und es war kein Zweifel, daß eine etwa gebotene Verlängerung unserer Reise, mithin auch die unsers Lebens, zum großen Theile von ihrem Erfolge abhing.

Nichts vermag die Monotonie dieser Periode unserer Expedition besser auszudrücken, als die Anführung meines Tagebuches:

23. Juni. Im Süden noch wenig verbesserte Umstände; doch indem wir Vormittags über zwei kleine Wasserplätze und zwei Schollen setzten, kamen wir etwa eine Viertelmeile vorwärts. Das Vorlegen einer Scholle hinderte uns daran, in eine dritte Wacke einzudringen. Erst nach der Mitternachtsrast öffnete sich das Eis wieder, und wir fuhren noch einige hundert Schritte weiter gegen Süden. Lukinowich fiel heute ins Wasser, herausgezogen, war er sehr überrascht, nicht als ein Opfer der Wissenschaft betrachtet zu werden.

24. Juni. Früh schoß Orel einen Seehund ungewöhnlicher Größe. Darauf zogen wir eine halbe Meile weit über ein großes Eisfeld bis zu seinem Südrande. Hier angekommen, hinderten gedrängte Schollen geringer Größe weiteres Vordringen.

Marsch durch Eishöcker.

25. Juni. Wir können noch immer nicht fort; es herrscht Nordostwind, geschätzte Breite 79° 36'. – Seitdem wir das Eis unter Land verließen, hat sich die Mächtigkeit des Schnees trotz der täglichen Schneefälle bedeutend vermindert, so daß die Schlitten selbst mit den großen Booten viel leichter als früher fortzuschaffen sind. Noch immer gibt es keine Schmelzwassertümpel auf dem Eise. Im vergangenen Jahre haben wir sie viel früher beobachtet.

26. Juni. Mehrere Stunden lang über einige Eisfelder und kleine Wacken gereist. Während der Mitternachtsrast nahte ein Bär bis auf zwanzig Schritte, allein er entlief, da er die plötzliche Bewegung so vieler Menschen sah. Das Eis scheint der Hauptsache nach vom letzten Jahre zu sein und ist vielfach zertrümmert. Orel's Breitenbeobachtung mit Sextanten und künstlichem Horizont ergab 79° 41', – bittere Enttäuschung!

27. Juni. Heute wurde eine größere Wacke bei frischem Nordostwind in Südrichtung segelnd übersetzt, die mittägige Breite betrug 79° 39'; Nachmittags zogen wir noch eine Viertelmeile weit über ein Eisfeld. Unser Gepäck hat dermaßen abgenommen, daß ich mit den Hunden nicht mehr als etwa sieben Centner fortzuschaffen brauche. In Lee großer Eisfelder findet man zuweilen etwas geöffnete Wasserstraßen, da sie im treibenden Eise langsamer fortschreiten und gleich Inseln wirken.

28. Juni. Zwei Eisfelder und zwei kleine Wacken wurden übersetzt. Fortgang sehr gering, mit einem Schiffe wäre er unmöglich, weil wir es nicht gleich den Booten über die vorliegenden Schollen zu ziehen vermöchten. Schneefall und Sonnenschein wechseln mit einander ab. Während wir schlafen, befindet sich immer eine Wache außerhalb der Boote, um auf die Vorgänge im Eise zu achten und uns von der Annäherung eines Bären rechtzeitig zu verständigen.

29. Juni. Ueber zwei bis drei kleine Wacken und Eisfelder, zuletzt über ein großes Eisfeld. Zum ersten Male wurde heute das Durchdrängen der Boote durch die engen Canäle mit langen Stangen angewandt; der Erfolg war sehr günstig. – Wir bekamen wieder einen Seehund, Jedermann hat sich bereits daran gewöhnt, während der Raststunde ein halb Pfund seines Speckes zum Thee zu genießen. Die Empfindlichsten waren sehr getröstet, da sie sich überzeugten, daß er den Geschmack von Butter besitze. Auch über die Eßbarkeit der Flossen des Seehundes wurden in den letzten Tagen vielfache Studien gemacht. Kane pflegte sie als eine Art Salat zu genießen, wir kochten sie in der Suppe, schließlich aber übertrafen uns die Hunde in der Werthschätzung dieser neuen Nahrungsquelle.

Es ist sehr bemerkenswerth, obgleich anscheinend ein Widerspruch, daß wir uns während der vorangegangenen Kälteperiode auf Schlittenreisen vor Allem vor Fett scheuten, und daß wir es nun zur Zeit der Wärme mit Vorliebe genossen. In der That befanden wir uns niemals besser, als wenn wir Mittags eine hinreichende Menge Speck gegessen hatten. Dann war die Verdauung ganz besonders regelmäßig, und selbst diejenigen, welche zu Magenbeschwerden hinneigten, waren von den Uebelständen befreit, welche die consequente Erbswurstnahrung für sie herbeiführte. Der wesentliche Grund dieser ungleichen Disposition für Fettkost lag darin, daß wir jetzt hinreichend Trinkwasser fanden und nicht mehr die Steigerung des Durstes durch sie zu befürchten hatten.

Die Mittagsrast.

30. Juni. Eine kleine Wacke wurde übersetzt, darauf ein großes Eisfeld. Als wir einen trümmererfüllten Canal passiren wollten, schloß sich dieser, so daß wir die Boote rasch wieder auf das Eis heraufziehen mußten, um zu warten, bis sich das Eis vor uns zertheilt haben würde. Einzelne Fälle geringer Schneeblindheit kommen vor. Der Schnee ist völlig erweicht; wir trafen Wasser in der Tiefe einer Grube und benützten es zum ersten Male zum Kochen. Das Cap Tegetthoff und die Salm-Insel sind noch immer sichtbar. Die Hunde haben heute zwölf Centner gefahren und sind gänzlich erschöpft. Ich habe mir von Klotz die Haare schneiden lassen und ihm zur Entschädigung etwas Wasser angeboten, mit der Entschuldigung meiner gänzlichen Armuth; allein Klotz hat es abgelehnt. Auch dem Arzte trägt seine Praxis im Eismeere jetzt höchstens noch einen Schluck Wasser ein.«

Das Uebersetzen über die Canäle.

Auf diese Weise geht es in meinem Tagebuche noch durch Wochen fort, und ist es für den Leser ermüdend, solchen Wiederholungen zu folgen, wie viel mehr noch mußte es für uns ermüdend sein, sie zu durchleben!

War eine Verschlimmerung unserer Lage überhaupt noch denkbar, so brachte sie die erste Hälfte des nun folgenden Monats Juli.

Am 1. Juli hatte unsere ganze Tagesleistung darin bestanden, daß wir einen Sprung übersetzten. Die mittägige Breitenbeobachtung ergab 79° 38', somit war seit den letzten vier Tagen nur eine einzige Minute gewonnen worden. Auch am folgenden Tage lag das Eis in kleinen Schollenfragmenten völlig dicht um uns; es gab weder Wacken noch Felder, über welche wir zu reisen vermochten. Am 3. Juli hatten wir einige Sprünge mühsam übersetzt und waren über zwei kleine Eisfelder gewandert; doch ein Südostwind setzte ein und erhielt die Breite dieses Tages auf 79° 38'. Die Beobachtung unserer Länge ergab, daß wir uns vier Seemeilen oder etwa einen Drittel Grad östlich des Schiffes befanden. Dieses geringe Treiben des Eises bei so heftigen Winden war ein trauriges Anzeichen der Geschlossenheit des Eismeeres.

