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Wiederkehr des Lichtes und das Frühjahr 1873.

Sonnencullus des Polarfahrers. – Sonnenaufgang. – Wohltätiger Einfluß des Lichtes. – Bärenbesuche. – Frostnebel. – Carneval. – Frühjahr. – Schneestaubfall. – Verdunstung des Eises. – Witterung im März. – Zunehmendes Tageslicht. – Das erste Schmelzen des Schnees. – Die ersten Vögel. – Nordlichter. – Dr. Kepes erkrankt. – Bärenbesuche. – Erste Anzeichen des Sommers. – Nebensonnen. – Scheinbare Unveränderlichkeit unserer Umgebung. – Witterung im April. – Tageslicht in der Cajüte. – Unsere Umgebung. – Ausgrabung des Schiffes. – Magnetische Termintage. – Eisbären. – Anzeichen ferner Sprünge im Eise. – Hoffnung auf das Freiwerden des Schiffes. – Schneefälle und Schneeerweichung im Mai. – Wiederkehr der Vögel. – Die Maschine wieder dampfbereit. – Sonnenfinsterniß. – Toroßy's Jugend.

 

Am 19. Februar 1873 sollte die Sonne für unsere geographische Breite wiederkehren; allein die starke Refraction von 1° 40', Parry beobachtete 1819 eine Refraction von 2° 0,9', indem er die Sonne bei -27° R. noch sieben Tage nach ihrem gesetzmäßigen Verschwinden sah. Bei ihrer Rückkehr glaubte er (bei -32° R.) eine Strahlenbrechung von ° 24' zu beobachten; er sah die Sonne 20 Minuten vor dem wahren Mittag. welche der Temperatur von 30 Grad unter Null angehört, veranlaßte, daß wir ihre ersten Strahlen schon drei Tage vorher begrüßen durften. Ein unbeschreiblich festliches Ereigniß ist die Wiederkehr der Sonne für den Polarfahrer. Wie mit dem Wunderglauben vergangener Tage erneut er in jenen furchtbaren Einöden den uranfänglichen Cultus des ewigen Gestirns.

Wie einst des Belus Diener am blühenden Saum des Euphrat, so harrten auch wir, wie zu einem Feste geschaart, auf den Anhöhen des Eises und den Masten des Schiffes dem Lichte. Da, einen Augenblick, wallte eine Lichtwelle ankündigend durch den weiten Raum, und die Sonne stieg, von einer Purpurhülle Eine Carminzone ging nach oben in ein unbestimmtes Lichtgelb und in etwa 20° Höhe in das matte Blau des Himmels über. Klar war die Venus zu sehen; aber der Mond kurz vorher noch blutroth durch die blaugrauen Dünste leuchtend war bereits untergegangen. umgeben, empor auf die eisige Bühne. Niemand sprach; wer hätte Worte dem Gefühle der Erlösung geliehen, das auf jedem Antlitz leuchtete, und sich kunstlos unbewußt offenbarte in des einfachen Mannes leisem Ausruf: » Benedetto giorno!«

Nur mit ihrer halben Scheibe und zögernd hatte sich die Sonne erhoben über den düsteren Saum des Eises, als wäre diese Welt unwerth ihres Lichtes. Und dennoch ist die Sonne das einzige Ereigniß und Leben in diesem Reiche des Todes, wenn sie gleich nicht wie im Süden vermag, daß der starre Leib der Schöpfung wieder erblüht und Blumen sich erheben aus seinem schneeigen Panzer. Hier im Eise, fern von allen Ländern, werden nur die Quellen seiner Schmelzwasser wieder erklingen und zurückfallen in den Schooß des Meeres. Düster, traumhaft ragten die verfallenen Kolosse des Eises gleich zahllosen Sphynxen in das strahlende Lichtmeer hinein; spaltenumringt starrten die Klippen und Wälle und lange Schatten warfen sie über die diamantsprühende Schneebahn. Ein zartes Rosa schwebte darüber, und knisternd erklangen die kalten Memnons-Säulen des Eises in der Wärmefluth. Erst jetzt, mit der neuen Aera des Lichtes, hatte das neue Jahr begonnen, – welche Bedeutung wird es für unser Ziel haben?

Wenige Minuten nur hatte der obere Theil der Sonne über dem Horizont verweilt; dann erlosch ihr Licht wieder, ein düsteres Violett lagerte über den Fernen, und zitternd leuchteten die Sterne abermals am dämmernden Himmel.

