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Die zweite deutsche Nordpol-Expedition

1869-1870.

Die Fahrt der »Germania«.

Plan der Expedition und ihre Ausrüstung. – Abfahrt. – Jan Mayen. – Die Eisgrenze. – Trennung der Schiffe. – Ein Walfischfahrer. – Eindringen in das Eis. – Thierleben. – Rückkehr zur Eisgrenze. – Refraction. – Neues Eindringen in das Eis. – Landung auf der Sabine-Insel. – Dr. Pansch verwundet. – Vordringen nach Norden. – Rückkehr zum Cap Philipp Broke. – Moschusochsen. – Die Insel Shannon. – Erste Schlittenreise. – Rückkehr zur Sabine-Insel. – Sattelberg. – Das erste Nordlicht.

 

Es ist allgemein bekannt, daß Dr. Petermann der Urheber der zweiten deutschen und zweier österreichischer Polarexpeditionen des vergangenen Decenniums war. Zweck dieser Unternehmungen war die Erforschung der arktischen Centralregion; die deutsche wollte sie auf dem Wege westlich von Spitzbergen, die österreichischen östlich davon anstellen. Der erste Erfolg dieser Bestrebung war eine Recognoscirungsfahrt (1868) des Capitän Koldewey im ostgrönländischen und spitzbergen'schen Meere; ihr Ergebniß entschied wider die Frage, ob der Pol im landfernen Meere mit einem Schiffe zu erreichen sei. Dr. Petermann und ein in Bremen und in den großen Städten Deutschlands gebildetes Comité hatten im Winter 1868/69 die Mittel zu einer neuen Expedition aufgebracht und die Schiffe »Germania« und »Hansa« für zwei Jahre ausgerüstet; schon im folgenden Frühjahr sollten sie auslaufen. Der Plan der Expedition galt insbesondere der Erforschung der arktischen Centralregion vom 74.° nördl. Br. an, auf Basis der ostgrönländischen Küste. Diese Bedingung, durch Capitän Koldewey veranlaßt, sprach das Aufgeben der bisherigen Schifffahrtspläne im landfernen Meere aus und entschied sich für das Vordringen im erwarteten »Küstenwasser«. Die Instruction, welche Dr. Petermann der Expedition übergab, schloß sich dieser Anschauung mit Nachdruck an. Dieselbe Instruction schrieb die geographische Seite der Unternehmung als Hauptaufgabe vor, welcher alle übrigen Rücksichten unterzuordnen wären.

Führer des Unternehmens war Capitän Carl Koldewey. Wissenschaftliche Begleiter der Expedition waren auf der »Germania«: Dr. Carl Börgen, Dr. R. Copeland für Astronomie und Physik; Dr. Adolf Pansch für Zoologie, Botanik, Arzt an Bord der »Germania«; – ich Zufälligkeiten bestimmen das menschliche Leben. Mein militärischer Beruf führte mich 1860 in die Garnison Verona. Drei Jahre lang blickte ich hier von dem Flachlande aus voll Sehnsucht auf die Alpenkette. Die Erforschung hoher Gebirgsgruppen Tyrols schien mein Lebenszweck geworden. Dieses Streben brachte mich mit dem großen Geographen Dr. Petermann in Verbindung. Er war es, der das kleinere Ziel, das ich mir gesteckt hatte, mit dem größern vertauschte: an der Lösung der Polarfrage mitzuwirken. Aus seine Veranlassung erfolgte meine Theilnahme an der zweiten deutschen »Nordpolexpedition«. Dem Glücke habe ich meine bescheidenen Erfolge zuzuschreiben. selbst für die Zwecke der Landesaufnahme und Schlittenreisen. Die wissenschaftlichen Begleiter der »Hansa« waren: Dr. Buchholz, Arzt an Bord der »Hansa«, für Zoologie, Dr. Gustav Laube aus Wien für Geologie.

Von den für die Expedition bestimmten Schiffen war das durch die Firma Tecklenborg neu und so stark als möglich erbaute Hauptschiff »Germania«, ein Schraubenschooner, 90 Fuß lang, 22½ Fuß breit, 11 Fuß tief, 143 Tons groß, mit einer Eisenhaut umkleidet; die Maschine von 30 Pferdekraft gewährte bis 4½ Seemeilen Fahrt in der Stunde. Das zweite Schiff, ein älteres Fahrzeug, wurde angekauft, für die Fahrt im Eismeere verstärkt und erhielt den Namen »Hansa«.

Die Besatzung der Germania machten aus:

Heinrich Sengstacke
1. Steuermann
Otto Tramnitz
Derselbe verlor 1875 beim Schiffbruch des Dampfers »Deutschland« sein Leben. 2. Steuermann
Carl Krauschner
Maschinist
Warkmeister
Bootsmann
Büttner
Zimmermann
Ollenstädt
Koch
Ellinger
Herzberg
Klentzer
Mieders
Iversen
Matrosen
Wagner
Heizer

Mithin betrug die Gesammtzahl der Köpfe 17 Mann.