Mit unerschütterlicher Geduld zogen wir unsere schweren Lasten weiter fort über das Eis; am 4. Juli glaubten wir eine Meile weit nach Süden vorgedrungen zu sein. Allein der uns so ungünstige Südostwind hielt mit solcher Beständigkeit an, daß die am folgenden Tage gemessene Breite von 79° 40½ ' ergab, wir seien nach Nordwesten zurückgetrieben worden, wodurch wir den mühseligen Fortgang von drei Wochen wieder eingebüßt hatten.

Wieder (5. Und 6. Juli) lag das Eis in unüberschreitbarer Aufeinanderthürmung, und wir sahen uns zu Rasttagen gezwungen, welche unsere Vorräthe verschlangen, ohne daß wir vorwärts kamen. Auch die Seehundsjagd dieser Tage war nur selten von Erfolg begleitet; stundenlang verweilten die Jäger am Rande der Wacken, ohne daß eine einzige Robbe zum Vorschein kam. Geschah dies endlich, war sie getroffen und nicht, wie so oft, gefehlt, so war sie nicht selten schon versunken, bevor das Boot ins Wasser gebracht werden konnte; und diejenigen Seehunde, welche wir zeitweise während des Dahinziehens über die Wacken am Strande des Eises erblickten, bewiesen in der Regel die Klugheit unterzutauchen, welche zu bewundern wir nicht in der Lage waren.

Noch mehr als sie, bewiesen die Bären eine Vorsicht und Zurückhaltung, welche mit ihrem früheren Benehmen nicht zu vereinen war. Am 5. Juli hatte sich ein Bär den Booten genähert; die Hunde waren auf ihn losgestürzt, dies hatte hingereicht, ihn zu verjagen. Es half nichts, daß wir die Hunde fortan, wenn sie eben nicht ziehen mußten, stets an starken Tauen befestigten.

Am 7. Juli war noch immer keine Veränderung eingetreten; der Tag verstrich, während wir, um einen morschen Schollenrand mit einem festeren zu vertauschen, unsere Boote wenige hundert Schritt weit durch die Schmelzwasserseen schoben, die sich in den letzten Tagen auf dem Eise gebildet hatten. Die Breite betrug 79° 43'.

Am 8. Juli entkamen wir in einem schmalen Canal einige hundert Schritte nach Süden; dann lag das Eis abermals völlig dicht, wir mußten die Boote aus dem Wasser ziehen und unser unfreiwilliges Stillliegen wieder beginnen. Trostlos waren diese Eindrücke, mehr als für alle Andern für Carlsen. Zwanzig Jahre seines Lebens hatte der alte geprüfte Eismeister verbracht unter »Flarden und Eisblink« und mannhaft gekämpft wider alle Unbill der arktischen See. Jetzt, da er schwach geworden, sah er sich zu Anstrengungen genöthigt, welche nur von dem kräftigen Mannesalter zu gewärtigen waren. Ohne Klage trug der alte Nordlandsfahrer diese Bürde, aber es war schmerzlich, die Zeichen der Erschöpfung an ihm zu sehen. Er sprach nicht mehr von Eisbären und Walrossen, die er durch den Blick oder durch einen Spruch in seinen Zauberkreis hereingelockt, auch der hugenottische Eifer war erkaltet, mit welchem er einst den Matrosen – »den Slavoniern« – eine Strafpredigt hielt, wenn sie Sonntags – an » Guds helge dag« – Karten spielten, oder wenn er die harmlose Conversationsweise lebhafter Südländer mißdeutend, jeden Augenblick eines Kampfes unter ihnen gewärtig war.

Carlsen auf dem Rückzuge.

Es war ein eigenthümliches Leben, dieser wochenlange Sommeraufenthalt in den Booten mit ihrem niedrigen Zeltdach, – das Leben in einem Futteral. Ruder statt Möbel, statt Betten drei Paar Strümpfe, woraus Jeder Matratze und Kopfpolster für das nächtliche Lager machte. Mein Tagebuch beschreibt diese Zeit, wie folgt: »Vier kleine Boote liegen auf dem Eise, sie sind mit schlafenden Menschen vollgestopft; denn es ist Nacht, und so groß ist die Hitze in diesen Booten, daß Niemand seines Pelzes bedarf, und schneegefüllte Töpfe schon zu Anfang Juni nach einigen Stunden geschmolzenes Wasser lieferten. Falls Toroßy sich nicht schon früher im Bellen übt, so beginnt der Tag erst dann, wenn die Köche den Suppentopf mit dem Ruf » Quanta!« in die Boote hereinreichen. Eine kurze Verwirrung folgt; Löffel und Blechtöpfe werden gesucht, erst nach einigem Herumkriechen herrscht wieder Ruhe; Jeder hat den Topf mit der siedend heißen Suppe in der Hand, deren Bestandteile ein Gemenge von Mehl, Pemmikan, Erbswurst, Brotstaub, boiled beef, Seehundsfleisch, Lunge, Blut und Bärenfleisch sind. Erfährt sie noch den Zusatz von Seehundsspeck, wird sie durch den Namen Gulyas ausgezeichnet.« Viel schlimmer noch erging es Franklin 1821 bei seinem Rückzug nach dem Kupferminenfluß. Er und seine Begleiter genossen Tripe de Roche, zu einer gallertartigen Masse gekocht, die den nagenden Hunger nur momentan etwas stillte, nicht Jedermann zusagte, bei Einigen heftige Unterleibsbeschwerden herbeiführte. Ferner aßen sie isländisches Moos, welches seiner Bitterkeit wegen vorher abgebrüht werden muß, das gebrannte Leder ihrer Renthierfellschuhe, gebrannte Riemen, Knochen, die man zerstampfte, Renthieraas, selbst dessen ganzen Aufbruch, Gehörn und Gerippe, in Fäulniß gerathenes Rückenmark, welches gleich der Brühe aus gerösteten Knochen so ätzend war, daß die Lippen davon wund wurden. Zeitweilig verloren sie sogar das Hungergefühl. In Ermanglung von Tripe de Roche tranken sie einen Absud von der labradorischen Theepflanze ( Ledum palustre) und von Sumpfthee; selbst alte lederne Hosen u. dgl. wurden verzehrt.

