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Jugendeindrücke.

Es vergingen nun mehrere Jahre, ohne daß unser Held andere Einflüsse als die des täglichen Lebens erfahren hätte, aber da er eben in dem Alter stand, in welchem der Keim zu unseren späteren Neigungen und Abneigungen, unseren Tugenden und Gebrechen gelegt wird, so lohnt es sich wohl, ein wenig bei diesem täglichen Leben zu verweilen.

In der Schule kam Heinz rasch vorwärts, denn er war mit Verstand und Gedächtniß reich begabt, und für Fleiß und Aufmerksamkeit sorgten nicht nur die Eltern, sondern auch sein eigener Ehrgeiz. Letzterer fand auch in der Schule reichliche Befriedigung, denn Heinz war bald der beliebteste und einflußreichste Kamerad und seine kleinen Gefährten thaten, theils aus Liebe, theils aus Furcht, was er wollte. War er ihnen doch nicht nur an Begabung und Körperkräften, sondern auch an geistiger Reife überlegen, wie das gewöhnlich bei Kindern der Fall ist, die zu Hause ausschließlich mit Erwachsenen verkehren. Dazu war er überaus herrschsüchtig, und wer das von ganzer Seele ist und dabei nicht allzusehr über seine geistigen Kräfte hinausgreift, der erreicht in der Regel sein Ziel. Weniger glücklich war er in Bezug auf das Durchsetzen seines Willens nach oben hin, gegen Fräulein Berg, die es vortrefflich verstand, ihn nöthigenfalls zu demüthigen, ohne es zu einem immerhin bedenklichen Kampfe mit seinem Trotz kommen zu lassen. Von ihrem klugen Verfahren gegen Heinz möge hier ein Beispiel folgen:

Die Berg'sche Schule nahm, wie bereits erwähnt, beide Geschlechter auf. Da galt es nun, die Knaben und die Mädchen auseinander zu halten und es wurde streng darauf gesehen, daß weder in den Zwischenstunden, noch auf dem Wege nach Hause eine Gelegenheit zu näherer Bekanntschaft sich bot. Trotzdem wußten es die Knaben doch immer möglich zu machen, gelegentlich mit dem einen oder dem andern kleinen Mädchen auf einem halb zärtlichen, halb neckischen Fuß zu stehen. Da nun ein Theil der Knaben ältere Brüder zu Hause hatte, die schon in den oberen Klassen des Gymnasiums waren, und diese gelegentlich von großer Liebe zu einer beliebigen jungen Dame, welche die höhere Töchterschule besuchte, reden hörten, so pflegten die älteren Bergianer wohl auch ihre harmlosen Beziehungen mit dem vieldeutigen Worte »Liebe« zu bezeichnen, ja wohl gar von ihren Bräuten zu sprechen. Heinz, der sein väterliches Haus lediglich behufs des Schulbesuchs verlassen durfte und auch sonst mit keinem andern Kinde verkehrte als mit Lelia, hatte bisher weder Veranlassung noch Gelegenheit gefunden, sich an diesem Treiben zu betheiligen. Als aber eines Tages in einer Zwischenstunde wieder die Rede darauf kam, und sein Freund Karlchen Maier, der für ihn eine unbegrenzte Hochachtung hegte, bemerkte, es sei doch schade, daß Heinz keine Braut gefunden habe, sagte dieser ärgerlich, daß das nur an seinem eignen Willen liege. Karlchen Maier stimmte dem natürlich ganz bei; aber der Flachskopf, er hieß Willi Schulze und rivalisirte immer mit Heinz, meinte, daß sich dieser allerdings auffallende Umstand ja möglicherweise auch dadurch erklären lasse, daß keines der Mädchen mit Heinz etwas zu thun haben wolle. Heinz fragte ihn darauf in heftigem Tone, ob er ihm wohl Diejenige namhaft machen wolle, die seiner Meinung nach Heinzens Begleitung zurückweisen würde, und als ihn nun sein Gegner mit boshaftem Lächeln fragte, ob er es wohl wagen würde, die hübsche Martha nach Hause zu begleiten, so verpflichtete sich Heinz in seinem Zorne nicht nur dazu, sondern er gelobte auch vor allen Zeugen, der hübschen Martha auf offener Straße einen Kuß zu geben.

