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Nein.

Langsam und zögernd nahte am andern Morgen das Licht des Tages, als schien es der Sonne kaum der Mühe werth, an einem solchen Tage ihren Lauf zu beginnen. Es hatte aufgehört zu regnen, aber ein dichter Nebel stieg von dem durchnäßten Boden auf und hüllte Alles in sein düsteres Grau. Schwer und trübe lastete er auf den schlanken Säulen des Hochwaldes, auf den Bergen, schwer und trübe lag er auf den Dächern der Häuser in den Thälern, schwer und trübe ruhte er auf den winkeligen Gassen und Gäßchen der alten Universitätsstadt. Fröstelnd schritt Heinz seines Weges. Wohin er auch blickte, auf zum verhüllten Himmel, hinab in das trübe, graue Wasser der Pfützen auf seinem Wege oder zur Seite zu den buschigen Berghalden, überall gähnte ihm dasselbe öde, wüste Grau entgegen. Wie oft war er diesen Weg gegangen, jetzt ging er ihn vielleicht zum letzten Male. Dort, wo der Seitenpfad nach rechts hin die große Straße verließ, blieb er stehen und athmete schwer. Ihm stand jener Morgen wieder vor der Seele, als er mit Hellberg und Hanning und all den anderen frohen Gesellen dort den Hügel hinab fuhr, auf der Rückfahrt von jenem Feste, auf dem er Anna zum ersten Male gesehen hatte. Wie lachte damals der Morgen, wie lachte die neu erwachte Natur! Wie schlug sein Herz so froh, so glücklich in ihm, in ihm, der zu all' dem Glücke nun auch noch des Glückes Krone gewonnen, ein liebendes Weib!

Und jetzt! Das war ja noch derselbe Berg, dieselbe Straße und doch, wie war das Alles so anders geworden! Wenn er jetzt einmal den alten Freunden begegnete, dann blickten sie scheu zu Boden und suchten schnell an ihm vorüber zu kommen, als hätte er den bösen, den Basiliskenblick und könnte sie ansehen, daß ihnen das Herz in der Brust zu Stein würde, zu kaltem Stein.

Heinz fuhr sich mit der Hand über die Stirn und blickte wild um sich. Wäre ein Feind da gewesen, ein wirklicher, leibhaftiger Feind, er hätte sich auf ihn gestürzt, hätte ihn mit Löwenstärke aus Tausenden herausgerissen und ihn erwürgt – aber ach, seine geballten Fäuste greifen nur hinein in den schwankenden Nebel, greifen hinein in die leere Luft. Und doch ist er da, der böse Feind, dem er all' diesen Jammer verdankt, und er hört sein unheimliches, schadenfrohes Kichern, er sieht sein wüstes Grinsen. Kann er ihn fassen? Kann er hineingreifen mit festem Griff in die eigene Brust, ihn dort packen, in die Luft heben und ihn erwürgen? Thorheit! Thorheit!

Heinz wendet sich um und steigt langsam bergan.

»Nur fort von hier, nur unter Menschen! Diese Einsamkeit ist unerträglich. Nur unter Menschen, nur an die Sonne! Diese wüsten Fratzen machen mich toll, dieser Nebel erstickt mich!

»Ich muß fort! Ich darf hier nicht bleiben. Ich werde mit Anna reden. Anna wird vernünftig sein. Anna wird einsehen, daß ich fort muß. Sie wird mich begleiten. Jawohl. Als mein Weib wird sie mich begleiten. Wenn sie mich nicht begleitet, dann – nein, sie muß mich begleiten. Sie wird mich begleiten. Ich werde Landwirth werden und sie wird mich begleiten. Ich werde mich wieder finden. Ich werde in der heimischen Luft wieder gesund werden.

»Ja, in der heimischen Luft! Ja, ja. Ich werde dort genesen. Ich werde dort nichts mit den Büchern zu thun haben, mit den verfluchten Büchern. Ich werde dort meinen Acker bestellen und werde ein Krautjunker werden und auf die Jagd gehen und genesen.