»Die Suppe ist verzehrt, kein Wort wird während der Mahlzeit gesprochen, auch jetzt geschieht dies nicht; – was sollte auch gesprochen werden, das sich nicht von selbst verstünde, oder nicht schon hundertmal erzählt ist? Kennt ja doch Jeder den Lebenslauf des Andern bis zu dessen Geburt. Diese vollständige Ruhe erfährt keine Steigerung, wenn Einige wieder in den Schlaf zurücksinken; doch endlich müssen auch diese dem allgemeinen Gebrauche folgen, ihre nassen Stiefel anziehen, um sich draußen mit Schnee zu waschen. Was dann beginnen? Todtenstille herrscht im Umkreise über den Gestalten des Eises, welche ihre bleichen kalten Glieder überallhin ausdehnen und das ganze große Eismeer in ein riesiges Leichentuch verwandeln. Es ist die unvergleichliche Todtenstille des Eismeeres. Bleigrau und sonnenlos liegt der Himmel darüber, kein Lüftchen regt sich, es ist weder warm noch kalt; zögernd schmilzt der Schnee, und dieses bleiche vergängliche Nichts des hinfälligen Eises bildet dennoch eine Welt voll Kerker und Hindernisse für die Kraft und Einsicht von dreiundzwanzig Menschen!«

»Sie haben ihre Plätze in den Booten wieder eingenommen, um sich dem Schmelzwasser, dem Feinde ihrer Gesundheit und ihres einzigen Stiefelpaares, zu entziehen. Nur derjenige, den die Tour zur Jagd trifft, hockt dort am Schollenrand vor einem Sprunge, welcher wenige Quadratklafter Wasser freiläßt, aber in welchem sich kein Seehund zeigen will, weil er kaum Platz hat, sich darin zu zeigen.«

»Für die Uebrigen ist der Aufenthalt im Boote nun die Zeit der beschaulichen Langweile. Glücklich, wer noch etwas Tabak hat, glücklich wer nach einer Pfeife solchen Tabaks nicht in Ohnmacht fällt, wer irgendwo in einer Verpackung ein Stückchen Zeitung findet, und stände Nichts darauf, als die Tagescurse, oder die jeder Erbswurst beigegebene Anleitung zu ihrer Bereitung; beneidenswerth ist derjenige, welcher über ein Loch in seinem Pelz verfügt, denn er kann es jetzt zunähen, am glücklichsten aber sind diejenigen, welche Tag und Nacht zu schlafen vermögen. Sie liegen unsichtbar unter die Ruderbänke gestaut, darüber eine zweite Schichte, von beiden sind nur die Fußsohlen wahrzunehmen, – kein Zustand für Geselligkeit! Mittag ist da. Etwas Thee ist über einem Thranfeuer ausgekocht worden; jeder erhält einen Topf davon, eine Handvoll harter Brodkrumen dazu, – eine Art von Hundefutter, welches die »unparteiische Commission« mit Argusaugen zuwägt; als dritter Gang wird in jedes Boot das Viertel eines Seehundfells hineingeschleppt und dessen Fett verschlungen. Etliche laden sich der Flossen, der Rippen oder des Kopfes wegen noch bei den Hunden ein, die an schwere eingegrabene Eisanker mit starken Tauen angebunden sind, damit sie nicht über die zum Trocknen aufgehängten Stiefel herfallen. In zudringlicher Nähe rastet ein Kreis von Möven; um jeden erreichbaren Speckabfall schreien und kämpfen sie wie um Provinzen. Einige von uns haben versucht, sie mit Netzen zu fangen; aber seitdem die Netze aufgestellt sind, sind die Vögel verschwunden.«

»Die Formalität des Mittagessens ist erfüllt; aber schon ist es so weit mit uns gekommen, daß der Thee die Gemüther der kleinen Gesellschaft aufregt. Hier hört man einen Trovatoresänger seine Stimme erheben mit derselben Bravour, wie auf S. Marco; dort wird das Ende der Franklin'schen Expedition und die Geschichte der zwei Gerippe, welche man in den Booten gefunden, zum zwölften Male erzählt, eine Geschichte, die nie verfehlt, ihren beunruhigenden Eindruck auszuüben und alle die herauszufordern, welche noch unbeugsamer sind, als Xenophon auf seinem großen Rückzug.«

»Das animirteste Gespräch aber, oder vielmehr ein beständiges Gezeter herrscht im berußten Zelt der Köche; eine Meinungsverschiedenheit entspinnt sich über die Reihenfolge, in welcher der Kessel auszukratzen, über eine Verkürzung bei der jüngsten Salzvertheilung, oder darüber, wer es gewesen sei, der gestern ein offenes Holzfeuer auf einem Spiritusfaß gemacht, oder die Stricke der Schlittenpackung durchschnitten habe, anstatt sie zu öffnen; viele phantasiereiche Apostrophen werden gehört, welche von der Rednergabe der Betheiligten Zeugniß geben.«

»Im Uebrigen gibt es nur noch eine Zerstreuung, die des Rauchens. Etliche haben ihren Vorrath bereits erschöpft; wer jetzt noch über einen halben Beutel verfügt, ist der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit, und wer seinen Nachbar auf eine Pfeife Tabak und etwas Wasser einladet, begeht eine glänzende, verschwenderische That. Geschäfte werden contrahirt, Lebensmittel im Tauschhandel mit Tabak bezahlt; mit jedem Tage steigt sein Werth, Tag und Nacht sind nicht zu unterscheiden; die Sonntage werden durch Beflaggung der Bootsmasten ausgezeichnet.«

In diesem gezwungenen Müßiggange verstrichen auch der 9., 10., 11., 12., 13., 14. und 15. Juli. Nur am 14. Juli hatten wir eine Ortsveränderung von dreihundert Schritten ausgeführt, um einen geeigneteren Platz für die Seehundsjagd auszuwählen und durch diese Bewegungen in uns den Schein des Reisens zu erhalten. Allerdings nur den Schein; denn in Wirklichkeit begann unsere Lage wahrhaft furchtbar zu werden, nicht durch plötzliche Ereignisse, sondern durch den Eindruck der unaufhaltsam, ungenützt verrinnenden Zeit, welche uns noch zum Leben vergönnt schien, und die durch den Anblick der täglich schwindenden Proviantmenge auch für die Sinne eine grauenvolle Beredsamkeit offenbarte, gleich dem vorschreitenden Zeiger einer Uhr.

Mit Standhaftigkeit hatten wir bisher die schwere Arbeit des Auf- und Absteigens mit Booten und Schlitten, d. h. mit noch immer siebzig Centnern, von Scholle zu Scholle, und das Uebersetzen über die schmalen Sprünge ertragen. Häufig hatten wir sie aus dem Wasser gezogen, jedes Stückchen des Proviants, die Waffen u. dgl. geschleppt, ein- und ausgeladen, und die geringsten Fortschritte hatten genügt, uns mit Freude und Dankbarkeit zu erfüllen. Das Eis ringsum lag dann völlig geschlossen, und etliche Male schon warteten wir in unseren Booten auf einer Scholle eine Woche lang still, bis es den Canälen gefallen würde, sich zu öffnen. Jede geleerte Blechbüchse mahnte uns mit furchtbarer Deutlichkeit an die erschreckende Abnahme unseres Proviants und an das Düstere unserer Lage.

Jetzt aber hatten die beharrlichen Südwinde selbst die geringen, mit ungeheurer Mühe erzielten Fortschritte vernichtet; nach Verlauf zweier Monate voll unbeschreiblicher Anstrengungen war die Entfernung, welche uns vom Schiffe trennte, nicht größer, als zwei deutsche Meilen! Deutlich lagen die Höhen der Wilczek-Insel vor uns; mit höhnender Klarheit erglänzten ihre Felszüge in dem immerwährenden Tageslicht. Es gewann den Anschein, als stünde uns nach langem Kampfe mit der Uebermacht des Eises nichts Anderes bevor, als die verzweiflungsvolle Rückkehr zum Schiffe und ein dritter Winter daselbst, bar jeder Hoffnung! – Und fanden wir es nicht wieder, so war das Eismeer unser Grab!