Dieses Gelöbniß erregte das größte Aufsehen, denn einmal war die hübsche Martha gegen alle Knaben äußerst kühl, dann aber ging sie nie allein nach Hause, sondern wurde immer von einer erwachsenen Schwester abgeholt. Zum Ueberflusse pflegten die Bergianer keineswegs ihre Bräute zu küssen, sondern sie beschränkten sich durchaus nur auf eine kurze Unterhaltung mit ihnen.

Kaum war Heinzens Heftigkeit ein wenig verraucht, so that ihm auch sein leichtsinniges Versprechen überaus leid, aber er war zu eitel, um den Spott des Flachsköpfigen über sich ergehen zu lassen und den Nimbus einzubüßen, den er sich durch zähes Festhalten an dem einmal gegebenen Worte in den Augen der Kameraden erworben hatte. Als er nun gar hörte, wie in der russischen Stunde, in der es immer etwas laut herging, sich zwischen Karlchen Maier und Robert Steinheil ein zwar leise geführter, aber überaus heftiger Streit darüber entspann, ob denn Heinz wirklich tollkühn genug wäre, auch in diesem Falle sein Wort zu halten, war sein Entschluß gefaßt, alle Folgen der That auf sich zu nehmen und sein Versprechen zu erfüllen.

Die Mädchen wurden fünf Minuten früher entlassen, als die Knaben; aber da die hübsche Martha ganz am Ende der Hauptstraße wohnte, so konnte man sie immer noch einholen. Kaum waren daher die täglichen Aufführungskarten unter die Knaben vertheilt und damit das Signal zum Aufbruch gegeben, als auch schon Heinz, Karlchen Maier, Willi Schulze und Robert Steinheil in raschem Laufe die Hauptstraße hinabeilten, bis sie die hübsche Martha, die, nichts Böses ahnend, harmlos neben der Schwester herging, erreicht hatten. Die Zeugen blieben nun zurück und Heinz schloß sich, mit hochklopfendem Herzen freilich, den Beiden an.

»Was willst Du, mein Junge?« fragte das junge Mädchen verwundert, als sie sah, daß Heinz sich an Marthas Seite drängte und neben ihr herschritt, als ob er zu ihr gehöre.

Heinz erwiderte mit stockender Stimme, daß er die Absicht habe, sie nach Hause zu begleiten. Das junge Mädchen, dessen Verwunderung mit jedem Augenblicke wuchs, blieb nun stehen und fragte ihn, wie er dazu käme, ihnen seine Begleitung aufzudrängen, während die kleine Martha, die jetzt den seiner Streiche wegen übelberüchtigten Flachsköpfigen und seine Gefährten bemerkt hatte und instinktiv ahnen mochte, daß es auf eine Ungezogenheit abgesehen sei, sich ängstlich an die Schwester anschloß. Heinz aber, der in diesem Augenblick die Freunde, die sich an den rathlosen Gesichtern der Schwestern ergötzten, hinter sich lachen hörte, und bei dem in Folge dessen die gepreßte Stimmung reinem Uebermuthe wich, ergriff mit beiden Händen das Gesicht der heftig erschrockenen Martha, zog es an sich und drückte einen lauten Kuß auf ihren Mund. Dann ließ er sie fahren und sprang lachend davon, während die beiden Schwestern, die eine vor Schmerz und Scham, die andere vor Zorn weinend, nach Hause eilten.

Auch Heinz war bald das Weinen näher als das Lachen. Zwar, als ihn die Kameraden beglückwünschten, als Karlchen Maier triumphirend immer wieder ausrief: »Seht Ihr! Habe ich es nicht gesagt?« als Alle ihn einen enorm fixen Kerl nannten und selbst Willi Schulze ihm sagte, er sähe nun wohl, daß man Heinz glauben müsse, war er sehr stolz gewesen, aber als die Kameraden sich von ihm getrennt hatten und er allein dem väterlichen Hause zuwanderte, war ihm gar trübselig zu Muthe. Er mußte sich sagen, daß ihn jedenfalls eine sehr strenge Strafe treffen würde; er sah voraus, in welchen Zorn der Vater gerathen mußte und wie böse die Mutter sein würde, denn wie sehr auch Heinz der Augapfel der Mutter war, so verhielt sie sich doch ihm gegenüber keineswegs schwach, und wußte, wo sie es für nöthig hielt, auch streng zu sein. Das Schlimmste aber war die anklagende Stimme in der eigenen Brust, die ihm sagte, daß er durch seine unvernünftige That das kleine Mädchen schwer gekränkt habe.