Die Besatzung der »Hansa« bestand aus 12 Mann, und zwar wie folgt:

Paul Hegemann
Capitän
Richard Hildebrandt
1. Steuermann
Wilhelm Bade
2. Steuermann
Bowe
Zimmermann
Wüpkes
Koch
Heyne
Kewell
Gätjen
Schmidt
Tilly
Büttner
Gierke
Matrosen

Die »Hansa« hatte 110 Tons Kohlen an Bord und bildete dadurch das Transportschiff der »Germania«, welche nur mit 70 Tons derselben belastet werden konnte.

Die Ausrüstung beider Schiffe an Lebensbedarf geschah ohne Rücksicht auf Kosten. Nebst Hartbrod, präservirtem Fleisch, Conservegemüsen, condensirter Milch, Butter, Käse, Schinken, Zungen, Speck, Hülsenfrüchten, Mehl – befanden sich eine Menge anderer Nahrungsmittel von vorzüglicher Qualität an Bord. Salzfleisch wurde nur wenig mitgenommen; von dem für die Schlittenreisen bestimmten Pemmikan waren leider nur 90 Pfund aufzutreiben. Ungewöhnlich groß war der Vorrath an geistigen Getränken; an Bord der »Germania« allein befanden sich etwa 2500 Flaschen Wein, Cognac, Rum u. dgl. Limoniensaft reichte für ein Jahrzehnt aus.

Die wissenschaftlichen Instrumente an Bord der »Germania« bestanden in einem Universalinstrument, einem Basismeßapparat, einem Passageinstrument, einem Magnetometer, einem Apparat zur Bestimmung der magnetischen Intensität, einem Inductions-Inclinatorium, zwei Aräometern, einem Spektroskop, zwei Spiegelprismenkreisen, einem Repetitionsspiegelkreis, einem Fernrohr, 4 Box-Chronometern, zwei Taschenchronometern, 4 Octanten, 4 Sextanten, 6 Compassen, einem Theodolit, einer Meßkette nebst Meßtisch, zwei Gefäßbarometern, 3 Aneroïdbarometern, 10 Quecksilber-, 4 Weingeist-, 3 Maximum-, 3 Minimumthermometern, 2 Metallthermometern, 2 Psychrometern, 2 Aktinometern ( black-bulb-Thermometern) etc. Die Gewehre und Munition (System Wänzl) verdankten wir meist der Güte Seiner Excellenz des Baron Kuhn, damaligen österreichischen Kriegsministers; außerdem gab es einige Lefaucheux-Gewehre an Bord.

Die Expedition verließ Bremerhafen am 15. Juni 1869, in Gegenwart Seiner Majestät des Königs von Preußen und vieler hoher Vertreter des norddeutschen Bundes. Beide Schiffe wurden von städtischen Dampfern die Weser hinabgeschleppt; erst nun bedienten sie sich der Segel. Gemeinschaftlich segelten sie durch die Nordsee; stürmisches Wetter hemmte ihre Fahrt und machte die Beengtheit in den Räumlichkeiten der rollenden Fahrzeuge besonders für die zahlreichen Seekranken widerwärtig. Erst Anfangs Juli hörte das ungünstige Wetter auf; die norwegische Küste kam in Sicht, worauf wir unsern Cours nach Nordwest abänderten. Immer mehr sahen wir uns den Bahnen des Weltverkehrs entrückt; es zeigten sich keine Schiffe mehr am Horizont wie bisher, unsere Gesellschaft bestand nur noch in dreizehigen Möven ( Larus tridactylus L.), Raubmöven ( Lestris) und Delphinen. Nach vorübergehender Windstille, zu Meerbädern benützt, trat günstiger Fortgang ein, so daß wir den Polarkreis am 5. Juli Abends überschritten. Die hohen Breiten, in welchen wir uns schon jetzt befanden, hatten zur Folge, daß die Sonne auch Nachts nicht mehr unterging, und daß wir selbst Mitternachts keines Lichtes im Schiffe bedurften. Allein sie brachten auch Schneefälle und fast ununterbrochene Nebel; zugleich fiel die Temperatur bis auf wenige Grade unter Null. Von dieser Zeit an traten die meteorologischen, aräometrischen und Wassertemperatur-Beobachtungen durch Dr. Borgen und Dr. Copeland in eine fortlaufende Reihe. Für Dr. Pansch hatte die Gelegenheit zu zoologischen Untersuchungen schon seit Wochen begonnen. Capitän Koldewey unternahm Lothungen so oft als möglich; er sagt darüber: »Ihr Resultat ergab, von dem Ausgange der auffallend seichten Nordsee an gerechnet, ein ziemlich gleichmäßiges Abfallen des Meeresgrundes bis zur Insel Jan Mayen und weiterhin bis zur Eisgrenze, und zwar von 80-1066 Faden.« Am 9. Juli trat die Insel Jan Mayen mit ihren schneeerfüllten Schluchten aus dem Nebel; ihr höchster Punkt, der 6400 Fuß hohe Beerenberg, war jedoch nicht sichtbar. Bald darauf verschwand die »Hansa« unsern Blicken. Von Jan Mayen an, dem Rendez-vous-Platze aller Robben des Nordatlantic, wurden die Seehunde ( Phoca grœnlandica, Müll.) zahlreich, ihre Jagd lieferte einen geschätzten Beitrag für unsern Tisch. Um die bevorstehende Schifffahrt im Eise durch die Erweiterung des Aussichtskreises zu erleichtern, wurde das »Krähennest«, eine Tonne zum Auslugen, am Großmast befestigt. Elfenbein-und Eismöven verkündeten die Nähe der Eisgrenze, die wir schon am 15. Juli erreichten (74° 47' nördl. Br. – 11° 50' westl. Länge).