Die gespannte Erwartung, womit wir der rückkehrenden Sonne begegnet, war auch ein Anlaß, uns wechselseitig zu betrachten, und wir waren überrascht über die Veränderung, die unser Aeußeres in der langen Periode der Nacht erlitten. Tiefe Blässe bedeckte die eingefallenen Gesichter. Die Meisten von uns trugen die Zeichen der Reconvalescenz, spitze, hervorragende Nasen und eingesunkene Augen; denn nicht wenig waren diese durch das monatelange Lampenlicht angegriffen worden, besonders bei Jenen, welche die verflossenen Monate mit anstrengenden Arbeiten verbracht hatten. Allein alle diese Uebelstände waren unter dem wohlthätigen Einflusse des Tageslichtes und der Frühjahrssonne nur von geringer Dauer; bald brachte die Märzsonne das dunkle Colorit der Wüste wieder auf alle Gesichter. Auch der allgemeine Frohsinn kehrte zurück; gierig suchte die Besatzung des »Tegetthoff« die warmen Strahlen der Sonne auf. Ein Haus aus Eis ohne Dach wurde erbaut, seine südgekehrte Wand blieb offen; – hier pflegten Gesunde und Kranke an schönen, windstillen Tagen aus dem dumpfen Schiffe herauszukriechen und Eidechsen gleich in den heißen Sonnenstrahlen vor Wonne anzuschwellen. Das Innere des Schiffes aber barg noch immer Nacht; ihr zweiter Theil hatte begonnen, jener mit der Sonne außerhalb und den Lampen innerhalb unserer Wohnräume.

Erster Sonnenaufgang im Packeise zwischen Nowaja Semlja und Franz Josephs-Land.

Auch die Besuche von Eisbären wurden wieder zahlreich. Am 17. Februar wurde ein Bär von fünf Fuß Länge im nächsten Umkreise des Schiffes erlegt, und am 19. Februar Abends verscheuchten ungeübte Jäger einen zweiten. Da ihm jedoch die Hunde nachliefen, so waren wir, um sie nicht aufs Spiel zu setzen, gezwungen, die an sich nutzlose Verfolgung des Bären zu unternehmen. Die Temperatur von -29° R. und ziemlicher Wind, gegen welchen wir bei der Jagd zu laufen hatten, führte bei Einigen Erstickungsandrang, Herzklopfen und Blutspucken herbei, daher wir den Rückweg zum Schiffe mit der größten Vorsicht ausführten. Am 20. Februar Vormittags kam wieder ein Bär in die Nähe des Schiffes; er wurde abermals gefehlt und entkam. Palmich, Haller und Klotz liefen ihm bei -32° R. und Wind nach. Palmich kam schon nach kurzer Zeit mit einem erfrorenen Gesichte zurück, die Tiroler erst nach mehreren Stunden. Auch diese kamen nicht nur unverrichteter Dinge heim, sondern hatten sich außerdem beide Füße dermaßen erfroren, daß sie schon während des Rückweges alles Gefühl darin verloren. Der zweite Grad des Erfrierens war eingetreten, und wenig fehlte zur Nothwendigkeit einer Amputation. Stundenlang mußten ihre Füße mit Schnee gerieben werden, bis das Gefühl zurückkehrte; dann traten heftige Schmerzen ein, faustgroße Frostbeulen entstanden und zahlreiche Blasen, gegen welche Uebel fortgesetzte Eisumschläge erst nach mehreren Tagen Heilung brachten.

Am 22. Februar im Morgengrauen zeigte sich abermals ein Bär etwa 80 Schritte vom Schiffe entfernt, den die Deckwache Sussich nach einigen Fehlschüssen, welche das Thier nicht im geringsten einschüchterten, erlegte. An seiner verwundeten rechten Vordertatze erkannten wir, daß er der Gegenstand der Verfolgung der letzten Tage gewesen. Seine Länge betrug sechs Fuß, in seinem Magen befand sich nichts, als ein kleines Stückchen Seehundsfell. Sussich aber machte die erfolgreiche Jagd überglücklich; einen Tag lang war er bemüht, es Jedermann außerhalb des Schiffes zu zeigen, was der Bär gemacht, und was er gedacht habe. » Se mi non era, il copava tutti«, fügte er mit einem Blick der Geringschätzung auf Jene hinzu, welche fehlgeschossen hatten.