Vor uns und nicht minder zu unseren Seiten ragte das Eis in ungeschlachten Wällen empor; Zersplitterung, Zerfall und Schmelzung sprachen alle die tausend Tropfen unaufhörlich aus, welche von ihren sonnenglänzenden Leibern herabrannen, und warmer Regen (+1° R.) fiel darauf. Aber was half dieses Vertrösten und Hinhalten; sollten wir darauf angewiesen sein, zu warten, bis alles Eis vor uns zerflossen! Nur Ein Trost behielt noch seine belebende Kraft, daß es unser Geschick wohl kaum beschlossen haben könne, uns hier im Eise langsam umkommen zu lassen, nachdem es uns während der furchtbaren Zeit der Eispressungen erhalten und zu Entdeckungen verholfen, die sonst ohne Kunde für unsere Mitmenschen geblieben wären.

Solche Aussichten und Reflexionen aber waren nicht geeignet, uns heiter zu stimmen, zur ruhigen Sammlung unserer Gedanken beizutragen, und es war ein Glück für uns, daß die Erde rund und wir dadurch verhindert waren, zu sehen, wie viel Eis noch bis zum offenen Meere vor uns lag.

Keine Maßregel wurde versäumt, welche dazu beitragen konnte, unser Fortkommen zu erleichtern und unsere Lebensdauer zu verlängern. Das Kochen mit Thran hörte auf und fand nur noch mit Spiritus statt, um die Boote zu entlasten; die Brodrationen waren schon seit einigen Wochen verringert worden, selbst unser treuer Gefährte, der kleine Pekel, am 7. Juli der Noth zum Opfer gefallen. Eine immer größere Rolle spielten die Seehunde fortan in unserer Küche, auch sonst schien Alles von der glücklichen Verwendung von vierhundert Kugeln abzuhängen, die wir noch besaßen.

Am 15. Juli zeigte sich wieder ein Walroß in der Nähe der Boote; doch als wir darauf losstürzten, um es zu erlegen, war es verschwunden, und der kommende Regen trieb uns wieder in die Boote zurück. In dieser Zeit unseres Rückzuges, als alle Anzeichen seines Gelingens geschwunden schienen, nahte endlich die Stunde der Befreiung durch regelmäßige und täglich wachsende Fortschritte.

Schon am 15. Juli Abends, nachdem wir unser Nachtmahl verzehrt, hatte sich eine Reihe kleiner Canäle nach Südwesten hin geöffnet, und gegen Wind und Strömung, die beide aus derselben Richtung kamen, waren wir etwa eine Meile weit vorgedrungen. Am folgenden Tage (16. Juli) aber wehte Nordwest, und wir liefen in einen größeren Canal ein, nachdem unsere Boote in kleineren Wacken kurz vorher von dem sich schließenden Eise fast zerdrückt worden wären.

Mittags hatten wir 79° 39' erreicht und waren darauf noch so weit gesegelt, daß nur noch die höchsten Punkte des Cap Tegetthoff und der Wilczek-Insel zu erkennen waren, – blaue Schatten, umgeben von einem gelben Dunstsaum, Dem verblaßten Goldschnitt eines Buches völlig gleichend. darüber schwerer Wasserhimmel.

Auch die Art unseres Vordringens hatte sich plötzlich geändert. Bisher waren wir bei jedem Spalte genöthigt gewesen, zu übersetzen. Dieses Verfahren war ebenso anstrengend für uns, als schädlich für die Boote die geringsten Störungen unseres Weges, die Absperrung eines Canals durch einige Eisstücke genügten, stundenlange Arbeiten zu erzwingen. Die Ursache hievon bestand in der Dichtigkeit der Eislage und darin, daß alle Berührungsflächen der Schollen noch fest zusammengefroren waren.

Jetzt aber hatte sich das Eis nicht nur etwas geöffnet, es war nur noch selten durch den Frost verkittet, und die Anstrengung von 15-20 Mann reichte in der Regel hin, durch den Druck mit langen Stangen zwei Schollen auseinander zu schieben, oder eine Barrière zu beseitigen, welche einen Canal versperrte. In vielen Fällen genügte auch das Ausgraben vorstehender Eisstücke, um den Durchgang der Boote zu ermöglichen; in engen Passagen jedoch geschah ihre Fortbewegung mittels Stangen. Schloß sich ein solcher Canal so, daß ein Boot in Gefahr gerieth, zerdrückt zu werden, so sprang seine Besatzung herbei, um es sofort auf das Eis heraufzuziehen.

Die vorangehende Abbildung stellt eine jener Alltagsscenen aus diesem Rückzuge dar, das Auseinanderschieben der Schollen, damit das folgende Boot zwischen ihnen hindurch könne, ihre kreisende Bewegung aber schließt den Spalt im Vordergrunde, so daß das Boot hastig daraus befreit werden muß. Das Gepäck der Boote liegt auf einen Schlitten geladen, oder im Schnee; Menschen und Hunde sollen es über die Scholle zur nächsten Einschiffungsstelle schleppen. Zwei andere Boote, welche den Canal noch unverschlossen gefunden haben, sind bereits voraus; eines derselben lagert auf einem zu übersetzenden Eisfelde und erwartet das Herankommen der andern.

Scene aus dem Rückzuge.

Es kam jedoch auch in der folgenden Periode unserer Reise durch das Eismeer noch täglich ein- oder mehrmals vor, daß das Auseinanderschieben der Schollen mißlang, und wir genöthigt waren »überzusetzen«. In Fällen, wo das Hinderniß in Schollen von einer oder mehreren Meilen Durchmesser bestand, nahm unsere Fortbewegung dann die ursprüngliche Form des Schlittenreisens an. Zuerst wurde der Proviant mit dem Schlitten auf mehrere tausend Schritte, oder bis zum nächsten Wasserrande vorausgeschafft, und die Boote, welche unter der Bedeckung der Dienstunfähigen zurückgeblieben waren, von der gesammten Mannschaft einzeln auf die zurückgebrachten Schlitten gehoben, festgebunden und nachgebracht. Das kleinste unserer Boote wurde ohne Schlitten durch den Schnee geschoben, die Hunde transportirten wie immer die Brodsäcke und den Spiritus.

Ein Fortgang von vier Meilen im Tage reichte auch jetzt noch völlig aus, um uns zu befriedigen. Die Präcision aller Verrichtungen vor dem Aufbruche hatte dermaßen zugenommen, daß drei Stunden zu ihrer Erledigung hinreichten, eine lange Zeit für eine Schlittenreise, deren Zweck Entdeckungen sind, aber wenig für eine Gesellschaft, welche täglich nur sieben Stunden zu marschiren hat. Stießen die Schlitten während des Marsches auf Hindernisse durch das Eis, so eilten die Pioniere mit Krampen und Schaufeln voraus, um sie zu beseitigen. Die Seen auf dem Eise dagegen kamen nicht in Betracht; mit großem Gleichmuth wateten wir mitten durch sie hindurch, gleichmüthig nahm es auch Jeder auf, wenn er bei irgend einer Canalarbeit ins Wasser fiel.