Das erste Eis.

Wir befanden uns hier vor jenem gewaltigen eisbelasteten Polarstrom, der, bis 40 geographische Meilen breit, an der Ostküste Grönlands herab nach Süden zieht und durch den Golfstrom verhindert wird, sich weiter nach Südosten auszubreiten. Dieser Strom, an dessen Existenz die Grönlandsfahrer schon im vorigen Jahrhundert glaubten, dessen Geschwindigkeit 5-10 Meilen beträgt, ist mit dem schwersten Eise bedeckt, das überhaupt vorkommt. Je näher der Küste, desto größer sind seine Eisfelder; nur im äußern östlichen Theile walten die »Schollen« vor – je nach der Richtung des Windes bald verstreut, bald dicht gedrängt, wie es jetzt der Fall war, stets aber von großer Stärke. In der Nähe gewährt der geschlossene Saum des Eises den Anblick eines schwimmenden, klippenreichen Gletschers. Der fremdartige Anblick und der unwillkürliche Hinblick auf die Gefahren und Geheimnisse seines Innern üben auf Jenen, der es zum ersten Male sieht, einen mächtigen Eindruck aus. Eine heftige Brandung findet an dieser »Eiskante« statt; selbst bei ruhiger See verkündet sich die Nähe des Eises durch ein Brausen schon aus großer Entfernung. Auch dem Gefühle macht sie sich plötzlich bemerkbar, durch jähes Fallen der Temperatur fast bis auf den Gefrierpunkt. Nur eine Erwägung ließ die Gefahren der bevorstehenden Eisschiffahrt in milderem Lichte erscheinen; die Wahrscheinlichkeit, Land zu erreichen. Die wichtige Frage nach einem Winterhafen hing für uns nicht so sehr vom Zufall ab, wie bei der österreichisch-ungarischen Expedition.

Drei Tage lang kreuzte die »Germania« an der Grenze des Eises, um die »Hansa« aufzusuchen. Erst am 18. Juli kam diese in Sicht; Nebel war die Ursache, daß die Schiffe sich nicht schon früher bemerkt und vereinigt hatten. Aber schon zwei Tage darauf, als wir zur Aufsuchung einer größern Einbucht in das Eis nach Süden fuhren, kam abermals Nebel, und das Mißverstehen eines von der »Germania« gegebenen Signals genügte, um die Schiffe abermals, diesmal für immer zu trennen. Die »Hansa« ging ihrem Untergang, die von uns abgeschiedenen Gefährten den furchtbarsten Prüfungen entgegen, welche das Eismeer aufzuerlegen im Stande ist. Ohne Zweifel wurde die Expedition schon durch die Trennung der beiden Schiffe mancher Vortheile verlustig. Viel schlimmer noch, als bei uns gestalteten sich die Voranzeichen bei J. Roß' zweiter Reise. Sein Schiff begann zu lecken, der Sturm hatte eine Vorstenge fortgeführt, ein Mast war zersprungen, die Maschine unbrauchbar geworden; der Heizer hatte sich den Arm zerschmettert, die meuterische Mannschaft seines Begleitschiffes war von ihm abgefallen.