Wenn auch der Sonnenaufgang Ende Februar gewöhnlich von jener rosigen Klarheit war, welche den an sich monotonen Schneeflächen einen wunderbaren Reiz verleiht, so sahen wir uns in der Erwartung sonnenheller Mittagsstunden doch meistentheils getäuscht; denn bald darauf sammelten sich weiße Frostnebel hoch über der Eisfläche, welche die Sonne entweder nur zu einem trübe durchscheinenden Lichtball machten oder völlig verbargen. Am 24. Februar aber genossen wir das eigenthümliche Schauspiel, die Sonne bei -34° R. refractionsverzerrt, flach, strahlenlos und kupferroth durch die trüben Dünste des Horizontes treten zu sehen. Bei sehr wechselnder Brechung der Lichtstrahlen geschieht es zuweilen, daß die Sonne oder der Mond mehrmals aufgehen, wieder verschwinden, oder durch längere Zeit in einer bestimmten Höhe verharren. – Der Ausgang des Monats Februar erinnerte uns an den Carneval des Südens. Die Mannschaft maskirte sich, denn jeder Vermummte hatte Anspruch auf etwas Rum; allein in ihren Masken trat der grelle Widerspruch einer gefälschten Fröhlichkeit mit ihrer ernsten Stimmung und Lage noch mehr zu Tage. Sie trugen geleerte Blechbüchsen auf dem Kopfe; alle Kunst aber hatten sie auf Sumbu übertragen, den sie als Lindwurm kleideten, er allein war seiner Vermummung entsprechend gelaunt. Durch ein Versehen ist der Hund in obigem Bild zu klein geworden.

Carneval im Eise.

Mit dem Monat März hatte der Frühling dem Namen nach begonnen; allein es war kein Frühjahr in unserem Sinne. Anstatt des heiteren Schimmers junger Saaten und Wälder umgab uns eine blendende Einöde, statt duftenden Blüthenhauches und üppiger Frühjahrsluft erhoben sich treibende Wolken stechender Eisnadeln, starr, schlaftrunken glühten die fast täglich sichtbaren Nebensonnen durch die weißen Frostnebel. Schnee erfüllte die Luft; um sich davon zu überzeugen, brauchte man selbst bei anscheinend heiterem Wetter nur gegen die Sonne zu sehen. Dieser feine Schneestaubfall war auch Ursache, daß die Verdunstung des Eises anfangs nur geringe Fortschritte machte, obgleich der Sonneneinfluß sich schon am 3. März derart bemerklich machte, daß das Schwarzkugelthermometer Mittags um 6° R. mehr zeigte als die gewöhnlichen Wärmemesser, und eine Schneeschichte am Buge des Schiffes deutliche Spuren ihrer Abnahme verrieth. Auch die Schneewehen des Eises begannen zu verdunsten, sich mattglänzend abzurunden und bald nach Mittag mit dünnen Krusten zu vereisen, sobald die Temperatursunterschiede in der Sonne und im Schatten wieder abnahmen. Am 6. März betrug dieser Unterschied bereits 8 Grad, am 8. 9 Grad, und da die Sonne an diesem Tage erst nach fünf Uhr unterging, und das Wetter windstill und klar blieb, so war ihr wachsender Einfluß eine höchst erfreuliche Wahrnehmung. Ein frei aufgehängter Eiswürfel erwies während der zweiten Hälfte des März eine tägliche Abnahme von 1/100 seines Gewichtes durch die Verdunstung; doch ließ diese Beobachtung keine directe Anwendung auf das mit Schnee bedeckte Eis zu. Entschieden ungünstig erwies sich hingegen das Verhalten im Meere selbst; denn ein Eiswürfel, den wir vom 19. Februar bis zum 5. März in zehn Fuß Meerestiefe versenkt hielten, zeigte zuletzt eine Massenzunahme von ¾ Zoll rings seiner Oberfläche. Die Temperatur des März, obgleich an 16 Tagen des Monats -30° R. erreichend, oder noch darunter sinkend, hatte sich im Uebrigen dennoch täglich so beträchtlich erhoben (am 18. März bis -14,4° R.), daß die mittlere Monatstemperatur nicht mehr unter -25,5° R. fiel. Sein Ausgang und der Anfang des März waren so streng, daß die Kälte drei Wochen lang täglich bis 30° R. unter Null erreichte. Windstille und klares Wetter zeichneten diese Periode des Frühjahrs aus; nur äußerst selten hatten wir Schneetreiben und bedeckten Himmel. Am 13. März stand der Vollmond wieder in der lazurnen Dämmerung des Abendhimmels; sein sanftes Licht schuf silberglänzende Bergzüge in den bleigrauen Schatten des Eises. Mehr und mehr nahm das Tageslicht an Intensität zu; die Schatten der Eisgruppen wurden kürzer und kräftiger, und Jedermann, der sich längere Zeit im Freien aufhielt, mußte zu Schneebrillen greifen. Am 10. März währte der röthliche Schein der Dämmerung am Horizont kreisend bereits die ganze Nacht hindurch, und Mitternachts war der Grad der Dunkelheit nicht größer mehr, als Ende December Mittags. Kleine Lawinen begannen aus der Takelage herabzufallen, Masten, Stengen und Taue verloren ihr weißes Reifcolorit und ihre langzähnigen Gespinnste. Am 22. März war der nach Süd gewandte Vordertheil des Schiffsrumpfes schon völlig schneefrei und schwarz, am 29. überstieg die Temperatur in der Sonne jene im Schatten schon um 9½ Uhr Morgens um 15° R.; am 30. März vermochten wir das Schmelzen des Schnees auf den schwarzen Holzgesimsen des Schiffskörpers zum ersten Male direct zu beobachten. Die Aufzählung dieser Vorgänge, so geringfügig sie auch an sich erscheinen mögen, soll dazu dienen, um zu zeigen, mit welcher Aufmerksamkeit der Polarfahrer den kleinsten Ereignissen folgt, die von der für ihn allmächtigen Gewalt der Sonne ausgehen. Nach den Wandlungen, welche sie hervorbringt, pflegt er täglich seine Hoffnungen abzuwägen. Und es waren willkommene, wenngleich verfrühte Boten des wiederkehrenden Sommers, als wir am 19. und 27. März die ersten Vögel begrüßten – kleine Taucher, die über das Schiff hin zu den wenigen, kleinen Wasserplätzen im Eise flogen, um dort ihre Nahrung zu holen. Wie leicht sie diese fanden, lehrte der Anblick zahlloser Crustaceen in jedem Bohrloche des Eises. Noch immer erleuchteten prächtige Nordlichter die Nächte, und war gleich die Dauer ihrer intensiven Entwicklung viel zu kurz, um als namhafte Lichtquelle zu dienen, so lag in ihrer Erscheinung doch ein Reiz, den selbst die tägliche Wiederholung nicht abzuschwächen vermochte.