»Das ist des Liedes Ende. Heinz Eichenstamm wird ein Krautjunker! Mit dem Ruhme ist's vorbei. An dem Ruhme liegt nichts. Der Ruhm thut es nicht, der Frieden thut es. An dem Frieden ist mir gelegen.

»Der Edle soll nicht nach Ruhm verlangen, der Edle soll die Menschen verachten und darum soll er nicht nach Ruhm verlangen.

»Der Ruhm ist ein Kranz, aus Rosenzweigen geflochten. Die Liebe setzt ihn uns auf's Haupt, aber der Neid schlägt mit geballter Faust darauf, daß uns die Domen in's Fleisch dringen und das rothe Blut uns über das Haupt hinabläuft. Des Ruhmes Kraut kann nur gepflückt werden in stiller Mitternacht, beim trüben Lampenschein, wenn Alles unheimlich rings umher schweigt. Ich will unter Menschen sein, ich will dieses Schweigen nicht. Ich will unter ihnen leben, ich will mit ihnen lachen und weinen und mich über sie lustig machen und über mich selbst, denn ich bin nicht besser als sie.

»Also ich werde alles Ideale von mir werfen. Warum? Weil ich Mensch bin, weil ich das gemeine Menschenloos theilen muß, weil ich nicht allein sein kann. Warum bin ich jetzt allein? Warum brach ich mit allen meinen Gefährten? Weil ich liebte. Um meiner Liebe willen habe ich Alles aufgegeben, was mir bisher theuer war. Um Anna's willen habe ich mit meinen Gefährten gebrochen, um Anna's willen werfe ich jetzt die Wissenschaft fort. Sieht sie das ein? Erkennt sie, welch ein ungeheures Opfer ich ihr gebracht habe und jetzt bringe? Nein, sie hat dafür keinerlei Verständniß. Sie sagt, ich liebte sie nicht; ich will jetzt sehen, ob sie mich liebt. Das will ich jetzt sehen. Ich will sehen, ob sie mir folgen wird. Wenn sie mich liebt, muß sie es thun; wenn sie mich liebt, muß sie mich begleiten.

»Ich will mich in Alles finden, ich will auf alle meine Ideale verzichten, nur auf das Eine nicht, auf die volle Liebe nicht. Ich will überall mit Brosamen vorlieb nehmen, nur in der Liebe nicht. Hier steht es noch wie früher – ganz oder gar nicht. Hier darf nichts halb sein, hier heißt es: Alles oder nichts.«

Heinz steigt mit raschen Schritten bergan. Er fühlt es nicht, wenn sein Fuß tief einsinkt in das durchweichte Erdreich; er merkt den Modergeruch nicht, der von dem faulenden Laube aufsteigt; er hört das laute Rauschen des Baches nicht, der, aus seinen Ufern getreten, wild dahinschießt. Seine Gedanken sind rascher als der jähe Lauf des Baches, seine Gedanken sind sinnverwirrender als der wüste Moorgeruch. Der nasse, kalte Nebel durchfeuchtet ihm die Kleider, näßt ihm Haar und Antlitz – er merkt es nicht.

Da ist er nun endlich im Dorfe. Er hat einen weiten, weiten Umweg machen müssen, denn der angeschwollene Bach hat den Steg zertrümmert; aber er fühlt keinerlei Müdigkeit. Trotzig schreitet er die leere Dorfstraße hinauf. Aus der wirren Folge der Gedanken hat er zwei Dinge erfaßt. »Ich muß fort,« heißt das eine, »wenn Anna mich jetzt nicht begleitet, so liebt sie mich nicht,« heißt das andere.

So trat er in's Pfarrhaus. Ein Blick auf sein Gesicht sagte Anna, daß ihr eine jener bösen Stunden bevorstand, wie sie sie jetzt so oft durchgemacht hatte. Sie wußte, was es zu bedeuten hatte, wenn seine Lippen so fest geschlossen waren und seine Augen so unheimlich leuchteten. Mit jenem Blicke für das Kleine des Lebens, der den Frauen eigen ist, sah sie, trotz der Aufregung, in die sein Aussehen sie versetzte, daß seine Kleider durchnäßt waren und zitterte für seine Gesundheit; aber da sie wußte, daß sie ihn daran nicht erinnern durfte, so schwieg sie.