Am 20. Juli erblickten und sprachen wir den Bremer Walfischfahrer »Bienenkorb« (Capitän Hagens). Dr. Dorst aus Jülich befand sich an Bord dieses an der Eisgrenze jagenden Schiffes. Seine bisherige Beute war gering; der interessanteste Theil bestand in drei in einem Käfig eingeschlossenen lebenden Eisbären. Der »Bienenkorb« nahm unsere letzte Post mit in die Heimat und entwarf uns ein trauriges Bild der diesjährigen Eisverhältnisse. Nebel und widrige Winde hinderten Capitän Koldewey noch immer, in das Eis einzudringen. Am folgenden Tage betraten wir das Scholleneis zum ersten Male, um unsern geschwundenen Süßwasservorrath aus einem Eistümpel zu ergänzen. Der Schnee, welcher das Eis überdeckte, bestand aus vollständigen Krystallen, meist sechsseitigen, bis 2½ Zoll langen Pyramiden.

Erst am 25. Juli (73° 40') vermochten wir in das Eis einzudringen; doch schon nach wenigen Meilen stieß die »Germania« auf undurchdringliches Packeis. Die nächsten Tage verliefen mit dem Aufsuchen einer Einbucht nach Westen. Nebel zwang den Capitän, wiederholt an Schollen anzulegen und das Aufklären des Wetters abzuwarten, – eine eifrig benützte Gelegenheit zur Jagd auf Seehunde und die in Schlangenwindungen auftauchenden Narwale. Zahl und Arten der unsere Umgebung belebenden Vögel waren noch gering; sie bestanden in Teisten ( Uria grylle), Elfenbeinmöven ( Larus eburneus), Raubmöven ( Larus lestris), Rotjes ( Mergulus ale), Lummen und Alken. Keiner dieser Vögel nähert sich dem Menschen mit größerer Dreistigkeit, als der graue Eissturmvogel (Mallemucke), wir fingen ihn mit Angeln; – selten zu seinem Vortheil, war er einem Stück Speck gegenüber den Warnungen unzugänglich, welche der Anblick seiner gefangenen Kameraden ihm ertheilen mußte. Man staunt über die Gefräßigkeit dieser Thiere, wie viel sie im Verhältniß zu ihrer geringen Größe verschlingen.

Am 29. Juli kam Grönland zum ersten Male in Sicht, und zwar Cap Broer Ruys jenseits einer völlig unschiffbaren Packeismasse. Dessenungeachtet erreichte die Temperatur an klaren Tagen eine außerordentliche Höhe; das Schwarzkugelthermometer stieg bis gegen 30° R., ein gewöhnliches Thermometer bis 8° R. Selbst die Oberflächentemperatur des Wassers betrug nur wenig unter Null. Von Farbe, wenngleich mit wechselnden Tönen, vorherrschend blau, war es außerordentlich klar, und wenn die wunderbar schönen Rippenquallen in geringer Tiefe unterhalb des Schiffes vorbeizogen, so stürzten wir Alle herbei, um eine jener wunderbaren Formen des Lebens zu betrachten, die für den rauhen Charakter des Eismeeres so wenig geschaffen scheinen. Nordwinde und Strömung setzten uns beharrlich nach Süd; am 29. Juli erreichten wir den 73. Breitegrad. Fortschritte nach Westen waren hier unmöglich, so daß Capitän Koldewey an die Eisgrenze zurückkehrte, um den Versuch zu machen, nördlich des 74. Breitegrades nach der Küste hin durchzudringen, wie es ursprünglich im Plane gelegen war. An der Eisgrenze sahen wir den »Bienenkorb« und den »Hudson«; – die Bilder beider Schiffe, durch die Luftspiegelung mehrfach übereinander gestellt, waren verkehrt und durch die wallende Luft beständigen Veränderungen unterworfen.

Dieses wechselvolle Spiel der Refraction gehört überhaupt zu den interessantesten Erscheinungen innerhalb des Packeises. Sie wird bekanntlich durch ungleiche Erwärmung verschiedener Luftschichten veranlaßt. Aus Schnee und Wasser aufsteigende Dünste, oder die frostverdickte Luft Anfangs Frühjahr erhalten diese Erscheinung oft stundenlang. Parry sah das Meeresufer durch ungewöhnliche Refraction in einer Entfernung von 90 Meilen; Scoresby erblickte einen Küstenstrich Ost-Grönlands auf 140 Meilen Abstand; bei gewöhnlichem Zustand der Atmosphäre wäre die Küste nur sechzig Meilen weit wahrnehmbar gewesen. Derselbe Seefahrer sah das Bild eines 30 Meilen fernen, mithin unter seinem Horizont befindlichen Schiffes verkehrt in der Luft schweben. Bald gewährt ein Gewirr von Eisklippen durch die Ueberhöhung derselben den Eindruck von Ruinen einer Stadt, oder es schwebt das Bild eines rings vom Eise eingeschlossenen Wasserbassins hoch über der Kimmung, ein unter dem Horizonte befindliches Schiff ist über demselben und viel größer als in der Wirklichkeit zu sehen, die weiße Linie des Packeissaumes gleicht einem Stratus in der Luft; der als Luftphänomen mit dem Nordlicht vergleichbare Eishimmel oberhalb des Horizonts verkündet die Nähe des Eises. Eisrefraction mit ausgesprochener Säulenbildung soll nach den Grönlandsfischern ein Zeichen sein, daß sich in dieser Gegend offenes Wasser befindet. Parry spricht sich gegen diese Vermuthung aus.