Während sich unter allen diesen Eindrücken der Gesundheitszustand an Bord entschieden verbesserte, drohte uns ein schweres Uebel, unsern trefflichen Arzt zu verlieren. Dr. Kepes war am 13. März erkrankt; zwei Wochen lang schwebten wir um ihn in großer Besorgniß; sie war um so ernstlicher, je rathloser und zweckwidriger wir dem Verlaufe seiner Krankheit begegneten. Ihm allein gehörte nach seiner endlichen Genesung unser geringer Vorrath an Bärenfleisch; im Verlaufe der Zeit machten wir die erfreuliche Beobachtung, daß der Segen des Himmels mit dieser Nahrung war.

Seit einiger Zeit hatten die Bären in ihren Besuchen wieder eine höchst schmerzliche Zurückhaltung gezeigt. Erst am 15. März kam einer von ihnen in die Nähe, und da ihn Pekel schon lange vor seiner Ankunft gemeldet, so fand er eine lange Front von Jägern, hinter Eismassen vertheilt, zu seiner Begrüßung bereit. Der Bär kam wie gewöhnlich unter dem Winde, zeigte großes Interesse an unseren öffentlichen Bauten, bestieg eine schmale und hohe Eisklippe und setzte sich balancirend, mit hoch erhobener Schnauze, auf ihrem Gipfel nieder. Dieser Anblick war für einige der Jäger von unwiderstehlicher Komik, und sie begannen so laut zu lachen, daß der Bär verwundert herabstieg und sich bedächtig immer mehr näherte, bis er aus geringer Entfernung tödtlich getroffen hinfiel. Es war leider abermals nur ein kleines Thier von 5½ Schuh Länge, sein Magen absolut leer. Am 30. März erschien ein zweiter Bär in der Nacht beim Schiffe; allein die Wache fehlte ihn, worauf Wache und Bär entflohen.