»Sind wir allein?« fragte er gleich beim Eintreten.

Als er so fragte, schoß ihr der Gedanke durch den Kopf, ob das nicht etwa die Stunde sei, in welcher das lange Gefürchtete geschehen sollte. Aber nein. Sie hatte ja das schon so oft befürchtet und es war doch nicht geschehen. Trotzdem war sie wieder bis in's innerste Herz aufgeregt.

Heinz küßte die ihn Umarmende flüchtig auf die Stirn und fragte dann wieder: »Sind wir allein?«

Wie seine Stimme heute rauh klang. Der bloße Ton trieb der gequälten, aufgeregten Frau die Thränen in die Augen.

Anna nickte nur und setzte sich wieder an ihr Nähtischchen. Heinz setzte sich ihr gegenüber, so, daß der Tisch zwischen ihnen stand, stützte den Ellenbogen des linken Armes auf das Fensterbrett und wühlte mit der Hand in seinem Haare.

Eine Zeit lang schwiegen Beide. Anna bemühte sich offenbar, das Weinen zu unterdrücken, aber es gelang ihr nicht, und hin und wieder fiel eine Thräne in ihren Schooß. Heinz blickte sie starr und düster an.

»Worüber weinst Du wieder?« fragte er endlich unwillig.

»Verzeih',« sagte Anna und blickte zum ersten Male auf und ihm voll in's Gesicht. Die Augen waren ihr voll Thränen.

»Ich würde mich freuen, Anna,« rief Heinz, »wenn Du jetzt recht vernünftig wärest. Ich habe mit Dir sehr ernste Dinge zu besprechen.«

Sehr ernste Dinge! Diesmal hatte ihre Ahnung sie nicht getäuscht, die gefürchtete Stunde war wirklich gekommen. Wie Todeskälte liegt es ihr in den Gliedern.

»Unser Verhältniß ist nicht, wie es sein soll,« fährt Heinz fort. »Das soll kein Vorwurf für Dich sein, es ist nur die Feststellung einer Thatsache. Ich wiederhole es, Dich trifft keinerlei Vorwurf. Ich erkenne die reiche Fülle von Liebe, die Du mir immer geboten hast und noch bietest, vollständig an und danke Dir dafür; aber trotzdem ist unser Verhältniß nicht so, wie es sein sollte. Die Ursache, daß dem so ist, liegt auch nicht in mir, sie liegt in den äußeren Umständen. Ich bin hier in eine ganz unerträgliche Lage gerathen. Ich bin völlig isolirt und doch bedarf kein Anderer so sehr des Umganges mit Menschen, wie ich. Giebst Du das zu?«

Anna neigte den Kopf ein wenig.

»Schön. Auch Du lebst hier ganz isolirt, ganz vereinsamt. Das ist auch für Dich nicht gut und ich kann nicht billigen, daß Du so verfährst.«

»Ich glaubte, Du wolltest es so,« sagte sie mühsam.

»Du hast ganz Recht. Ich wollte es so, aber es war nicht gut, daß Du auf meinen Wunsch eingingst. Du hättest mir widersprechen sollen. Aber einerlei, Thatsache ist, daß wir uns Beide völlig isolirt haben. Ich weiß nicht, wie Du dazu stehst; aber mir ist diese Isolirung unerträglich.«

Er wartet eine Weile, ob sie etwas sagen wird. Als sie schweigt, fährt er fort:

»Du weißt auch, daß ich mit meiner Wissenschaft brechen muß. Ich kann bei dem von mir ergriffenen Studium nicht bleiben, es ist mir einfach unmöglich.«

Er wartet wieder auf eine Einrede, aber sie schweigt beharrlich.