Am 17. Juli hatten wir auf die eben erwähnte Art drei Eisfelder und drei kleine Wacken passirt. Am 18. Juli jedoch kamen wir trotz vielmaligen Uebersetzens nur sehr wenig vorwärts, weil der eingetretene Westwind das Eis dicht zusammengedrängt hatte. Umso freudiger wurden wir durch die Breitenbeobachtung dieses Tages überrascht, – 79° 22'! Nur den letzten Nordwinden konnten wir dieses glückliche Ereigniß zuschreiben; aber nicht minder erwachte damit auch unsere Befürchtung, daß der nächste Südwind uns aller gewonnenen Vortheile wieder berauben würde.

Wir waren jetzt in eine Region eingedrungen, welche sich durch die Menge ihrer Eisberge auszeichnete; viele derselben bedeckte Erde und Schutt, sie erschienen dadurch in dem blendenden Einerlei des Eises aus einiger Entfernung gleich Felsklippen.

Abends wurde eine Bärin in unserer Nähe erblickt; sie kam in vollem Lauf auf unsere Hunde zu und wurde auf 30 Schritt Entfernung niedergestreckt. Sie richtete sich zwar wieder auf, entlief zu einer Wacke, fiel nochmals am Eisrande getroffen ins Wasser und blieb lange genug auf dessen Oberfläche schwimmen, um durch die rasch herbeigeschafften Harpunen vor dem Versinken gesichert zu werden. Sie lieferte uns so viel Fleisch, wie etwa vier kleine Seehunde; von dem Skelett schabten einige von uns mit rabenhafter Gier noch die letzten Reste für ihren Privatgebrauch herab, um sie in Tüchern verwahrt mit sich herumzuschleppen und jeden Mittag etwa ein Pfund davon roh zu genießen, nachdem das Fleisch eine oberflächliche Reinigung im Meerwasser erfahren hatte. In der Suppe selbst aber zogen wir das Fleisch des Seehunds dem des Bären schon deßhalb vor, weil es viel rascher gar gekocht werden konnte, als dieses.

Am 19. Juli passirten wir wieder mehrere kleine Eisfelder, am 20. und 21. Juli eines von mehreren Meilen im Durchmesser. Ein nordwestlicher Wind begünstigte unsere Reise; am 20. Juli betrug unsere Breite 79° 11', unsere Länge 61° 3', am 22. Juli (79° 1' N. B.) war unser Fortgang so glänzend, daß wir nur zweimal genöthigt waren, die Boote aus dem Wasser zu ziehen, während wir sonst durch enge Canäle warpend, immer wieder in größere Wacken gelangten und ganze Beschäftigung bestand an diesem Tage darin, daß wir Wasser in ein leer gewordenes Spiritusfaß gossen und es als Grog tranken.

Am 24. Juli zogen wir wieder mit gutem Erfolge weiter; stundenlang fiel der Regen in Strömen herab, wir waren gänzlich durchnäßt, dampfend legten wir uns Abends in den Booten zur Ruhe. Der Regen hielt wie der gute Fortgang, am 25., 26. und 27. Juli fast ununterbrochen an, wir ertrugen Ungemach mit Freude, weil der Regen die Auflösung des Eises beschleunigte. Parry sagt sehr richtig, daß nichts das Eis so kräftig zerstört, als der Regen. Unsere Kleider waren beständig durchnäßt; mit Spannung erhaschten wir jeden Sonnenstrahl, um unsere Strümpfe zu trocknen, die sonst an unserem Leibgurt hingen, oder unsere erweichten Stiefel.

Eine unangenehme Enttäuschung stand uns jeden Morgen bevor, wenn wir ins Freie traten; denn den verlockenden Schilderungen nach zu urtheilen, welche die Köche von den bevorstehenden Aussichten des Tages entwarfen, Hütte man glauben sollen, daß über Nacht plötzlich alles Eis verschwunden sei, weil die Leute keinen Compaß zur Verfügung hatten und sich immer damit schmeichelten, daß dort, wo Wasser zu erblicken war, auch Süden sein müsse. Traten wir jedoch selbst ins Freie, so hatten wir die Schlitten und Boote sofort wieder über ausgedehnte Eishöcker zu ziehen. Klotz ging noch einen Schritt weiter; es war seine Anschauung, man müsse immer dem Wasser nach fahren, ungescheut, wenn es auch nach Norden gehe, »um die andere Seite rum«, – um den Nordpol nach Hause.

Am 27. Juli hatten wir 78° 48' erreicht, dann trat Südwestwind ein, und nach zweitägiger Arbeit beständigen Herausziehens und Uebersetzens der Boote sahen wir uns am 29. Juli wieder bis auf 78° 50' zurückgetrieben. Aber so unberechenbar fand die Bewegung des Eises in manchen Fällen statt, daß wir am 30. Juli trotz des noch immer herrschenden Südwestwindes bis auf 78° 32' N. B. (61° 3' Länge) herabgesetzt wurden.

Das Wetter war in dieser Zeit meist noch trüber als sonst, und für die Auswahl der geeignetsten Sprünge kein geringes Hinderniß. Der Horizont erstreckte sich von unsern Booten aus nur auf wenige Hundert Schritte; nur wenn wir eine der Anhöhen Eises erstiegen, betrug er etwa zwei Meilen, gewöhnlich begrenzte ihn jedoch Nebel auf den unmittelbaren Umkreis. Bei klarem Wetter waren wir stets in derjenigen Richtung gereist, wo ferner Wasserhimmel offene Meeresstellen verrieth; auch die Umwege eines südwestlichen oder südöstlichen Curses wurden nicht gescheut. Jetzt lag über jeder noch so geringfügigen Wacke eine dunsterfüllte Finsterniß, ihre seitlichen Ufer ließen sich nur auf wenige Schritte erkennen. Kaum waren wir mit etlichen Ruderschlägen in sie eingedrungen, so dämmerte bereits das Eis in ihrem Umkreise durch die trübe Luft, und eine blendende Lichtzone, – das wahre Schneeblendlicht – schied sich, fast scharf begrenzt, oberhalb der Eis- und Wasserflächen. War der Umkreis einer Wacke dagegen nicht zu überblicken, so blieb nichts übrig, als diesen bis zur Auffindung der nächsten Trennung des einschließenden Eises zu befahren. Umwege waren daher nicht zu vermeiden, weil man dem Verlauf der Sprünge oft ohne Wahl der besten Durchfahrten aufs Gerathewohl hin folgen mußte.

Auch in der folgenden Woche hielten südliche Winde an; wieder fiel heftiger Regen, und mühsam schleppten wir uns am 31. Juli und 1. August durch die Nebel weiter. Dieser anhaltende Regen hatte unser Brod inzwischen größtentheils durchnäßt und im Verein mit dem Auf- und Abladen in Brei oder Pulver aufgelöst. Am 2. August blieben wir (in 78° 28' Breite und 61° 49' Länge) daher einen halben Tag auf einer Scholle liegen, um es auf Riemen und Segeln ausgebreitet in der Sonne zu trocknen, die uns nach langer Abwesenheit endlich wieder einmal mit ihrem Anblick erfreute. Auch unsere Kleidung und unsere Strümpfe wurden bei dieser Gelegenheit wieder trocken. Unsere Umgebung hatte an solchen Tagen nichts mehr von dem trostlosen Unterweltscharakter des Nebelreichs; der Himmel war strahlend blau, rings um uns lag das Eis in blendendem Lichte, aus seinen Canälen schaute das tief ultramarinblaue Meer hervor.