Der April war endlich da, mit ihm die Zeit der Eiszapfen, welche als thränende Gletscherguirlanden überall niederhingen, von allen Eissäumen, von der Regeling, den Raaen, dem Tauwerk wie von jeder Klippe des Eises, dessen scharfe Schneiden sich durch die Verdunstung immer mehr abgerundet hatten. Dieses Hinsterben und Schmelzen des Eises, wenngleich eine immerwährende Quelle der Beruhigung über die Frage seines Aufbrechens, ging für unsere Ungeduld doch mit unerträglicher Langsamkeit vor sich. Was half es, daß wir schon am 2. April auch Mitternachts zu lesen vermochten, daß die Zahl der dahinziehenden Taucher und Möven zunahm, daß die Wärmedifferenz zwischen Sonne und Schatten am 6. April schon 18°, daß das Schwarzkugelthermometer am 20. April schon +5° R. zeigte, – daß die Sonne am 11. April schon um zwei Uhr Morgens aufging, und vom 16. April an beständig am Himmel verweilte? – Was half dies Alles? Trotz des beständigen Lichtes umgab uns nach wie vor ein Bild tiefsten Winters; mit quälender Allmäligkeit sanken die starren Bauten des Frostes in sich zusammen. Mit dem Schauspiel der Nebensonnen allein waren wir nicht mehr zu befriedigen und hinzuhalten, wenn sie auch wie jene am 1. April aus acht Sonnen bestanden, von denen zwei je 95 Grad von den normalen Nebensonnen entfernt waren, außerdem aus einem rings am Firmamente hinziehenden und durch die wirkliche Sonne streichenden horizontalen Lichtstreif. Noch immer lagen Monate des Wartens vor uns; täglich mußten wir uns mit Geduld wappnen, wenn wir, auf Deck tretend, die scheinbare Unveränderlichkeit unserer Umgebung erkannten, mit ihren uns bis ins kleinste Detail bekannten Formen. Beschäftigungen erfüllten diese Zeit, die uns der Widerwille gegen völligen Müßiggang eingab. Etliche von uns erbauten abermals einen Thurm aus Eis auf einer ebenen Fläche unserer Scholle, Andere schossen ihre längst eingeschossenen Gewehre immer wieder ein – nach leeren Flaschen und Scheiben. Ich vollführte mit den Tirolern den Bau einer Kunststraße durch die Trümmerhügel des Eises, über Pässe und Aufschüttungen, in Serpentinen auf- und absteigend, im Umkreise von drei Meilen um das Schiff. Ihre Herstellung erforderte wochenlange Arbeit mit Krampen und Schaufeln; nach jedem Schneefall mußte sie mühsam wieder ausgegraben werden. Das tägliche Befahren dieses rauhen Weges durch das Eisgewirre war indeß nicht allein eine wohlthuende Körperbewegung, sondern bot auch die Gelegenheit, unsere Hunde im Ziehen belasteter Schlitten abzurichten. Zu gleicher Zeit füllte sich meine Mappe immer mehr mit Eisstudien, und ich gewöhnte mich daran, stundenlang bei Windstille, und zwar bei jeder Temperatur, mit leichten Handschuhen zu zeichnen.

Das Schiff im Packeise treibend. – März 1873.

Der April hatte mit einem Temperaturextrem von -31° R. begonnen; sein weiterer Verlauf aber brachte eine fast gleichmäßige Abnahme des Frostes. Ende April erreichte das tägliche Kälteextrem nur mehr -15° R., am 28. beobachteten wir mit -6,8° R. seine Maximaltemperatur, während die mittlere Temperatur des ganzen Monats sich bis auf -17,5° R. erhob.

Das Wetter verlor die Klarheit des ersten Frühjahres, und seine vorwaltende Windstille und zahlreiche Schneefälle hoben das Werk der wenigen Tagesstunden wieder auf, in welchen die Sonne schien. Tiefe Schneelagen lasteten auf dem Eise; schuhtief sank man selbst auf ebenen Flächen ein, bis übers Knie innerhalb der Hummocks; Schlittenreisen, hätten wir sie zu machen gehabt, wären unter solchen Umständen völlig erfolglos geblieben. Unter den wohlthätigen Veränderungen, welche die Milderung der Witterung nach sich zog, war keine größer, als die Wiederkehr des Tageslichtes in die Cajüte selbst, nachdem wir am 7. April die Eindeckung des Skylights abgenommen und auch das Zeltdach vom Vordertheile des Schiffes entfernt hatten. Wieder ohne den trüben Schein einer künstlichen Erleuchtung lesen zu können, war ein außerordentliches Ereigniß in unserm monotonen Leben. Fünf Monate lang hatten Petroleum- und Thranlampen in den Wohnräumen gebrannt, alle Wände waren rauchgeschwärzt, und es war keine geringe Arbeit, ihren Anblick wieder freundlich und wohnlich zu gestalten. Eine viel größere Arbeit war jedoch die Entladung unseres Schiffsraumes, mit Ausnahme der Kohlen, um die dichten Eiskrusten, welche sich an dessen Wänden gebildet, zu entfernen und zu verhindern, daß ihr Aufthauen die Provisionen beschädige. Und es war hohe Zeit; denn Ende April betrug die Temperatur im Schiffsraume nur mehr Einen Grad unter Null. Bald darauf wurden auch die bisher am Eise exponirten Lebensmittel wieder an Bord genommen; mit dem Aufhören der Eispressungen fiel auch der Grund ihrer Aussetzung hinweg.