»Ich mußte mir also die Frage vorlegen: ›Was nun thun?‹ Du wirst vielleicht meinen, ich sollte dann ein anderes Studium ergreifen; aber ich kann das nicht, weil mir nicht nur meine Wissenschaft, sondern die Wissenschaft als solche zuwider geworden ist. Die Bücher widern mich an, mich verlangt nach dem praktischen Leben. Ich muß mich wieder unter die Menschen begeben, muß wieder theilnehmen an ihren Leiden und Freuden, an ihren Verirrungen und ihren Kämpfen. Ich muß einen Beruf ergreifen, an dem ich Freude finden, einen Beruf, in dem ich meine Kräfte bethätigen kann. Dann wird mein Geist die alte Spannkraft wieder finden, dann werde ich wieder ich selbst sein.

»Ich habe Dir viel von Horace Balteville erzählt. Er ist seit gestern in Fischersbach. Ich habe mich mit dem Freunde berathen und er redet mir zu, nach Hause zurückzukehren und Landwirth zu werden. Dieser Rath ist gut und ich werde ihn befolgen. Ich werde ein Gut pachten, und die frische Landluft, die freie, männliche Thätigkeit des Landwirths werden mich wieder zu dem machen, was ich früher war. Ich werde meine ehrgeizigen Träume Träume sein lassen, werde mich darauf beschränken, ein Vermögen zu erwerben und mir unter den Nachbarn denjenigen Einfluß erringen, ohne den ich, wie ich jetzt sehe, nicht leben kann. Ich werde so zwar sterben, ohne mir einen unsterblichen Namen erworben zu haben; aber ich werde dann glücklich gelebt haben und das ist mehr werth. Hörst Du auch, was ich sage, Anna?«

Sie hört nur zu gut. Und was muß sie hören! Nicht, daß er ihrer mit keinem Worte gedenkt, daß er sie ganz vergessen zu haben scheint, zerreißt ihr das Herz, nein, daß ihr angebeteter Heinz, daß der herrliche, strebsame Jüngling, den sie liebt, so sprechen, so empfinden kann. Welch' böse Mächte sind Herr geworden über ihn, welcher böse Dämon hat seinem Geiste die Schwingen zerbrochen!

Ist nicht etwa gar die Liebe zu ihr das Bleigewicht, das ihn niederhält?

»Heinz,« preßt sie mühsam hervor, während ihre Thränen reichlich fließen, »Heinz, Du redest im Unmuthe. Das kann ja gar nicht Dein Ernst sein.«

»Glaubst Du, daß ich scherze? Mir ist wahrlich nicht darnach zu Muthe. Ich muß aus diesen Verhältnissen heraus, sie sind mir unerträglich.«

»Wohlan, Heinz, geh'! Ich werde Dich nicht zurückhalten. Geh', aber brich deshalb nicht mit Dir selbst, mit Deinen eigenen Idealen. O Heinz, ich beschwöre Dich, weise die verführerische Stimme von Dir. Du hast mir so oft gesagt, daß Du nie glücklich werden könntest in der thatenlosen Ruhe des unbekannten Privatmannes, und Du hattest recht, wenn Du so sprachest. Dir sagen die Verhältnisse hier nicht zu, Deine Kameraden haben schlecht an Dir gehandelt, die Professoren sind nicht begabt genug, um Deine Begabung nach Gebühr zu würdigen, ich kann Dir nicht genügen. Nun, so kehre uns Allen den Rücken, Heinz, aber gieb Dich deshalb nicht selbst auf. Geh' fort, geh' in die weite Welt. Sie ist groß und weit. Du wirst eine Stadt finden, in der es Dir gefallen wird, Kameraden, die Dich verehren, Professoren, die Dich verstehen werden. Du wirst dann wieder Freude finden an der Wissenschaft, Du wirst Dich ihr widmen, Du wirst muthig voran gehen und die Andern werden Dir willig folgen. Du wirst von Erfolg zu Erfolg eilen, Dein Name wird weiter und weiter bekannt werden, Dein Einfluß weiter und weiter greifen. O, gieb Dich nicht auf, gieb Dich nicht selbst auf!«

Anna war aufgesprungen und hielt ihn leidenschaftlich umfaßt. »Gieb Dich nicht selbst auf, Heinz,« flüsterte sie, »o, gieb Dich nicht selbst auf!«

Heinz drückte sie gerührt an sich, aber sein Entschluß stand fest.