Mit wenigen Ausnahmen der letzten im Eise verbrachten Tage hatten wir uns seit Bremerhafen, um Kohlen zu sparen, nur der Segel bedient, – von jetzt an blieben wir, bis wir die Küste erreichten, fast unausgesetzt unter Dampf. Am 31. Juli drangen wir in 74° nördl. Br. abermals in das Eis ein, mit günstigem Erfolg. Am 1. August kamen die Pendulum-Inseln in Sicht, umgeben von »Küstenwasser«, welches durch die Refraction über den Horizont emporgehoben wurde.

Am 3. August gelangten wir in den Bereich jener ungeheuern Felder, wie nur die Ostküste Grönlands sie aufzuweisen scheint. Die Meerestiefe verringerte sich in der Nähe der Küste bis 155 Faden. Nach glücklicher Ueberwindung einer 20 Meilen breiten Barriere dichten Eises liefen wir in das Landwasser ein; am 5. August Morgens ankerte die » Germania« in einer Einbucht der Sabine-Insel, welche später unser Winterhafen wurde. Es war ein Ereigniß voll Aufregung, Befriedigung und Freude.

Die Insel besteht aus Dolerit; mehrere Terrassen steigen zu einem bis 2000 Fuß hohen Halbkreis ihres nördlichen Theiles empor. Sie waren stellenweise mit nicht geringer Vegetation bedeckt, viele Blüthenpflanzen befanden sich noch in vollem Schmucke.

Es war nun unsere Aufgabe, in dem angetroffenen Küstenwasser nach Norden vorzudringen. Leider erwies sich seine Ausdehnung schon von den Bergen der Sabine-Insel aus sehr unbeträchtlich. Es verlor sich im Osten Shannons in dichtem Eise und reichte nach Süden bis zur Gaël-Hamkes-Bai. Westlich und südlich von Shannon aber lag völlig ungebrochenes Landeis.

Ein mehrtägiger Aufenthalt gab den Astronomen Börgen und Copeland Gelegenheit zu absoluten Ortsbestimmungen und magnetischen Beobachtungen, ich begann mit der Detailaufnahme der Pendulum-Inseln. Dr. Pansch hatte wenige Stunden, nachdem er ans Land gegangen, das Unglück, sich beim Betreten eines Bootes durch einen Schuß in den Arm schwer zu verwunden. Seine Herstellung ging langsam vor sich und gelang erst im Laufe des folgenden Winters.

Die betretenen Inseln wurden im Jahre 1823 von Clavering Der Zweck dieser Reise waren Pendelbeobachtungen, angestellt von Capitän Sabine in möglichst hohen Breiten des atlantischen Oceans. entdeckt und nebst der Küste bis 76° nördl. Br. in den Hauptzügen niedergelegt. Seit dieser Zeit waren die Eilande unbetreten geblieben; schon Clavering hatte sie von Eskimos verlassen gefunden. Jetzt aber widerhallte auf ihren einsamen Gestaden das rege Treiben eines Entdeckerschwarmes. Verfolgt flüchteten sich die Renthiere in das Innere des Landes, im Wasser wurde mit den Walrossen gekämpft; ihr furchtbares Gebrüll deutete im Nebel die Stellen an, wo sie auf einem Eisfloß überfallen wurden, oder ein Boot angriffen. An diesem Tage flogen die Kugeln mit einer Ungenirtheit umher, welche alles noch am Leben Befindliche zu bedrohen schien. Abends lag das Schiff steuerbord auf der Seite; zwei erlegte Walrosse lagen längs derselben auf Deck.