Rings eines im Eise überwinternden Schiffes sammelt sich im Laufe der Zeit eine mächtige Schichte von Abfällen aller Art, darunter die Asche verbrannter Kohlen als vorherrschender Bestandtheil. Alle diese Gegenstände sind dunkler als der Schnee, und in Folge ihrer größeren Erwärmungsfähigkeit geschieht es, daß sie durch beschleunigtes Einschmelzen versinken, sobald sie isolirt und in geringer Mächtigkeit auftreten, dagegen als schützende Nichtleiter wirken, wenn sie als mächtige Decken lagern. Unsere Umgebung war daher ein wechselvolles Durcheinander von kleinen und großen trichterförmigen Vertiefungen und von breiten Plateauformen, unter deren Schuttdecke der Winter beharrlich weiter schlief; als die Schmelzwasser hinzukamen, umgaben uns Seen, durch Bretter überbrückte Canäle und Inseln.

Inzwischen hatten die Arbeiten zur Ausgrabung des Schiffes begonnen. Der Schneewall, der ihm während des Winters als äußerster Ueberrock gedient, wurde weggeführt, die hartgetretene Schneeschichte entfernt, die mehr als fußdick auf seinem Deck gelegen. Beim Ausgraben des Achtertheiles des Schiffes zeigte es sich, daß die eisernen Schutzbänder der Schraube durch die Pressungen abgerissen worden; doch lag hierin kein namhafter Verlust, und da das Schiff auch in den folgenden Monaten kein übermäßiges Wasser machte, so durften wir hoffen, daß es trotz seiner erhobenen Lage in seinen Verbindungen noch keine gefährliche Deformation erlitten habe.

Die seit Ausgang Februar im Eise herrschende Ruhe hatte Schiffslieutenant Weyprecht bewogen, ein Zelt in der Nähe des Schiffes aufzustellen und die Beobachtung der magnetischen Constanten innerhalb desselben, und zwar an bestimmten Termintagen zu unternehmen. Am 22. April war ein solcher Termintag, und es geschah in der Nacht, daß der eben anwesende Beobachter Orel die Aufmerksamkeit eines Eisbären in der Weise erregte, daß wir, durch seine Hilferufe erschreckt, auf das Deck eilten. Allein schon war der wachhabende Matrose herbeigeeilt und hatte den Bären, dem Orel seine Kappe zugeworfen, auf zwanzig Schritte Entfernung mit einer Explosionskugel niedergestreckt. So unentschlossen die Bären sich bisher auch erwiesen hatten, sobald sie in den Umkreis des Schiffes gekommen waren, und so ungefährlich ihre Jagd von Deck aus geschah, so lieferte dieser Fall doch wieder einen neuen Beweis, wie wechselnd sie dem Menschen gegenüber sich verhalten. Bald darauf, am 13. Mai, ereignete sich eine zweite Ueberraschung. Der Matrose Stiglich, welcher die Wache hatte, sah sich plötzlich einem Eisbären auf eine Distanz von nur acht Schritten gegenüber. Er warf ihm ebenfalls seine Kappe zu und lief dem Fallreep des Schiffes entgegen. In blinder Uebereilung fiel er aber hier, und es war sein Glück, daß Carlsen auf sein Geschrei herbeieilte und seinen Verfolger tödtete. Es war ein schöner Tag für Carlsen; wie er uns erzählte, hatte er den Bären zuerst begrüßt und durch seinen Blick gebannt, wie er dies auf Nowaja Semlja einst mit einem ganzen Rudel gethan; solchen, die bisher sein Schützentalent bezweifelten, konnte er nunmehr entgegentreten und sagen: »Mit diesem Gewehre habe ich heute den Bären getödtet!« Am 28. Mai kletterte ein Bär über einen Eiswall dicht hinter dem Schiffe, fiel jedoch, von einer Explosionskugel getroffen, todt nieder. Er hatte nichts im Magen; obgleich sehr mager, lieferte er uns mehr Fleisch als alle bisherigen, da er sie an Größe – er maß volle sieben Fuß – bedeutend übertraf.