Zu Hause wurde er von der größten Unruhe geplagt. Er konnte bei Tische, obgleich es seine Lieblingsspeise gab, nur mit der größten Mühe ein wenig essen und sein Gebühren verrieth der kundigen Mutter bald, daß ihm irgend ein Abenteuer zugestoßen sein müsse. Ehe sie jedoch Zeit fand, ihn zu offenherziger Beichte zu bewegen, kam Besuch und sie mußte ihr Vorhaben aufschieben. Heinz versuchte es nun, sich die Gedanken an das Geschehene aus dem Sinne zu schlagen, aber er fand nirgends Ruhe, und kaum hatte er an Annettchens Seite ein Dutzend Erbsenschoten gebulstert, so trieb es ihn fort zu Emma die am Fenster des Leutezimmers saß und an einem Kleide nähte. Aber auch hier konnte er heute nicht, wie er wohl sonst zu thun pflegte, behaglich neben ihr sitzen und beschaulich der blanken Nadel folgen, wenn sie, wie ein Maulwurf, durch das schwarze Zeug fuhr, sondern mußte rasch wieder aufspringen und davoneilen. Er suchte nun Weinthal auf, sah eine Zeitlang zu, wie dieser die Geschirre wusch und ging dann hinab in den Hof, aus dem Hofe in den Garten, aus dem Garten an den Kanal. Dann kehrte er wieder um und ging zu Tante Agathe. Dieser, der sein unruhiges Wesen auffiel, und die ihn nach der Ursache desselben fragte, sagte er in seiner Verlegenheit, daß er Kopfschmerzen habe, und die gute Dame wollte ihn nun durchaus dazu bewegen, zu Bette zu gehen, da er aber sich gleich wieder der Lüge schämte, so machte er einen Scherz daraus und sagte mit erzwungenem Lachen, er habe mir gespaßt, machte sie dadurch jedoch erst recht aufmerksam. Sie merkte wohl, daß er etwas auf dem Gewissen habe und drang in ihn, sich ihr mitzutheilen; aber er ließ sich auf nichts ein, und als sie ihm gar zu sehr zusetzte, lief er davon, dem Wohnhause zu. Da blieb er plötzlich ganz entsetzt mitten auf dem Hofe stehen, denn er sah deutlich Fräulein Berg aus dem Hause in den Thorweg treten und rasch davon gehen.

In seiner Bedrängniß eilte er nun zu Tante Agathe zurück, und theilte ihr unter einem Strome von Thränen das Ereigniß mit. Allein hier fand er schlechten Trost, denn kaum war er bis zum Kusse gekommen, als die Tante in den äußersten Zorn gerieth, ihn mit Scheltworten überhäufte und ihm erklärte, daß er augenblicklich ihre Wohnung verlassen sollte, da sie mit einem so ungezogenen Jungen nichts zu thun haben wolle.

Tante Agathe schoß bei dieser Gelegenheit, wie wohl mitunter, über das Ziel hinaus und gewährte ihrem Liebling eine, in diesem Augenblick durchaus nicht beabsichtigte Erleichterung, denn da sie in ihren Vorwürfen alles Maß überschritt, verwandelte sich der in Reue zerfließende Knabe vor ihren Augen in einen trotzigen Jungen, der, die Zähne übereinander pressend, ihr zurief, daß er ihre Wohnung sofort verlassen werde, um nie wieder zurückzukehren, und so in aufgerichteter Haltung aus dem Zimmer eilte. Nun, da er erst einmal im Kampfe gewesen, war er feuerfest und ging, verhältnißmäßig ruhig und entschlossen das Kommende erwartend, dem Hause zu und sogleich in das Zimmer des Vaters. Der Doctor, der an seinem Tische saß und in einem Buche las, schien ihn durchaus nicht zu bemerken, hatte also wohl noch nichts erfahren. Heinz ging nun zur Mutter; aber auch bei ihr wurde ihm eine große Enttäuschung zu Theil. Er hatte erwartet, daß auch sie ihn mit harten Scheltworten empfangen, ja ihm wohl gar die Thür weisen werde, aber davon geschah nichts. Sie blieb ruhig und unbeweglich bei ihrer Arbeit sitzen wie der Vater, obgleich Heinz beim ersten Blick aus die Röthe ihrer sonst so bleichen Wangen sah, daß sie um Alles wußte. Als er nun ungewiß und zögernd stehen blieb, sagte sie mit ruhiger Stimme, als ob nichts geschehen wäre: »Du mußt nun Deine Arbeiten machen, Heinz,« und setzte sich dann, ohne scheinbar sein verweintes Gesicht, und die Aufregung, die alle seine Glieder beben machte, zu beachten, wie gewöhnlich neben ihn, um ihm zu helfen. Heinz war völlig rathlos. Was sollte dieses Verfahren bedeuten? War es die Windstille vor dem Sturme? Wollte die Mutter ihn erst seine Arbeiten machen lassen, um ihn dann zum Vater zu führen zur Exemtion? Aber warum that sie das nicht lieber gleich? Er entschloß sich endlich zum Reden, aber kaum hatte er begonnen, als die Mutter mit einem: »Laß das, Heinz!« abbrach. Dabei war ihr Wesen so merkwürdig, so traurig und doch so kalt, und das stimmte gar nicht zusammen, denn sonst war sie nie zärtlicher gegen den Sohn, als wenn sie traurig war. So blieb es den ganzen Abend über, die Mutter blieb zurückhaltend, für den Vater war er nicht vorhanden. Als er es endlich nicht mehr aushielt und die Mutter geradezu fragte, was sie denn mit ihm vorhätten, erwiderte sie in demselben traurigen Tone, in dem sie den ganzen Abend über gesprochen, daß er morgen seine Strafe erhalten solle, und ging dann, gegen ihre Gewohnheit, ohne ihm gute Nacht gesagt zu haben, davon.