Am 11. August verließ die »Germania« die Sabine-Insel und dampfte an der Ostküste Shannon's nach Norden. Ihr Ziel war der Nordpol oder die Behringsstraße. Allein der große Abstand des Wollens und Könnens offenbarte sich schon hier in nachdrücklichster Weise, obgleich Capitän Koldewey die ihm gestellte Aufgabe mit allem Eifer zu erfüllen trachtete. Ein durch dichtes Eis veranlaßter Aufenthalt an Shannon's Ostküste bot abermals Anlaß, die Strömungsverhältnisse des ostgrönländischen Meeres zu beobachten, über deren Verlauf sich Capitän Koldewey in folgender Weise äußert: »In mit Eis bedeckten Meeren ist es überhaupt sehr schwierig, über die regelmäßigen Constanten oder periodischen Strömungen zu einem richtigen Resultat zu gelangen, und man darf sich durch ein paar Versuche nicht verleiten lassen, voreilige und oft ganz falsche Schlüsse zu ziehen. Wir haben den Strömungen an der ostgrönländischen Küste die sorgfältigste Beachtung gewidmet, und es finden sich eine Menge Notizen darüber in dem Schiffsjournale. Stellt man Alles zusammen, die Beobachtungen auf beiden Schiffen und die von der Scholle, auf welcher die Mannschaft der »Hansa« den Winter über zubrachte, so scheint sich doch Folgendes als wahrscheinlich herauszustellen: An der Außenkante des Eises und im Treibeise selbst bis zu den großen Feldern, die sich weiter innerhalb der Barrieren befinden, existirt zwischen den Breiten des 76. bis 72. Grades eine südwestliche Strömung von durchschnittlich 8-10 Seemeilen Geschwindigkeit in 24 Stunden, Die Richtung dieser Strömung wird indeß, je nach den herrschenden Winden und dem daraus hervorgehenden Treiben des Eises, oftmals beträchtlich ostwärts oder westwärts abgelenkt. Unmittelbar an der Küste ist nach unseren Beobachtungen zwar auch, wenn man ein ganzes Jahr nimmt, eine Fortbewegung des Eises und Wassers nach Süden nicht ganz zu verkennen; doch ist dieselbe entschieden schwächer, als an der Außenkante, und wird vorzüglich im Sommer, wenn südliche Winde vorherrschen, oft gänzlich aufgehalten, so daß die Eisfelder zu Zeiten stationär sind, oder sich nur von der Küste ab oder nach ihr zu bewegen. Im Winter ist das Treiben des Eises wegen der vorherrschenden Nordwinde und Stürme bedeutender als im Sommer. Regelmäßige Ebbe- und Fluthströmung ist zwischen den von der »Germania« durchfahrenen Breiten nicht vorhanden; selbst in dem Kaiser Franz Joseph-Fjord konnten wir eine solche während der kurzen Zeit unseres Aufenthaltes nicht wahrnehmen. Im Herbst scheint entschieden ein Heransetzen des schweren Packeises an die Küste stattzufinden, und was man Landwasser nennt, verschwindet mehr und mehr.«

Am 14. August erreichte unsere Nordfahrt in 75° 30' nördl. Br., nahe der Küste von Shannon, ihr Ende. Völlig geschlossen lag das Eis vor uns in fast ungebrochenem Anschluß an das Landeis; unerreichbar waren hohe Landmassen (Koldewey-Inseln) im Norden, welche wir zu betreten gehofft hatten.

Aus diesem Grunde kehrte Capitän Koldewey bis zum Cap Philipp Broke zurück, um daselbst eine günstige Veränderung im Eise abzuwarten. Als wir das Land betraten, fanden wir die Steinkreise von den einstigen Sommerzelten der Eskimo's und gleich darauf einen Moschusochsen. Sein Erscheinen kam uns völlig unerwartet; er wurde erlegt und verzehrt.

Der nun folgende Aufenthalt auf der Insel Shannon wurde zu ihrer Erforschung benützt. Die Astronomen, Sengstacke, Ellinger, Iversen, Klentzer und ich bezogen daher die Zelte am Lande. In dieser Zeit befand sich die »Hansa« etwa 10 deutsche Meilen im Osten von uns; doch so oft wir nach ihr ausspähten, nie vermochten wir sie zu entdecken. Die Astronomen wählten die Insel zu dem Beginn ihrer Gradmessungs-Recognoscirung; Koldewey aber segelte nach der Pendulum-Insel zurück, um von dessen dominirenden Anhöhen aus die Veränderungen im Eise zu beobachten. Ich werde mich in dem folgenden Berichte vorzugsweise auf jene Erlebnisse oder Arbeiten beschränken, bei denen ich persönlich betheiligt war, und zwar mit dem Hinweis auf das Werk der zweiten deutschen Nordpolexpedition, in welchem die Beobachtungen der übrigen Expeditionsmitglieder sich verzeichnet finden.