Gegen Ende April hatten heftige Winde den Zusammenhang des Eises derart gelockert, daß dunkle Streifen oberhalb des Horizonts nach allen Richtungen hin das Vorhandensein von Sprüngen verkündeten, wenngleich ihre Entfernung noch so groß war, daß sie selbst von den Masten aus unsichtbar blieben.

Mit unerschütterlichem Vertrauen sahen wir nach diesen Zeichen aus, und als am 2. Mai das wohlbekannte Geräusch von Eispressungen aus der Entfernung herübertönte, war es für uns nicht mehr ein Schreckenslaut, sondern die Stimme froher Botschaft. Drei Vierteltheile eines Jahres waren seit dem Beginn unserer Gefangenschaft im Eise dahingegangen, eine Zeit voll bitterer innerer Erwägungen und äußerer Gefahren; nahe bevorstehend schien uns jetzt täglich die heißersehnte Stunde der Befreiung. Waren wir aber einmal frei, so lag es immer im Bereiche der Möglichkeit, wenn auch nicht das sagenhafte Gillisland, doch die wenn auch menschenlose Eismeerküste Sibiriens zu erreichen. So war Sibirien die rosigste unserer Hoffnungen geworden. Nur wer besonders ausschweifenden Erwartungen sich hingab, der zählte noch immer während des Dahintreibens auf die Entdeckung neuer Länder. Im Uebrigen waren unsere Wünsche so bescheiden geworden, daß selbst die kleinste Klippe unser Selbstgefühl als Entdecker befriedigt hätte.

Doch unbeirrt durch unsere Wünsche walteten die Naturgesetze. Noch immer fiel reichlich Schnee und hüllte das Eis in seinen Mantel ein; dieser Kreislauf von Niederschlägen und Verdunstung war eine traurige Abwehr unserer Hoffnungen. Anfang Mai begann der Schnee an der Oberfläche zu thauen, er wurde kleisterartig und weich; doch war seine Consistenz selbst im strengsten Winter niemals hart, sondern der des Flugsandes gleich, trocken und feinkörnig geblieben. Diese Veränderung des Schnees, welche in Grönland erst einen halben Monat später eintrat, nöthigte uns, statt der bisher benützten Segeltuchstiefel die dichteren Lederstiefel anzuziehen. Am 2. Mai fiel die Temperatur zwar noch bis unter -18° R.; doch stieg sie nun allmälig, so daß sie gegen Ende des Monats zeitweilig schon den Nullpunkt erreichte, ja am 29. Mai um zwei Grade überschritt; die Mitteltemperatur desselben vermochte sich jedoch nicht über -7° R. zu erheben. Immer größer aber wurde die Temperaturdifferenz in der Sonne und im Schatten. Am 1. Mai betrug sie um 6 Uhr Abends noch -22° R.; am 11. Mai zeigte das Schwarzkugelthermometer um 3 Uhr Nachmittags +26° R., während die gewöhnliche Beobachtung nur -8° R. ergab.

Mitte Mai umringten uns dunkle Nebelbänke nach andauernden heftigen Winden; die Sonne brach in vereinzelten Strahlen durch die warme Dunstatmosphäre, dunkle Himmelstheile und sonnige weiße Dunstballen wechselten ebenso wie bei uns nach einem Aprilregen, nur vertrat hier seine launischen Sprühregen das dichte Geflimmer eines feinen Schneefalls.