»Ich danke Dir, Anna,« sagte er, »daß Du so muthig zu mir sprichst: aber ich kann meine Absicht nicht aufgeben. Das, was Du da sagst, ist mir ja in innerster Seele verständlich, denn Du sprichst nur aus, was ich selbst jahrelang gefühlt habe; aber ich habe eingesehen, daß ich irrte. Es lohnt der Mühe nicht, Anna, nach Höherem zu streben. Es giebt nur eine Wissenschaft, die Berechtigung hat, das ist die Mathematik. Sie verhilft den Menschen dazu, leichter ihr Brod zu erwerben, es bequemer zu verzehren. Was sonst diesen Namen trägt, ist ein leerer Schall.«

»Nun, so ergreife die Mathematik,« rief Anna leidenschaftlich. »Wirf Alles von Dir, was Dir lästig ist, was Dir unfruchtbar erscheint, aber gieb Dich selbst nicht deshalb verloren. O, daß ich Engelzungen hätte, Heinz, Dir zuzurufen: Gieb Dich nicht selbst verloren! Verzichte nicht auf den hohen Sinn, der in Dir lebt, sinke nicht herab zum großen Haufen, der froh ist, wenn er satt ist. O Heinz, Du hast Dich so oft des deutschen Blutes gerühmt, das rein und voll in Deinen Adern fließt; bei diesem Deinem deutschen Blute, bei Deinen deutschen Ahnen, bei Deinem deutschen Namen beschwöre ich Dich: Gieb Deinen deutschen Sinn nicht auf, verzichte nicht auf das edelste Erbtheil unseres Volkes, auf den idealen, hochfliegenden Sinn.«

Sie preßte seine Hand fest auf ihren wogenden Busen und sah ihm flehend in's Antlitz. Sie war wunderbar schön, wie sie sich so zu ihm niederbeugte und so flehend redete; aber sein Entschluß war gefaßt und je eindringlicher sie sprach, um so eigensinniger klammerte er sich an ihn.

»Nein, Anna,« sagte er fest und schüttelte den Kopf. »Ich will es nicht wieder darauf ankommen lassen, die schönsten Jahre meines Lebens möglicherweise zu vergeuden, indem ich einem Schattenbilde nachjage. Ich will leben, ich will nicht wieder nur hören, wie Andere lebten. Unser Leben währt eine kurze Spanne Zeit, ich will es mir nicht mehr als nöthig ist verkürzen. Ich will leben, will genießen. Ich will nicht länger einsam sein, ich will mich nicht länger nur von Hoffnung nähren und meinen Durst mit Aussichten stillen.«

Anna richtete sich langsam auf und ließ seine Hand fahren. Sie weinte nicht länger, aber ihr Athem ging fliegend schnell. Sie drückte beide Hände auf die Brust. Aus dem Chaos der Gedanken, die ihr durch den Sinn flogen, rang sich der eine los: Sie dürfe nichts dazu thun, ihn in seinem Entschlusse zu bestärken. Sie hatte sich lange genug auf diese Stunde vorbereitet, jetzt galt es, die Kraft zu haben seiner ganz würdig zu sein, sich ganz für ihn zu opfern. Mag er für sie verloren sein, wenn er nur sich selbst erhalten bleibt.

»Geh'!« sagte sie endlich. Sie weinte nicht, sie seufzte nicht, sie sagte das ganz ruhig. Sie hatte abgeschlossen mit sich.

»Nein, Anna, Du hast mich mißverstanden. Was wäre mir das Leben ohne Dich? Ich will nicht allein gehen, Du sollst mich begleiten. Wir wollen glücklich sein, Anna, sehr glücklich!«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich bleibe,« sagte sie fest.

»Wie soll ich das verstehen, Anna? Verschmähst Du es, mein Weib zu werden?«

Das war ein hartes Wort und ihre Lippen zuckten schmerzlich. Sie soll ihn verschmähen!

»Ich bleibe,« sagte sie.