Dieser gezwungene Aufenthalt gab uns auch Anlaß, die Seehundsjagd eifrig zu pflegen. Im Laufe der letzten sechs Wochen hatten wir erst sechzehn dieser Thiere erlegt, darunter sich zwei »Storkobben« befanden; ihre Leber wimmelte von Parasiten, so daß wir uns verhindert sahen, sie zu essen. Die Seehunde zeigten sich gewöhnlich nur dann nahe am Wackenrande, wenn wir lastenziehend mit großem Geräusch daselbst angekommen waren. Seit einiger Zeit waren sie jedoch selten, unsere Suppen dadurch recht dünn geworden. Nach siebzehn Fehlschüssen wurden am 2. August endlich zwei Seehunde erlegt, auch die Hunde konnten nun wieder gesättigt werden. Wiederholt hatten sie zwei Tage lang gefastet; denn die Blechbüchse, in welcher ich Speckabfälle, Fellstücke, Augen und dergleichen für sie zu sammeln pflegte, war häufiger leer als voll. Jubinal erhielt die beiden Köpfe sammt den Augen, Toroßy die Flossen sammt den Klauen; das fettbefreite Fell aber konnte nicht wie sonst den Proviant der nächsten Tage für sie bilden, sondern Jubinal's Schneider nahmen es in Anspruch, um ihm für seine wunden Pfoten täglich neue Schuhe zu machen.

Glücklicher waren wir bald darauf mit einem sehr großen Bären, der in dem Augenblicke erlegt wurde, als er im Begriffe stand, über einen fünfzig Schritt breiten Canal zu uns herüber zu schwimmen. Indem wir von seinem Fett genossen, überzeugten wir uns, daß der Thran des Bären weit schlechter, als der des Seehundes ist, weil er mehr Gewebstoffe enthält. Nicht ohne Zögern geschah diese Studie, während ein Seehundsfell Natürlich der Thran desselben. sofort verschwand, besonders wenn es mit einem halben Topf Brodstaub und einem kalten Spiritusgrog ausgegeben wurde. Dies geschah auch am 2. August noch spät Nachts, um die Überschreitung einer größern Wacke zu erleichtern, nachdem wir den ganzen Tag hindurch mit dichtem Eise gekämpft hatten, in welchem es nur kleine Wasserplätze gab, aber keine Canäle. Der Alkoholgrog aber war entscheidend für die Stimmung; das eilige Dahinrudern der vier Boote über die folgende Wacke hätte auf solche, die uns damals beobachtet hätten, den Eindruck einer harmlosen Wettfahrt gemacht. An demselben Tage wurde auch der Mond zum ersten Male seit Monaten wieder sichtbar.

Immer seltener wurde das Uebersetzen; der bisherige Charakter und das Einerlei unserer Reise verlor sich mehr und mehr, immer häufiger ging sie in Canälen und Wacken vor sich, deren Bänder, zwischen den treibenden Eisinseln geschlungen, in einigen Fällen die Ausdehnung von zwei bis vier Meilen erreichten. Mit guter Fahrt glitten wir, segelnd oder rudernd, über ihre Flächen hinweg, und kam es zu einem momentanen Abschluß dieser Fahrten, so erstieg Schiffslieutenant Weyprecht einen der Eishöcker, um angesichts des aufgestellten Compasses die fernerhin aufzusuchenden Wasserwege zu erspähen.

Diese Beschleunigung unserer Reise war durch eine Veränderung des Eises herbeigeführt worden, welche Sonnenschein und Regen, wenn auch nur langsam, doch beharrlich veranlaßten. Wieder kam die Zeit, wo jene unermeßliche Menge Schnee dahinsickerte, die Schmelzwasser sich in allen Rinnsalen sammelten, als Seen in den Mulden der Flarden sich ausbreiteten, durch das Eis sanken, – wiederkehrend in den Schooß des Meeres. Noch bis Ende Juni waren die Schollen mit tiefem Schnee bedeckt, unser Marsch über sie hinweg bedingte noch immer das mühsame Niedertreten eines Hohlweges; die Besatzung eines Bootes reichte gewöhnlich nicht aus, um dasselbe auf die zwei bis drei Fuß hohen Schollenränder aus dem Wasser emporzuziehen.

Auch in der Mitte der Schollen gab es vereinzelte Löcher, wie solche die Seehunde offen zu halten pflegen; wahre Fallen für diejenigen, welche unbedacht in ihre Nähe geriethen. Unter anderem gelang es auch Dr. Kepes, dies zu constatiren. Sein ärztlicher Beruf hielt ihn oft von den Abtheilungen fern, um den schwer verwundeten Arm von Stiglich zu untersuchen und neu zu verbinden. An einem dieser Tage geschah es, daß Dr. Kepes, im Begriffe den Vorausgegangenen nachzuziehen, durch eines der erwähnten Löcher bis zur Brust in das Wasser einsank. Da er sich aus diesem kalten Bade nicht selbst befreien konnte, so wartete er mit Gleichmuth darauf, bis Jemand des Weges käme. Ich allein erschien mit dem beladenen Hundeschlitten zufällig in seiner Nähe, allein die große Ruhe, mit der mich Dr. Kepes empfing, führte mich irre. Seine Stellung als eine freiwillig gewählte Ruhelage ansehend, rief ich verwundert aus: »Ja, was machen denn Sie da?« Erst die Erwiederung: »Ziehen Sie mich heraus, dann erkläre ich Alles!« offenbarte meine Verblendung. Dr. Kepes war von zersplittertem Eise umgeben; ich reichte ihm das Gewehr, zog ihn auf festen Boden empor und beruhigte die Hunde, welche ihren sonstigen Rivalen bei den Abfällen von Seehundsköpfen mit Knurren empfingen.

Dr. Kepes bricht durch das Eis.

Mitte Juli waren die Schneelager geschmolzen, zahllose Seen hatten sich auf dem Eise gebildet. Jetzt aber, Anfangs August, waren diese Seen größtenteils durch die Spalten des Eises hindurchgesickert und ins Meer abgeflossen. Die ausgewaschenen Ränder der Schollen waren durch, den Wellenschlag und das Aneinanderdrängen des Eises eingestürzt; ein einziger Regen oder warmer Tag reichte hin, um ihre Bruchtheile im Meerwasser aufzulösen. Die Oberfläche der Schollen war nun mit hartem Firnschnee geringer Tiefe bedeckt, ihre verticale Mächtigkeit hatte sich etwa um die Hälfte vermindert. Aus all diesen Gründen verringerte sich die Schwierigkeit, die Boote auf das Eis zu ziehen, wuchs aber auch die Gefahr, mit Booten und Gepäck durch dasselbe zu brechen und die schweren Kisten unserer Lebensmittel vor unsern Augen versinken zu sehen, sobald wir uns dem Wasserrande näherten.