Als Heinz sich endlich in den Schlaf geweint hatte, träumte er lauter schreckliche Dinge und befand sich in den fürchterlichsten Lagen, indem er bald von seinem Vater, bald von Fräulein Berg, bald von dem Flachskopf und der hübschen Martha auf's Schlimmste mißhandelt wurde. Er wachte am Morgen vor den Eltern auf und da seiner entschlossenen Natur lange Ungewißheit unerträglich war, beschloß er, durch sein Aufstehen die Eltern zu wecken, obgleich er nicht anders glaubte, als daß unmittelbar nach ihrem Erwachen irgend eine unerhörte Exemtion an ihm vollstreckt werden würde. Statt dessen blieben die Eltern ihrem gestrigen Verfahren getreu. Der Vater beachtete ihn nach wie vor nicht im mindesten, die Mutter blieb traurig wie am Tage vorher, ja, als er seinen Kaffee getrunken hatte, hieß es wie gewöhnlich, die Uhr sei nun halb neun und er solle zur Schule gehen. Da durchzuckte ihn ein entsetzlicher Gedanke. Wie, wenn er in der Schule bestraft werden sollte? Oeffentlich, vor allen Mitschülern? Aber nein, das konnte nicht sein, das würde der Vater nie zugeben.

Trotz dieses beruhigenden Gedankens betrat Heinz doch die Schule in der größten Aufregung, und die Aeußerungen staunender Bewunderung, die hie und da fielen, fanden bei ihm heute ein sehr gleichgiltiges Ohr. Auch als die Schule begann, ohne daß sich irgend etwas ereignet, das auf sein Vergehen Bezug gehabt, blieb er noch äußerst gespannt, denn daß irgend eine Strafe seiner harrte, sagte ihm sein Gewissen.

Die erste Zwischenstunde kam, die zweite, – es geschah nichts. Seine Spannung wurde immer größer. Er bat Karlchen Maier, sich womöglich darüber zu unterrichten, ob die hübsche Martha in der Schule sei oder nicht, und dieser brachte die Kunde, sie sei nicht da. Das war ein schlimmes Zeichen! Endlich kam die dritte, die lange Zwischenstunde, und jetzt ging plötzlich Fräulein Berg durch den Saal und hinter ihr alle Mädchen. Dann wurden auch die Knaben gerufen und mußten sich im Vordergrunde des Zimmers aufstellen. Alle flüsterten mit einander und sahen auf Heinz, dem sich die Haare sträubten vor Angst und Aufregung. Also der Vater hatte ihn doch im Stich gelassen. Wohlan, er war fest entschlossen, sich nicht leichten Kaufes zu ergeben, und sich mit Händen, Füßen und Zähnen bis zum letzten Athemzuge zu vertheidigen.