»Aber warum denn, Anna?« ruft Heinz und betrachtet sie mit Verwunderung. Zum ersten Male widerspricht sie ihrem verzogenen Lieblinge und dieser ist im Begriffe, zornig zu werden. »Warum?« fragte er.

Sie sieht, wie seine Stirn sich faltet, aber das macht sie nicht irre.

»Ich bleibe,« wiederholt sie.

Heinz beherrscht sich mühsam und zieht sie nieder auf seinen Schooß. Sie läßt ihn gewähren und sieht vor sich nieder. Sie ist sehr ruhig und wundert sich selbst darüber, daß sie es ist.

»Meine theure Anna,« sagt er im Tone leidenschaftlicher Zärtlichkeit, »ich verstehe Dich nicht. Was will ich denn? Ich will uns die Möglichkeit schaffen, uns schon jetzt anzugehören und Du thust, als wenn ich etwas Unrechtes von Dir verlangte. Ich will nicht von Dir gehen, Anna, ich will nur Fischersbach verlassen und Du, Anna, sollst mir als mein Weib folgen. Wir werden uns dann ganz besitzen, damit werden die bösen Schatten schwinden, die in der letzten Zeit so oft zwischen uns standen. Du wirst dann bald erkennen, wie unrecht Du thust, wenn Du daran zweifelst, daß ich Dich so sehr liebe, als Du geliebt zu werden verdienst, so sehr, als nur je ein Mann ein Weib geliebt hat.

»Wir werden zusammen in meine Heimath gehen. Du kennst meine Heimath noch nicht, aber sie wird Dir gefallen. Sie ist ein schönes Land, das dunkle Flüsse hat und grüne Wiesen, in denen die Wachtel schlägt, und weite Kornfelder, die im Winde wogen. Es hat weißschimmernde Birkenwälder und dunkle, gewürzige Nadelholzwaldungen.

»Wir werden in meine Heimath gehen und ich werde mich dort ankaufen oder eine Pachtung übernehmen. Wir werden in einem hübschen Hause wohnen, das in einem grünen Garten liegt. Wir werden dort ganz unabhängig sein. Du wirst Dich bald einleben, Anna. Unser Landvolk, die Letten, sind die liebsten Menschen und Niemand wird mehr Freude an ihnen finden, als Du. Es sind weiche, gute Gefühlsmenschen. Du wirst ihre Sprache bald erlernen und sie dann sehr liebgewinnen. Du liebst Thiere, Du liebst die Gärtnerei, Du liebst die Natur, wie solltest Du da nicht daran Gefallen finden, eine ländliche Hausfrau zu sein. O Anna, wir werden dort sehr glücklich sein. Wir werden dort nicht andere Menschen glücklich machen, sie sind es nicht werth, aber wir werden selbst glücklich sein; wir werden dort nicht nach dem Schattenbilde des Ruhmes jagen, es verlohnt sich nicht der Mühe, aber wir werden uns nach nichts sehnen; wir werden dort nicht Unsterblichkeit erringen – was ist Unsterblichkeit? – aber wir werden unser sterbliches Leben in Genuß verbringen Anna, wir werden ein glückliches Leben führen und den Tag segnen, da wir den Entschluß faßten, es zu beginnen.«

Anna hatte ihn nicht unterbrochen. Unbeweglich, mit niedergeschlagenen Augen, saß sie da und lauschte seinen feurigen Worten; aber sie hatten nichts Verführerisches für sie – ihr Entschluß stand felsenfest. Jene Bilder, die er da vorführte, waren schön, aber es waren Traumbilder. So durfte Heinz sein Leben nicht verbringen und wenn er es doch that, nun, so durfte sie wenigstens nicht seine Mitschuldige werden. Das war sie ihm, das war sie ihrer Liebe zu ihm schuldig. Seine Worte riefen keinen Kampf mehr in ihr hervor.

Heinz wartete eine Weile auf ihre Antwort, aber sie blieb unbeweglich und schwieg.

»Hast Du mich gehört?« fragte er endlich.

Sie nickte.

»Nun und was sagst Du dazu?« fragte er ungeduldig.

Anna schlug die Augen auf und sah ihm voll in's Gesicht.