In dem Maße, als die Eisfelder an Umfang und Dicke sich verminderten, nahm auch die Zahl und Breite der Canäle zu; unser Fortgang wuchs, je mehr der Wechsel heftiger Südostwinde und Windstille dazu beitrug, das Eis zu zertheilen; die Tage des 3., 4., 5. (78° 19' Breite und 60° 45' Länge), 6. und 7. August verliefen unter zunehmend größeren Strecken zurückgelegten Weges. Das Eismeer verlor immer mehr seinen bisherigen Charakter als Packeis und nahm den eines geschlossenen Treibeises an, welches nur dort nicht zu durchbrechen war, wo es in dichtern Streifen lag. Trat Nebel ein, dann waren wir nach einigen Irrfahrten gewöhnlich darauf angewiesen, das Aufklären des Wetters bei oder auf einer Scholle abzuwarten. Im Uebrigen banden wir die Stunden unseres Reisens an keine Tageszeit mehr. Die Stimmung belebte sich; unermüdlich wurden wir im Rudern, im Auseinanderstoßen des Eises und im Schleppen der Boote.

Am 7. August hatten wir unsern Fortgang sogar auf zwölf Meilen geschätzt; es war der erste Tag ohne Schlittenziehen und Uebersetzen, und als wir Mittags unter leichtem, gut vertheiltem Eise hielten, sahen wir eine weitgedehnte Schwingung des Meeresniveaus aus Süden heranziehen, welche das Eis gleichmäßig langsam hob und senkte. » Die DünungVerflachte Wogen des Oceans. riefen wir jubelnd aus, – » das offene Meer in unserer Nähe!« Unter offenem Meere aber verstanden wir damals soviel wie Rettung. Unsere Ueberraschung, seine Nähe schon unter dem 78. Breitegrad zu fühlen, war so groß, daß wir trotz dieses untrüglichen Anzeichens kaum daran zu glauben wagten, und eine unbeschreibliche Aufregung sich unser bemächtigte. Nur für einen Augenblick wechselte diese ihren Gegenstand, als wir zwei Bären erblickten, die hundert Schritte von uns entfernt im Wasser einherschwammen. Sofort wurden zwei Boote in das Wasser hinabgeschoben und bemannt, die Verfolgung begann. Allein die Bären schwammen rascher, als vier Mann in jedem Boote zu rudern vermochten, und erhoben sich zuweilen, nach ihren Verfolgern zurückblickend, weit über das Wasser. Plötzlich war einer der beiden Büren spurlos verschwunden; gleich darauf hatte der andere ein Eisfeld erreicht und sich auf dieses emporgezogen. Er war unvorsichtig genug, uns hier entgegenzustarren; als jedoch ein Schuß aus dem vordern Boote fiel, entlief er und schwamm so rasch zu einer entlegenen Scholle hinüber, daß es vergeblich gewesen wäre, ihm noch ferner nachzusetzen. Keine Blutspur war auf dem Eise zu finden, unsere theekochenden Gefährten auf dem verlassenen Eisfelde kaum noch zu erkennen; es wäre daher gefährlich gewesen, uns noch weiter von ihnen zu trennen. Abends hielten wir abermals vor einem dichten Complex kleiner Schollen, Das Eis glich damals völlig jenem, das wir 1871 in 77½° nördlicher Breite östlich von Spitzbergen Wochen später angetroffen hatten. deren Abstände dem Hindurchzwängen keinen Spielraum ließen, und die, wie alles übrige Eis, hinfällig und morsch geworden. Diejenige Scholle, welche wir für unser Nachtlager auswählten, zerbrach in dem Augenblicke in mehrere Stücke, als wir unsere Boote auf sie emporzogen; glücklicherweise entgingen wir dem Verluste unseres Proviants. Beim Anlegen an dem Rand einer Scholle hatten wir stets noch einer andern Gefahr zu begegnen: dem Emportauchen untergeschobenen Eises, welches durch irgend eine heftige Bewegung veranlaßt werden konnte.

Bärenjagd im Wasser.

Seit Jahren gewohnt, zwischen Extremen zu schwanken, waren wir auch diesmal sofort bereit, mit Sicherheit darauf zu bauen, daß schon die allernächsten Tage uns aus den Fesseln des Eises befreien müßten; und unsere Hoffnungen gewannen neues Leben.

Doch abermals schienen sie vereitelt zu werden. Schon am 7. August, bevor wir uns zur Ruhe begaben, hatte der herrschende Nordwind soviel Eis um uns versammelt, daß wir eingeschlossen wurden. Am nächsten Tage (8. August) erkannten wir nach mehrstündigen Versuchen, uns durch die geschlossen daliegenden kleinen Hindernisse hindurchzudrängen, daß wir ohne einen entscheidenden Umschlag des aus Südwesten eingesetzten Windes völlig bewegungsunfähig wären. Von gleicher Erfolglosigkeit blieben unsere Anstrengungen am 9. August. Nicht das mächtige Eis von ehedem hielt uns gefangen, unter dessen Mauern wir uns so oft wie in Kerkern gefühlt, sondern flache erbärmliche Schollen. Ihr Durchmesser war 40-60 Schritte, kaum ragten sie über das Wasser; aber weil sie unübersehbar und dicht geschart lagen, waren sie nicht minder undurchdringliche Hindernisse. Auch der Seegang war fast unmerklich geworden, so daß unser Glaube an die Nähe des befreienden Meeres erschüttert wurde.

Wieder fiel Regen; wir blieben in den Booten liegen, um auf die Zertheilung des Eises zu warten. Außerhalb derselben blieb fast kein Raum zur Bewegung, und so dünn war das Eis der uns umgebenden Schollen, daß wir sie ungern betraten, weil wir einzubrechen befürchten mußten. Ueberall gab es Sprünge, aber es ließen sich keine Seehunde mehr in ihnen erblicken.

Unerträglich war dieser erneuerte tagelange Aufenthalt in den kleinen Booten. Man konnte nicht immer schlafen, zum Rauchen hatten nur die Sparsamsten noch etwas Tabak. Einige der Uebrigen hatten den ausgekochten und wieder gedörrten Thee schon seit längerer Zeit in Cigarretten aus Packpapier geraucht, oder etwas Lunte in ihre Pfeifen gestopft. Auch sämmtlicher Zündschwamm war bereits verraucht, – eine furchtbare Prüfung für die Geruchsnerven der enthaltsameren Nachbarn. Haller ging noch weiter und rauchte selbst im geschlossenen Boote Papier! Nebst vielen leeren Blättern seines Notizbuches besaß er eine Sammlung von Packpapier; im Interesse des öffentlichen Wohles war ich genöthigt, gegen ihren Verbrauch in solcher Weise einzuschreiten. Er entschädigte sich mit einer andern Beschäftigung, die wenigstens für uns ohne Aergerniß war, indem er seine Ration an Thee, Salz und Brodstaub vermischt als Suppe kochte. Da war auch Klotz, abgerissener als alle Andern, dessen Kleider nur noch an dünnen Fäden und wie aus Mitleid zusammenhingen, und der, wenn er als Koch fungirte, mit dem Kochlöffel aß, ohne sich im mindesten genirt zu fühlen.