Fräulein Berg trat nun vor die Kinder und sagte mit zitternder Stimme, daß am gestrigen Tage von einem Schüler ihrer Schule ein Exceß begangen sei, wie er bisher in derselben nicht vorgekommen. Heinz Eichenstamm habe sich nicht entblödet, die kleine Martha Fink auf offener Straße zu überfallen und zu küssen. Obgleich sie nun zwar überzeugt sei, daß er sich der Schlechtigkeit seines Verfahrens nicht bewußt gewesen und mehr leichtsinnig als schlecht gehandelt habe, so könne doch sein Vergehen natürlich nicht ungestraft bleiben. Sie wolle indessen, da sie ihn bisher immer als einen anständigen und gut gesitteten Knaben gekannt habe, ihn für dieses Mal noch mit einer leichteren Strafe davon kommen lassen, jedoch nur unter der Voraussetzung, daß er sich seiner Schuld bewußt sei und blindlings gehorche. Sie wisse, daß er verständig und muthig genug sei, eine als verdient erkannte Strafe geduldig hinzunehmen, um dann nicht nur in den Augen seiner Kameraden, sondern auch in seinen eigenen Augen wieder gereinigt dazustehen. »Du wirst Dich,« so schloß sie ihre Rede, »jetzt gleich in die Mädchenklasse begeben und dort die ganze Woche über an dem Unterricht theilnehmen, denn da Du Dich ja selbst auf der Straße an die Mädchen drängst, so ist es recht und billig, daß Dir Gelegenheit gegeben werde, auch die Schulzeit über mit ihnen zusammen zu sein.«

Heinz stand wie betäubt da. Das also war es! Zu den Mädchen sollte er! Sein erster Gedanke war der, sich zu widersetzen; aber die Appellation an seine Einsicht, seinen Muth hatte seinem Trotz Muskeln und Sehnen durchschnitten. Er fühlte sich schuldig, die öffentliche Meinung war wider ihn, und mit Recht. Willenlos ließ er sich von Fräulein Berg in das Zimmer der Mädchen führen. Noch flackerte in ihm die Hoffnung auf, die Mädchen würden ihn necken dürfen, und dann würde er seinen Trotz wieder bekommen haben, das wußte er, aber Fräulein Berg wußte das auch und hatte dafür gesorgt, daß kein spottendes Wort fiel. Fünf Minuten vor dem Schlusse der Schule holte ihn Weinthal ab, damit er auf dem Wege nach Hause keiner unangenehmen Berührung ausgesetzt sei. So blieb es zwei Tage hindurch. Zwei Tage hindurch weinte Heinz vom Morgen bis zum Abend, dann ward ihm verziehen. Am Morgen des dritten Tages schloß ihn die Mutter wieder in ihre Arme und sagte: »Das thust Du mir nie wieder, Herzensjunge, nicht wahr?« Am Morgen des dritten Tages zog ihn der Vater an sich und sprach: »Das war brav von Dir, daß Du Dich geduldig der verdienten Strafe unterwarfst. Ein Junge kann wohl einmal einen unartigen Streich ausgehen lassen, aber dann muß er auch den Muth haben, die darauf gesetzte Strafe männlich auszuhalten.« Am Morgen des dritten Tages führte ihn endlich Fräulein Berg wieder in die Knabenklasse: »Heinz,« sprach sie, »hat nun seine Strafe erhalten und ihm thut seine Unbesonnenheit leid. Wer noch mit einem Worte des Handels erwähnt, bekommt es mit mir zu thun.« – Das ist die Geschichte von der hübschen Martha.