»Ich sage dazu,« begann sie leise, »daß ich Dir danke für die Liebe, die aus Deinen Worten spricht. Du weißt, Heinz, wie schwere Stunden ich durchlebt habe und doch ist diese weitaus die schwerste. Ich wundere mich selbst darüber, wo ich die Kraft hernehme, sie zu ertragen. Was Du mir eben verheißt, hat nichts Verlockendes für mich.«

Heinz macht eine Bewegung, als ob er aufspringen wolle und Anna erhebt sich. Er erhebt sich auch und sie stehen sich nun gegenüber. Sie umarmen sich nicht, sie drücken sich auch nicht die Hand, sie stehen neben einander, als wären sie sich schon fremd – Anna hat ihre Hände über die Brust gefaltet und sieht ihm ruhig in's funkelnde Auge, während sie leise, aber ganz ruhig zu ihm spricht.

»Wenn ich Dir sage,« spricht sie, »daß Deine Worte nichts Verlockendes für mich haben, so meine ich damit nicht, daß es für mich nicht der Inbegriff alles Glückes wäre, Dein Weib zu sein. Daß dem so ist, weißt Du sehr wohl, Heinz. Wenn ich nur an mich dächte, so könnte ich jetzt auch nichts Anderes, als Dich frohlockend umschlingen und Dir folgen. Aber ich liebe nicht mich, sondern Dich, Heinz, und ich liebe Dich so sehr, daß es für mich nichts Schmerzliches hat, wenn mein Glück um des Deinen willen zu Grunde geht. Als Du kamst, Heinz, als Du mir erlaubtest, Dich lieb zu gewinnen, Dich zu lieben, da wußte ich wohl, daß ich dieses Glück nicht verdient hatte und ich nahm mir vor, Alles zu thun, um wenigstens, so weit ich es vermochte, und das war ja nicht weit, Deiner würdig zu werden. Ich gelobte mir, Dir zu werden, was ein Weib nur ihrem Manne sein kann; ich gelobte mir, stets nur dein Wohl im Auge zu haben und Dich zu verlassen, sobald ich Deinem Glücke im Wege stehe. Die Stunde ist gekommen, da ich mein Gelübde halten muß. Du willst jetzt Alles aufgeben, was Dich zu dem Manne macht, der Du bist. Du willst Deinen Idealen entsagen, Du willst auf jedes höhere Streben verzichten und Dich ganz elendem Lebensgenusse hingeben. Weil Du in einer kleinen, jämmerlichen Stadt, in die Du nicht gehörst, weil Du von jämmerlichen, unverständigen Leuten, zu denen Du nicht paßt, verkannt worden bist, weil die kleinliche Behandlung der Wissenschaft, die Du hier gefunden hast, Dich nicht befriedigt, willst Du der Wissenschaft entsagen und nur noch flacher Geselligkeit und Deinem Weibe leben. Wohlan, Heinz, ich kann Dich daran nicht hindern, so gern ich es auch möchte, aber ich kann Dich darin auch nicht unterstützen. Willst Du Allem, was Du bisher liebtest und hochachtetest, entsagen, nun, dann entsage auch mir. In einem Leben, wie Du es vorhast, will ich nicht Deine Gefährtin sein, darf ich nicht Deine Gefährtin sein. Gehe hin, Heinz, und wenn Du Dich einmal wieder aufraffen wirst, und Du wirst es gewiß einmal, dann gedenke freundlich der Frau, die Dich so sehr liebte, daß sie Dir nicht folgen wollte auf der von Dir eingeschlagenen Bahn, weil sie diese für Deiner unwürdig hielt.«

Anna sprach das Alles, auch die letzten Worte, ganz ruhig und ohne den sanften Fluß ihrer Rede auch nur einmal zu unterbrechen. Heinz hörte ihr erstaunt zu; die widersprechendsten Empfindungen zerrissen seine Brust. Liebe zu Anna, Zorn über ihre Festigkeit, Widerwille gegen die Wissenschaft, Freude an Anna's selbstlosen Worten, die vermeintliche Erkenntniß der Schalheit aller idealen Bestrebungen, mehr aber als alles Andere sein trotziger Eigensinn rangen in ihm um die Oberhand. Der letztere siegte. Dort in der praktischen Thätigkeit, in der Lossagung von den bisherigen Zielen und Bestrebungen lag das Heil. Wenn sie ihn liebte, mußte sie ihm auch gegen ihren Willen, gegen ihre Erkenntniß folgen. That sie es nicht, nun, dann war ihre Liebe keine ganze, dann war an ihrer Liebe nichts gelegen.