Endlos schienen die Tage; es gab ein immerwährendes Stiefel- an- und -ausziehen, ein gedankenloses Herumschauen in den Booten, ein Herumschauen auf dem Eise; alle geistige Thätigkeit concentrirte sich in den zwei Wünschen, daß das Eis sich bald zertheilen, und die nächste Mahlzeit bald wieder fertig werden möchte. Niemand besaß mehr einen Reservevorrath ersparter Lebensmittel; die Tage waren vorbei, wo man einen brodgefüllten Strumpf am Leibgurt des Einen sah, oder einige Bärenrippen in der Hand eines Andern, welche er beim Uebersetzen des Eises mit sich schleppte. Und bei allem Hunger, den nur der Müßiggang uns fühlbar machte, hatten dennoch einige die Beleibtheit von Wachteln angenommen. Hätte man uns zur Zeit todt aufgefunden auf unserer Scholle, so würde man geglaubt haben, wir seien in Folge vielen Essens gestorben, – so dick waren in der That die Meisten von uns geworden.

Mit furchtbarem Ernst enteilten die Tage; der August war vorgerückt, und die kurze Spanne Zeit, welche der nur noch für einen Monat reichende Proviant und die Jahreszeit zur Verfügung ließen, verfehlten den Eindruck nicht, daß wir vor der Entscheidung standen.

Schon seit drei Wochen hatte die Bildung jungen Eises auf dem Meere, wie auf den Süßwasserlachen der Schollen begonnen; denn zu allen Zeiten des Sommers war die Temperatur während der Nacht nicht selten 2-3 Grad unter Null gefallen. Bisher hatte der hohe Stand der Sonne hingereicht, diese Eisrinden während des Tages wieder zu schmelzen. Jetzt aber begannen sie, die verfallenen Schollenreste zu unlösbaren Hindernissen zu verknüpfen; die Laune eines Windes konnte uns abermals, wie vor zwei Jahren nach Norden entführen, mußte diesmal aber sicher Vernichtung bringen.

Am 9. August hatte unsere Breite 78° 9' betragen, ungünstiger, als wir erwartet hatten. Doch was würde uns selbst der 77. Grad genützt haben, wenn das offene Meer nicht wirklich schon jetzt in unserer Nähe war, – das offene Meer, an das, seitdem das Wort einmal ausgesprochen, sich alle Hoffnungen klammerten! Nur das Geräusch einer Brandung, das entweder unsere Einbildung, oder unsere durch die Noth geschärften Sinne aus Süden herüberhörten, war für diese Hoffnung noch eine Stütze.

Auf diese Weise verlief auch der 10., 11., 12. und 13. August, das Kalfatern unserer Boote bildete die einzige Zerstreuung. Emsig spähten wir nach dem südlichen Wasserhimmel und jeder Veränderung im Eise. Der Wind behielt seinen westlichen Charakter, und wie so oft, trieben wir auch jetzt rechts von seiner Richtung dahin; denn am 10. August betrug unsere Breite 78° 6' in 60° 45' Länge, am 11. August 78° 1', am 13. August 77° 58' in 61° 10' Länge. Am 12. August Abends hatte sich das Eis etwas gelockert; wir waren eine Meile weit gegen Süden vorgerückt und dann abermals besetzt worden. Den ganzen Tag hindurch regnete es, in der folgenden Nacht fiel die Temperatur mehrere Grade unter Null. Am 13. August hatte sich zolldickes Eis auf der Oberfläche der Süßwasserlachen gebildet, und da wir des Morgens zu ihnen hintraten, um wie gewöhnlich daraus zu trinken oder Toilette zu machen, mußten wir ihre harten Krusten zuerst durchbrechen. In allen Zügen sprach es sich aus, daß der Sommer Abschied genommen und der kurze nordische Herbst begonnen habe. Auch am Tage hatten wir jetzt den Eindruck der wiederkehrenden Kälte.

Kalfatern der Boote.

Endlich am 14. August Nachts öffnete sich das Eis etwas; wir vermochten unsere Reise wieder fortzusetzen. Kurz vor dem Aufbruch wurde ein Seehund geschossen, den die Hunde entdeckt und bellend angefallen hatten, es war der achtzehnte und letzte während des Rückzuges. Mit vieler Stangenarbeit zwängten wir uns durch eine lange Aufeinanderfolge von Canälen. Mitternachts machten wir angesichts einer größeren Wacke eine kurze Rast, um uns durch einige Stückchen Thran, etwas Alkohol, Schmelzwasser und Brodstaub zu erfrischen. Das letzte Schauspiel der Eismeerwelt lag vor uns: die Mitternachtssonne, darunter das gelb beleuchtete Meer, die kohlschwarzen Beleuchtungseffect. Flöße des Eises und ihr Erglühen in starre rosige Flammen nach den Seiten hin.

Ueberallhin lag Treibeis, wir hatten das Gefühl, als sei die Stunde nahe, welche uns dem Eise entreißen sollte, und wie alle Dinge in der Welt erst dann an Werth gewinnen, wenn wir im Begriffe stehen, sie zu verlieren, so fiel uns auf einmal der Gedanke schmerzlich, dem starren Reich des Poles binnen wenigen Augenblicken schon für immer entsagen zu sollen, der Eismeerwelt, die sich jetzt mit ihrem vollen Zauber schmückte. Segelnd zogen wir weiter; die Wacken wurden immer größer, das Eis nahm ab und die Dünung zu. Die mittägige Breite fiel bis auf 77° 49' herab; noch öffnete sich eine große Wacke vor uns, und bei heftigem Seegang zogen die Boote, viel Wasser schöpfend, darüber hin, – es war die letzte Wacke, der letzte Saum des Eises lag vor uns, darüber hinaus grenzenlos das offene Meer!

Um 6 Uhr Abends hatten wir auch diesen äußersten Saum der zusammengedrängten Eisgrenze betreten und unsere Boote zum letzten Male auf eine Scholle emporgezogen. Wie die Stimme des Lebens schlug das rhythmische Brausen der Meereswogen wieder an unser Ohr; wieder sahen wir ihre Brandung in weiße Schleier zerflattern, und als wir auf die dunkle Fluth hinausblickten, hatten wir das Gefühl, als seien wir nach langer Grabesnacht wieder erwacht zu einem neuen Dasein! Nirgends mehr durchbrach den finsteren Baldachin des Himmels das unheilvolle Zeichen des Eisblinks; nicht minder groß, als unsere Freude, war unsere Verwunderung, die Grenze des Eises schon hier in der überraschend hohen Breite von 77° 40' (61° Länge) und damit zugleich die erste Bürgschaft unserer Rettung erreicht zu haben. In der Luftlinie hatten wir vom Schiffe aus bis hierher 131 Meilen zurückgelegt, in Wirklichkeit aber 300 Meilen mit Schlitten und Booten durchzogen.

Für einige Stunden hatten wir uns zur Ruhe begeben, aber schon um 2 Uhr Morgens weckte uns die Wache; denn der Ostwind hatte schwere Eismassen um uns gesammelt, welche die Dünung mächtig hob und senkte. Schon war der Wasserrand mehrere Hundert Schritte entfernt; jede Zögerung, eilig zu entrinnen, konnte der Anstrengung von Tagen bedürfen, um wieder frei zu werden. Nach einiger Stangenarbeit, Ein- und Ausladen, hatten wir den Saum des Meeres wieder erreicht. Das Eismeer lag jetzt hinter uns, und hier auf der letzten Scholle trafen wir unsere Vorbereitungen für die Reise über das offene Meer.


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