Heinz durfte, wie wir schon erwähnten, das Elternhaus fast nur zur Schulzeit verlassen, denn der Doctor, der selbst nur dann, wenn sein Beruf es verlangte, ausging, dachte ihn so am sichersten vor Zerstreuung und Genußsucht zu bewahren. Aus demselben Grunde erlaubte er ihm auch keinerlei Verkehr mit den Kameraden und beschränkte ihn durchaus auf den Umgang mit den Eltern und den Rechsbergs. Dann suchte der Doctor vor Allem drei Dinge bei seinem Sohne durchzusetzen: Wahrheitsliebe, Ordnungssinn und Fleiß, welche in seinen Augen die weitaus vorzüglichsten Tugenden waren. In dieser Beziehung erlebte er Freude an seinem Kinde. Im Uebrigen ließ er Heinz viel Freiheit, verdarb aber alles durch die stets wieder hervortretende Absicht, den in dem Knaben liegenden Trotz mit Gewalt zu brechen. Obgleich er sich seit jener zu Anfang geschilderten Scene bemühte, solche Auftritte zu vermeiden, so ging es doch vorkommenden Falles stürmisch genug zwischen Vater und Sohn her, und Frau Agnes hatte genug zu thun, das Verhältniß wenigstens einigermaßen leidlich zu erhalten. Außer dem bewußten, übte übrigens der Vater einen viel größeren unbewußten Einfluß auf Heinz aus. Sein absprechendes, selbstherrisches Wesen erschienen dem Knaben als nothwendige Attribute der Männlichkeit, sein Stolz und sein Hochmuth als berechtigtes Selbstgefühl, seine Herrschsucht als natürliche Aeußerung der Kraft. Der Doctor hatte eine scharfe Zunge, vor seiner Kritik bestand nicht leicht Etwas, und da er, der so oft in seinem Leben Gelegenheit gehabt hatte, die Menschen von der verächtlichsten Seite kennen zu lernen, eine wahre Virtuosität darin besaß, für ihre Handlungen möglichst schlechte Motive zu finden, so wurde Heinz, der ihm oft genug zuhörte, mit den irrigsten und einseitigsten Vorstellungen von den Menschen und vom Leben erfüllt. Dazu fehlte dem Doctor für die schönsten und beglückendsten Seiten des menschlichen Lebens, für Poesie und Kunst, jeder Sinn.

Da war es denn gut, daß andere Einflüsse den seinigen das Gleichgewicht hielten. Am meisten wirkte ihm, oft unbewußt, Frau Agnes entgegen. Zwar auf Wahrheitsliebe, Ordnungssinn und Fleiß hielt sie eben so sehr, als ihr Mann, aber im Uebrigen gingen sie weit auseinander. Die noch junge Frau führte ein wunderbar zweifaches Leben. Sie war unter lauter positiv denkenden, ungemüthlichen, oft rauhen und herrischen Menschen ausgewachsen, hatte dann ihren Onkel geheirathet, der genau so dachte und handelte wie jene, sie wußte es daher nicht anders, als daß die Menschen heftige, nüchterne, unverträgliche Geschöpfe seien, deren Blick, so scharf ihr Auge auch immer sein mochte, doch nie über die Erde hinaussehen kann. Daneben aber regte sich in ihr ein anderes, phantastisches Leben, das nicht von dieser Welt war, das lauter Wesen erfüllten, die sich zärtlich liebten, die sanft und edel waren, und mehr mit Gott und seinen Engelein, mit Sonne, Mond und Sternen zu thun hatten, als mit der Erde und ihren Bewohnern. Frau Agnes hielt diese beiden Leben streng auseinander. Wenn sie bei ihrem Manne oder sonst unter Menschen war, erschien sie als eine nüchterne, kluge Frau, zwar sehr freundlich, aber doch ein wenig kalt, wenn sie aber allein war, oder in der Gesellschaft ihres Heinz – dann lebte sie das andere Leben, dann wurde Alles um sie her lebendig und gewann Sprache, was für andere Leute todt und leblos ist, Sonne, Mond und Sterne kamen zu ihr herab in's Zimmer, die Bilder an den Wänden thaten den Mund auf und redeten mit ihr. Sie lag dann auf der Couchette, die fast handbreiten braunen Flechten ihres weichen Haares drängten sich zu beiden Seiten unter ihrem Kopfe hervor, ihre großen dunklen Augen blickten Heinz unverwandt an, und die Finger ihrer ungewöhnlich weißen Hände hatten die Hand Heinzens erfaßt, der auf dem Rande der Couchette saß. Es war, als ob sie auch körperlich Fühlung behalten wollte mit der Seele ihres Kindes. Wenn das, was sie erzählte, nun gar zu hübsch wurde, wenn seine Spannung und Aufregung den höchsten Grad erreichte, – dann saß er da wie eine Bildsäule, die Augen weit geöffnet. Er lernte in solchen Augenblicken die Geschichte, die sie eben erzählte, durchaus nicht nur aus ihren Worten kennen, er las sie aus ihren bald feurig glühenden, bald träumerisch verschleierten, bald wieder schelmisch blitzenden Augen, er las sie aus dem wechselnden Mienenspiel ihres Gesichts. Es war eine wunderbare Poesie in den Phantasien der kranken Frau, eine phantastische Poesie, die mit der Welt und ihren Erscheinungen ein willkürliches Spiel trieb. Ihre Erzählungen waren meist frei erfunden, gingen vom Nächstliegenden aus und endeten in endloser Ferne, oder sie lehnten sich auch an irgend ein Märchen aus Tausend und einer Nacht, das sie dann noch viel phantastischer ausspann. Kam dann der Doctor oder sonst Jemand dazu, dann versanken plötzlich die sonnigen Gärten der Poesie, der wonnige Rausch war zu Ende, und der Knabe schlich trübselig davon, um in der Welt, die ihn umgab, und die ihm dann recht schaal und leer erschien, der Wirklichkeit zu leben.