Bisher hatten uns keine anderen Vögel als Taucher und Möven besucht; nur einmal war eine Schneeammer herangeflogen, welche sich furchtlos unter uns auf dem Schiffe niederließ. Am 24. Mai jedoch kamen schon vornehmere Vögel, nämlich Alken, und von nun an schwirrte der rauschende Flug dieser stets dienstbeflissenen Thiere ohne Unterlaß um uns; doch weil sie den einmal gewählten Curs unabänderlich innezuhalten pflegen, so konnten wir nur die erlegen, welche über das Schiff selbst zogen. Alle Vögel, deren wir habhaft wurden, waren ein Beitrag für unsere Tafel; wir ließen sie mit Ausnahme der feinschmeckenden Alken stets vorher eine Zeit hindurch in Essig liegen. Etwas später erschien auch die majestätische Bürgermeistermöve. Bald darauf waren die Gestade der kleinen uns umgebenden Seen und die Ueberreste erlegter Bären ein beliebter Aufenthalt von Eismöven, die sich mit großer Frechheit in der unmittelbaren Nähe des Schiffes niederließen; Tag und Nacht erfüllten ihre Trompetenfanfaren die Luft mit wüstem Geschrei. Mitte März hatte der Maschinist Krisch die Maschine wieder in dampfbereiten Zustand gesetzt; erst einen Monat später wurde auch die bisher festgefrorene Propelleraxe wieder beweglich, und unsere Befürchtung, daß sie in Folge der Störungen, welche das Schiff in seiner erhobenen Lage erfahren, sich nicht mehr werde drehen lassen, erwies sich als unbegründet. Indeß war jedoch noch keine Aussicht vorhanden, uns des Dampfes sobald zu bedienen, so daß wir das Steuer ausgruben und aushoben, um es zu sichern.

Am 26. Mai sollte für unsere Breite eine partielle Verfinsterung der Sonne eintreten; allein aus Versehen erwarteten wir den Anfang der Verfinsterung 2½ Stunden zu früh. Jedermann am Bord, der über ein Instrument verfügte, hatte es aufgestellt, und voll Spannung sahen wir dem Eintritt des Mondes in die Sonnenscheibe entgegen. Als wir jedoch vergeblich darauf warteten, erkannten wir unseren Irrthum in der Zeit, verblieben aber dennoch bei unsern Ferngläsern, um die Würde der Beobachtung vor der Mannschaft nicht herabzusetzen. Zwei Stunden dieses Harrens gaben uns Zeugniß, daß es keine vollkommnere Erfüllung der Sisyphus-Idee geben könne, als die Verdammung, eine Sonnenfinsterniß erwarten zu müssen, die niemals eintritt. Endlich fand die Verfinsterung statt, jedoch nicht, ohne das Mißtrauen der Leute zu erregen, welche ohne die große Entfernung und die Unmöglichkeit eines Einverständnisses geneigt gewesen wären, den gesammten Vorgang als einen Humbug anzusehen. Klotz, ihr Sprecher, hatte unsere Anstrengungen bisher mit überlegenem Lächeln beurtheilt, und nur seinem philosophischen Langmuth hatten wir es zuzuschreiben, daß er erst jetzt beim Anblick der grell leuchtenden Sichel ausrief: »S'isch ja der Mond!« Das Maximum der Verfinsterung erreichte wenig über ein Drittel der Sonnenscheibe, und der Glanz derselben war durch Nebel dermaßen gedämpft, daß man die Beobachtung ohne farbige Gläser ausführen konnte. Die allgemeine Düsterheit war nicht größer, als die eines stark bedeckten Himmels; die ganze Erscheinung währte eine Stunde sechsundfünfzig Minuten.

Seit dem 1. Mai hatte sich die Zahl der lebenden Geschöpfe, die zur Expedition gehörten, um vier junge Neufundländer vermehrt. Ihre erste Jugend verbrachten sie in einem Zelt am Eise, welches durch Spiritus künstlich bis zur Temperatur eines europäischen Mai erwärmt wurde. Allein alle Sorgfalt, welche wir der Heranziehung eines neuen Hundegespanns widmeten, vereitelte eines dieser nordpolgebornen kleinen Ungethüme, indem es seine Brüder im Schlafe erdrückte und sich dann allein säugen ließ. Dieser Uebelthäter erhielt deßhalb den Namen Toroßy und da er schon nach wenigen Wochen auf Deck einherlief und an Allem seine harmlosen Angriffe übte, so war er bald der Liebling sowohl der Menschen als auch der Hunde. Der Ruhm aber, den er sich später erwarb, machte ihn zu einem wichtigen Mitgliede der Expedition. Bald war er durch die allgemeine Zuneigung so frech, daß er in die Schüssel Jubinal's stieg, wenn dieser aß; Jubinal, der während dieser Beschäftigung unnahbare, ließ sich von ihm sogar das Fleisch aus dem Rachen zerren; selbst Sumbu, der sonst nur an sich dachte, nahm Toroßy's Erziehung unter seine Pflichten auf. Sämmtliche Hunde waren durch den vergangenen Winter so abgehärtet, daß sie schon jetzt außerhalb ihrer offenen Hütten schliefen, weil es ihnen im Innern derselben zu heiß war.


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