»Willst Du mir folgen als mein Weib oder nicht?« fragte er trotzig.

»Nein.«

Heinz legte ihr die Hände schwer auf die Schultern.

»Bedenke, was Du sagst. Ich frage Dich: Willst Du mir folgen als mein Weib oder nicht?«

»Nein.«

»Noch einmal, Anna, zum letzten Male, bei Gott, Anna, zum letzten Male frage ich Dich: Willst Du mir folgen als mein Weib oder willst Du mich schmählich verlassen?«

Anna sieht ihm fest und ruhig in das finstere Gesicht und hält seinen durchbohrenden Blick aus.

»Ich will Dir nicht folgen,« erwidert sie sanft, aber fest.

Noch einen Augenblick bleiben seine Hände auf ihrer Schulter, als ob er sich stützen müßte auf das schwache, starke Weib, denn seine mächtige Gestalt schwankt; dann läßt er sie fahren und wendet sich der Thür zu.

»Heinrich!« rief Anna, »Heinrich!« Sie hatte ihn nie so genannt, aber jetzt kam ihr der Name so über die Lippen. Der Schmerzensruf, wie er hervordrang tief aus dem innersten Herzen, hätte einen Stein erweicht; aber ein Eichenstamm'sches Herz, von dem Trotz und Zorn Besitz ergriffen, war härter als der härteste Granit. Nicht einen Blick warf Heinz auf die unglückliche Frau zurück, deren Herz, deren Leben er mit sich nahm.

»Sie liebt mich nicht ganz, sie liebt mich gar nicht,« rief es trotzig in ihm, als er festen Schrittes die Straße hinabging.

Während er mit Anna redete, hatte sich ein heftiger Wind erhoben, die Nebel zertheilt und nun schwere Wolken heraufgeführt. Die Wolken jagten am Himmel hin wie ungeheure Gespenster, der Wind zerrte das Laub von den Bäumen und riß es mit sich fort, der kalte Regen ergoß sich in Strömen.

So ist es Heinz recht. Und nun bergauf und rasch zugeschritten.

Zu Hause empfängt ihn Horace. Er ist kein Menschenkenner, aber der erste Blick auf Heinzens verstörtes Gesicht sagt ihm, wie die Dinge stehen und er ist zu zartfühlend, um den Freund durch Fragen zu belästigen. Schweigend hilft er ihm die Sachen packen und bespricht mit dem von der Wirthin herbeigerufenen König alles Nähere. Dann fahren sie zur Eisenbahnstation und ehe noch die Nacht hereingebrochen ist, sausen sie im Eisenbahnzuge dem Osten zu.

Voll Bewunderung und Mitleid schaut Horace in des Freundes bleiches Gesicht, das so schön ist, aber auch so kalt und leblos wie Marmor. »Glich ein Sohn je mehr seinem Vater,« denkt er, »als Heinz dem Doctor gleicht?«


Kaum eine halbe Stunde, nachdem Heinz fortgegangen war, kehrten der Pfarrer und Marie nach Hause zurück. Sie fanden Anna ohnmächtig auf dem Boden liegend, mit einer langen, rothen Wunde, auf ihrer weißen Stirn. Sie war, als sie ohnmächtig wurde, auf die scharfe Ecke des Nähtischchens gefallen und hatte sich dabei beschädigt.

Als man sie in's Leben zurückgerufen hatte, wehrt sie alle Fragen ab und verlangte zu Bett gebracht zu werden – dann dankte sie Marie für die Hülfe, die sie ihr geleistet hatte, klagte über große Ermüdung und war bald fest eingeschlafen.

Sie ist nicht wieder erwacht.


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