Andere, in ihrer Art kaum weniger phantastische Eindrücke empfing Heinz bei Tante Agathe. Von Feen und Kalifen wußte sie freilich nicht zu erzählen, aber trotzdem hatte, was sie aus ihrer Jugendzeit erzählte, kaum weniger Märchenhaftes; wenn sie von dem Herzoge Peter sprach, fast wie von einem noch Lebenden, indem sie zwar tadelnd sein etwas träges Temperament und seine allzugroße Neigung zu schönen Frauen erwähnte, aber dabei doch immer einen loyalen Ton festhielt, wenn sie die schöne Dorothee schilderte, die in ihren Erzählungen immer ein rosaseidenes Kleid mit weißem Futter und einer langen Schleppe trug, wenn sie von der blauen und grünen Garde redete, und von den beiden Howen, Vater und Sohn, welchen letzteren sie immer französisch: Monsieur l'Oberburggrave de Hoven nannte, und die ihr beide gleich sehr verhaßt waren, – so schien das dem Knaben kaum anders, als wenn seine Mutter den Tisch sprechen ließ, an dem er saß, und das Bettchen, in dem er lag. Die alte Dame griff häufig noch weiter zurück, denn sie hatte in ihrer Jugend, als sie selbst, wie sie sagte noch kein Fräulein, sondern eine Demoiselle war, viele Eichenstamms gekannt, die damals schon so weißes Haar hatten, wie sie jetzt, und wenn Heinz ihr Liebling war, den sie allen ihren anderen Neffen und Großneffen vorzog, so geschah das nicht nur, weil er ihrer Agnes Sohn war, sondern auch, weil er ihrer Meinung nach große Aehnlichkeit mit dem alten Oberrath Eichenstamm hatte. Der hatte auch Heinrich geheißen, und war von Ernst Johann, trotzdem er bürgerlich war, zum Oberrath ernannt worden, obgleich die Ritterschaft darüber auf's Heftigste sich beschwert hatte. Er war dann während der Verbannung des Herzogs ein eifriger Anhänger desselben geblieben, hatte treu zu den Ernestinern gehalten und war eben im Begriffe gewesen, ein Buch zu vollenden, in dem er nicht nur das völlig ungesetzliche Verfahren der Karoliner bewiesen, sondern auch die Rechte des Herzogs ein. für allemal festgestellt haben würde, als ihn der Tod abrief.

Diesen Plan wieder einmal aufzunehmen, traute Tante Agathe unserem Heinz zu und erwartete, daß er, sobald er erwachsen, nichts Besseres zu thun haben würde, als ein Buch zu schreiben, in welchem er die Regierungsrechte der rechtmäßigen Herzöge Ernst Johann und Peter feststellen würde. Er sollte auch sonst nach ihrer Ueberzeugung werden wie jener Heinrich Eichenstamm, von dem erzählt wurde, er habe, als der damalige Erbprinz Peter seinen Töchtern nachstellte, also zu demselben gesprochen: »Durchlaucht stehen meinerseits drei Dinge zur Verfügung, nämlich mein Leben, mein Haus und mein Gut (das bürgerliche Lehn Bersemünde habe ihm gehört); aber drei Dinge nicht, nämlich meine Frau nicht, meine Agathe nicht und meine Agnes nicht!« Darauf habe der Erbprinz ihm auf die Schulter geklopft und gesagt: »Er ist braver Mensch, Eichenstamm, aber er hat mich mißverstanden, denn ich will weder die ersten drei, noch die letzten drei.« Tante Agathe pflegte dabei zu bemerken: »Ja, ja Heinz, ein rechter Literat muß auch gelegentlich dem Herzoge die Zähne weisen können.« Auch die übertriebene Vorstellung, welche Tante Agathe von der Bedeutung der Familie Eichenstamm hatte, der anzugehören in ihren Augen das größte Glück war und deren Vorzüge sie nicht müde wurde, vor ihrem Großneffen zu entwickeln, mußte höchst schädlich auf Heinz wirken.