Die betretene Insel war überaus öde, geringe isolirte Anhöhen ausgenommen, völlig flach, und bot kaum ein anderes Interesse, als daß sie doppelt so groß war, als Clavering vermuthet hatte. Es galt, die kostbare Zeit bis zur Rückkehr des Schiffes möglichst zu verwerthen. Für mich bestand diese Verwerthung in der Landesaufnahme. Ich maß (16. August) auf dem Plateau nördlich des Cap Philipp Broke eine 4000 Meter lange Basis, bestimmte mit deren Hilfe die Lage und Entwicklung der gegenüberliegenden, durch ihre schroffen Formen charakteristischen Festlandsküste und unternahm zum Abschluß dieser Arbeit am 25. August mit Sengstacke, Ellinger und Iversen eine kleine Schlittenreise nach dem 14 Meilen entfernten Doleritplateau im Südwesten von Shannon. Während so die »Germania« nach der Pendulum-Insel segelte und den auf Shannon Zurückbleibenden zum nächsten Schutz gegen eine ungünstige Eventualität einen Sack mit Lebensmitteln und ein Boot zurückließ, zog ein Theil derselben mit einem kleinen Schlitten ohne Zelt und Schlafsack über die monotonen Schneefelder der Freeden-Bai gegen Westen. Eine wenige Klafter hohe Nebelschichte lagerte über ihr, dicht genug, um den Reisenden die Beurtheilung von Größen und Entfernungen zu rauben, so daß sie anscheinend einem imaginären Ziel entgegenzogen. Gespensterhaft traten plötzlich Eisberge scheinbar fern, doch in unmittelbarer Nähe aus der Nebelhülle. Einmal bewegte sich ein gelblicher Fleck heran, – ein Eisbär stand wenige Schritte vor den Schlittenziehenden. Halten und Feuern war das Werk eines Augenblicks; überhaupt dürfen Reisende in den arktischen Wüsten ihre Kampfbereitschaft nie aufgeben. Der Bär lag nach vergeblichen Versuchen, sich wieder aufzuraffen, bald todt zu unsern Füßen und wurde sofort geöffnet, damit sein Fleisch genießbar bleibe; die weitere Ausnützung der Beute blieb der Rückkehr vorbehalten. Allmälig durchbrach die Sonne Am 12. August war sie Mitternachts zum ersten Mal untergegangen. den Nebel; als violette Silhouetten zeigten sich jetzt die Berge im Südwesten von Shannon. Je weiter wir vordrangen, desto ungangbarer wurde das Eis, zahllose Sprünge durchbrachen dasselbe; zuletzt geriethen wir in ein von klafterbreiten Wasserstraßen durchbrochenes Labyrinth kleiner Schollen, nur mit Mühe gelangten wir zu der flachen Niederung im Westen der Bai. Daselbst fiel uns eine lange Schuttlinie auf, die man in einem Berglande nur als Moräne hätte deuten können. Der Schlitten blieb hier zurück, das Land war völlig schneefrei. Wo Erde lag, war sie weich und schwarz, anscheinend fruchtbar; indeß hatte sich die Vegetation bei der herrschenden Nässe nur auf einigen Erhöhungen angesammelt. Ein kurzer Aufenthalt diente zur Bereitung von etwas Thee. Darauf wurde das Gepäck über Land geschafft, und, die verworrenen Abhänge eingestürzter Doleritsäulen hinansteigend, kamen die Wanderer nach fünfzehnstündigem Marsch auf dem höchsten Punkte der ausgewählten Berggruppe an (etwa 650 Fuß Meereshöhe). Hier auf der breiten Bergplatte lagen erratische Schuttmassen der Gneisformation des Festlandes, ebenso wie auf den Pendulum-Inseln. Der Anblick der nahen grönländischen Küstenfront war höchst imposant. Jenseits einer mehrere Meilen breiten Schneewüste erhoben sich ihre schroffen Zinnen im röthlichen Lichte der Mitternachtssonne.

Während ich damit beschäftigt war, zu zeichnen und Winkel zu messen, hatten meine Begleiter auf einer Grasfläche unterhalb der Wände eine Heerde Moschusochsen entdeckt und zwei davon erlegt. Schwer beladen kehrten wir nach Mitternacht zu dem Schlitten zurück. Die Sonne war längst untergegangen. Das Gebirgsland rings nahm eine phantastische, von tiefem Roth und Violett bis zu den kältesten bleichen Tönen des Schnees wechselnde Färbung an; im Zenith prangte ein mattes Weißblau, im Süden ein lebhaftes Graublau, und der durch die Refraction entstellte, eben aufgegangene kupferfarbige Mond leuchtete in jeder kleinen Spiegelfläche des jungen Eises. Die Temperatur des Schnees war auf -5° R. gesunken, so daß wir in leichten Schuhen empfindlich froren, ein Zeichen, wie wenig wir noch an das Reisen im Eise gewöhnt waren. Je mehr Schlafsucht und Ermüdung uns überfielen, desto energischer mußte dagegen angekämpft werden. Erst als sich die Temperatur wieder hob, durfte man für Momente rastend sich dem Schlaf überlassen.