Eine ganz andere Welt bot sich Heinz dar, sobald er den Kanal überschritt und das Rechbergsche Haus betrat. Da war es so still und friedlich, an dem einen Tage wie am andern. Der Doctor sprach immer nur mit großer Verachtung von den beiden Rechbergs, die er Weiber in Hosen nannte, Leute, die das Siegel der Knechtschaft auf der Stirn trügen, und Heinz wäre geneigt gewesen, ihm blindlings nachzusprechen, wenn es ihm da nicht gar so sehr gefallen, wenn er den Großvater zumal nicht gar so lieb gehabt hätte. Wie sollte er ihn nicht lieben, den Mann, an dessen Seite er so glückliche Stunden verbrachte. Wenn die ersten Frühlingstage kamen, dann ging der Alte mit Lelia und Heinz hinaus in's Freie, setzte sich mit ihnen an den Rand eines Feldes, und alle drei lauschten schweigend dem Jubelliede der Lerche, schauten hinaus auf die grünen, sprossenden Felder und freuten sich der warmen, belebenden Sonnenstrahlen. Wem der Sommer gekommen war mit seiner Gluth, saß der Alte mit Beiden auf der Bank im Gärtchen, und alle drei athmeten langsam die wonnige Abendluft ein, fühlten den Hauch der leise nahenden Sommernacht auf ihren Wangen und verfolgten aufmerksam den zitternden Mondstrahl in dem Laube der Linde. Wenn der Herbst rasselnd durch das gefallene Laub schritt, eilten sie wieder hinaus in die weiten Felder, in die frische klare Luft, sahen den Spinngeweben zu, wie sie blitzend und glitzernd an den Stoppeln hingen, folgten mit den Blicken dem niederflatternden Blatt, oder schauten Abends zum Himmel empor, zu den viel tausend funkelnden Sternen. Wenn es Winter wurde, wenn der Sturmwind sausend ums Haus fuhr, dichter Regen an's Fenster schlug, Finsterniß die Straßen deckte, saßen die drei in der halbdunkeln Stube zusammen, schmiegten sich fest an einander und horchten auf das unheimliche Tosen da draußen. Im Frühling aber und Sommer, im Herbst und Winter, immer fühlten sie sich in solchen Stunden wunderbar eins mit einander, mit der Natur und mit Gott. Sie alle drei, der Greis wie die Kinder, empfanden gleich in solchen Augenblicken. Sie dachten nichts, sie fühlten nur, daß sie lebten, nicht sie allein, tausend und abertausend Wesen mit ihnen, Menschen und Thiere, Pflanzen und Steine, und leben war fühlen, fühlen – lieben.

Auch sonst war er so lieb, der alte Mann! Er kannte die schönsten Melodien und sang lange Lieder nach ihnen, schwermüthige, langgezogene, Herz und Gemüth ergreifende Lieder. Wie war er so sanft und gut! Nie unterließ er, wenn ein hartes Wort gegen einen Abwesenden fiel, ihn zu entschuldigen. Wie war er so geduldig!

Aber nicht immer waren es Harfenklänge, die im Rechberg'schen Haus an Heinzens Ohr klangen, oft genug tönten die Saiten seines jungen Herzens gellend und disharmonisch. Er hatte ein wildes, störrisches Temperament, ein Temperament, das Herr sein will, der ausschließliche, alleinige Herr. Es erregte seinen heftigsten Zorn, sein innerstes Wesen empörte sich dagegen, wenn er sah, wie Lelia gegen alle Welt so freundlich und herzlich war. Was hatte ihre Freundlichkeit gegen ihn für Werth, wenn er sie theilen mußte mit Allen und Jedem! Was hatte dann ihr »liebes Heinzchen,« das er so liebte, für einen Sinn? Es machte ihn halb toll, wenn er ansehen mußte, wie sie den kleinen Hahn, das unvernünftige, garstige Thier, so herzlich küßte und an sich drückte. Er überhäufte sie dann mit Vorwürfen, bis er sah, daß er sie betrübt hatte, und nun machte es ihn wieder halb toll, sie traurig zu sehen. Er hatte sie einige Mal durch sein jähes Aufbrausen auf's Aeußerste erschreckt, und er fühlte jetzt instinktiv, daß sie ihm gegenüber nicht mehr die Alte war. In Folge dessen wurde sein Wesen nur noch unleidlicher, und Lelia fing alles Ernstes an, sich vor ihm zu fürchten.


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