Endlos verlor sich die frühere Schlittenspur im grauen Nebel, – Cap Philipp Broke schien unerreichbar. Erst die harmlose Zudringlichkeit eines Fuchses, den eine weggeworfene Speckrinde veranlaßte, dem Schlitten stundenlang zu folgen, brachte einiges Leben unter die Ziehenden. Dann wurde die Stelle, wo der todte Bär lag, und nach zweitägiger Abwesenheit und 28 Meilen zurückgelegten Weges endlich Cap Philipp Broke erreicht. An demselben Tage (26. August) war auch die »Germania« von Pendulum zurückgekehrt, Ihre Bahn ging durch Jungeis von ¾ Zoll Stärke; ein Segelschiff wäre hier eingeschlossen worden, auch der Dampfer kam nur dadurch vorwärts, daß er immer wieder anrennend, das Eis vor sich aufschichtete. doch nur, um schon am 27. August mit der ganzen Besatzung wieder dahin zu dampfen.

Auf dieser Insel nahmen die genannten Arbeiten ihren Fortgang; ein fernerer Versuch nach Norden vorzudringen, war schon jetzt als aufgegeben zu betrachten, weil die Eisverhältnisse sich eher verschlimmert als verbessert hatten. Auch die Nächte fingen an ziemlich dunkel zu werden; Nordstürme begannen, die Temperatur fiel 4-6° unter Null, offenes Wasser überzog sich binnen einer Nacht mit zolldickem Eis, – der kurze arktische Herbst war angebrochen. Auch die Gletscherbäche des Landes begannen zu versiegen, der Boden war hart gefroren. Anfang September wichen wir bis zur Sabine-Insel zurück; das Andrängen schweren Eises und Nordstürme hielten uns eine Woche lang daselbst gefangen. Das Schiff starrte voll Eis, dichtes Schneegestöber wechselte mit Nebel.

Die Absicht, das Innere der Gaël-Hamkes-Bai und die Verzweigung ihrer Fjorde gegen West zu untersuchen, führte uns am 10. September nach der »Flachen-Bai«. Eine von hier aus unternommene zweistündige Bootfahrt zu dem nahen Cap Borlase-Warren brachte indeß die Gewißheit, das gehoffte Eindringen in das Innere dieser Bai mittelst des Schiffes sei, der zahlreichen an ihrem Ausgange gestrandeten Eisberge und Schollen wegen, unthunlich. So blieb uns zur Erreichung unseres Zweckes nur ein Ausweg: die Besteigung eines hohen dominirenden Berges. Als solcher konnte nur eine an 3613 Fuß hohe Bergmasse, Sattelberg genannt, angesehen werden. Derselbe bildet den höchsten Punkt der Halbinsel im Norden der Gaël-Hamkes-Bai und war von dem Ankerplatze des Schiffes aus durch das Königin Augusta-Thal voraussichtlich leicht zu erreichen.

So verließen Ellinger und ich am 11. September, 8 Uhr Morgens, das Schiff und wanderten, mit Theodolit und Barometer ausgerüstet, das sanft ansteigende öde Thal hinan. Hier schloß sich uns Dr. Copeland an. Ein ermüdender Weg führte bergauf und ab über monotone, mit karger Vegetation bedeckte Abhänge, durch schroffe Wasserrisse, über einen kleinen Gletscher, zuletzt steil den rauhen Doleritkamm des Sattelberges hinan. Das doleritische Gestein des Gipfels war reich an Mandelsteinen (Chabasit und Kalkspath). Die Spur eines Lemmings lief genau über den Gipfel hinweg. Ein heftiger Nordwind bei -8° R. erschwerte die Arbeiten auf dem Berge ungemein. Die Aussicht nach Westen gewährte jedoch interessante Einblicke in das Innere der grönländischen Fjorde. Die Erforschung derselben durch ausgedehnte Schlittenreisen, zu welchen die Jahreszeit ungemein günstig war, erschien sonach dringend wünschenswerth. Auch in landschaftlicher Beziehung war der Anblick der Gegensätze des weiten, sich in eine Ebene verlierenden Eismeeres im Osten, so wie des wilden imposanten Felslandes im Westen und Norden von großem Reiz. Aus dem bisherigen offenen Landwasser war eine kleine Wacke dicht im Süden der Pendulum-Insel geworden. Hier, wie auf allen grönländischen Bergen, machten wir die bemerkenswerthe Beobachtung der Schneefreiheit selbst hochgelegenen Landes, auch hier traten die Schneefelder ausschließlich als Firnregion der Gletscher auf; Windwehen und locale, mehr oder minder zufällige Ansammlungen in Klüften u. s. w. natürlich abgerechnet. Als wir Nachts zum Schiffe zurückkehrten, gewahrten wir das erste Nordlicht. Am 13. September kehrten wir nach dem Hafen im Süden der Sabine-Insel zurück; durch zehn Monate fortan unsere Heimat.


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