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Hammerschläge. I.

Am andern Tage ging es bei Heinz wirr genug her. Zuerst, schon am frühen Morgen, kam Tante Irene, die durch ihren Mann natürlich sogleich von Heinzens Ungebühr gehört hatte, um das Ihrige zu thun, damit Heinz nachgebe. Sie hatte ihn, trotz der vorgestrigen Scene, doch sehr lieb, und war eine viel zu vernünftige Frau, um nicht einzusehen, daß Heinz vor einer wichtigen Entscheidung stand, einer Entscheidung, von deren Tragweite er selbst natürlich keine deutliche Vorstellung haben konnte. Sie war daher als energische Frau bereits gestern zu Schreimeier gegangen und hatte von dessen Gutmüthigkeit leicht das Versprechen erlangt, daß er seinerseits nichts gegen eine Wiederaufnahme Heinzens in's Gymnasium haben würde, vorausgesetzt natürlich, daß derselbe ihn vor der versammelten Klasse um Verzeihung bitte. Dann hatte sie sich an den Schuldirector gewandt, und auch dieser, der Heinz als guten Schüler und vielversprechenden Jüngling schätzte, hatte ihr erklärt, daß, falls Schreimeier Heinzens Abbitte für genügend erachte, er seinerseits auch geneigt sei, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Er konnte das umsomehr, da Tante Irene dafür zu sorgen versprach, daß Heinz tüchtig der Kopf gewaschen werden solle.

Mit diesen Nachrichten nun hatte sie sich zu ihrem Bruder begeben, denselben aber in Bezug auf Heinz zurückhaltender denn je gefunden. Ja, er hatte ihr nur zu deutlich zu verstehen gegeben, daß ihm ihre Einmischung in die Sache keineswegs lieb sei. »Nicht verlangte Hülfe,« hatte er gesagt, »ist eben so nutzlos wie unerbetener Rath, und kann eher schaden als nützen, und zumal die Frauen sollten froh sein, wenn sie mit Streit und Aergerniß nichts zu schaffen haben.« »Außerdem,« hatte er hinzugefügt, indem er aufstand und unter seinen Papieren zu kramen begann, »sind alle Deine Bemühungen jedenfalls erfolglos und unnütz, denn so weit ich den Jungen kenne, ist er viel zu hochmüthig, um auf die Abbitte einzugehen.« Tante Irene war darauf über die Gleichgültigkeit, mit der ihr der Bruder die wichtige Angelegenheit anzusehen schien, in große Entrüstung gerathen, und hatte eben begonnen, ihm seine Vaterpflichten auseinander zu setzen, als sie der Bruder dadurch unterbrach, daß er einfach, ohne ein Wort zu erwidern, das Zimmer verließ. Die Rücksichtslosigkeit und der Undank, die aus seinem Verfahren sprachen, hatten der Schwester zwar Anfangs eine Fluth von Thränen gekostet, sie hatte sich aber bald gefaßt und beschlossen, den Sohn die Rauheit des Vaters nicht entgelten zu lassen und ihn, nötigenfalls auch gegen seinen Willen, zur Vernunft zu bringen.

Sie begann übrigens, durch das eben Erlebte gewitzigt, Heinz gegenüber mit großer Sanftmuth, und suchte ihn kluger Weise namentlich von der Seite des Edelsinns zu fassen. Indem sie sich neben ihn an's Fenster setzte und die eine Hand auf seine Schulter legte, während sie mit der andern, wie das ihre Gewohnheit war, von Zeit zu Zeit ihre reichen kastanienbraunen Flechten ordnete, stellte sie ihm vor, daß, wenn sie auch zugeben müsse, daß er schwer gereizt worden sei, und wenn sie es auch nur edel finden könne, daß er für seinen Freund eingetreten, sie dennoch nicht umhin könne, sein Benehmen als ein durchaus unerlaubtes zu bezeichnen. Sie stellte ihm vor, was für ein trauriges Leben Schreimeier, der ein alter, einsam dastehender Junggesell war, führe, und wie sehr er, der sich von jeder Gesellschaft zurückziehe, ganz seinen Schülern lebe. Schreimeier sei bei allen seinen Schwächen doch ein grundguter Mensch, der nicht nur Heinz ganz besonders lieb habe, sondern auch seinen übrigen Schülern herzlich zugethan sei. Aber wenn er auch wirklich ein schlechter Lehrer wäre, so sei es doch völlig unstatthaft und gegen jede sittliche Ordnung, daß es dem einzelnen Schüler freistehen sollte, seiner subjectiven Meinung einen Ausdruck zu verleihen, denn der Lehrer vertrete ja in seiner Person die Obrigkeit und habe als solche volles Recht, unbedingten Gehorsam zu verlangen. Die Ueberzeugung davon würde sich bei einigem Nachdenken auch Heinzens Kameraden aufdrängen, und Heinz würde daher in wenigen Tagen gewahr werden, daß eine Menschenmenge zwar unter der Gewalt des Augenblickes einem kühnen und entschlossenen Führer überall hin folge, daß sie aber, sobald sie Zeit zum Nachdenken finde, sich in eine Anzahl Einzelwesen auslöse, deren jedes lediglich seinen eigenen Entschlüssen folge. Sie schloß damit, daß sie Heinz von den Bedingungen, an die seine Wiederaufnahme in das Gymnasium geknüpft war, benachrichtigte und ihn beschwor, nicht seinem Eigensinn und seinem Hochmuthe, sondern nur den Eingebungen seiner Vernunft und seines guten Herzens zu folgen. Thue er das nicht, verlasse er die Schule, ehe er sie beendet, so werde er dadurch zwar scheinbar nichts verlieren, in Wahrheit aber eine große moralische Einbuße erleiden. Es sei nämlich, ganz abgesehen von allen anderen Gründen, die Absolvirung der Schule die erste große Aufgabe, die der Mensch zu lösen habe; es sei daher von der größten Bedeutung, wie sie gelöst werde, denn einmal vom Pfade des gewöhnlichen bürgerlichen Lebens abgedrängt, verliere der Mensch nur zu leicht jene Tüchtigkeit und Stätigkeit des Wollens, die im Leben einzig und allein den Erfolg verbürge. Sie ihrerseits erhoffe Großes von ihm, wenn sie auch besorge, daß sein Temperament ihm noch viele Gefahren bereiten werde, und eben darum erwarte sie von ihm eine vernünftige Entscheidung.

Wäre Heinz einige Jahre älter gewesen, als er es war, oder hätte der Hochmuth in ihm nicht so tiefe Wurzeln geschlagen, so würde er das Gewicht der Gründe, welche die weltkluge Tante in's Feld führte, anerkannt und nachgegeben haben. So aber verstand er den einen, und zwar den besten Theil ihrer Rede gar nicht, der andere, der von der bürgerlichen und sittlichen Ordnung handelte, erschien ihm spießbürgerlich und eines hohen Geistes unwerth; der dritte endlich, der sich auf Schreimeiers Gutmüthigkeit und das muthmaßliche Verhalten seiner Kameraden bezog, kam ihm in der gereizten Stimmung, in der er sich befand, theils verächtlich, theils unglaublich vor. Er steifte sich daher darauf, daß er von Schreimeier zuerst beleidigt worden sei, und daß er daher von diesem durchaus keine Verzeihung zu erbitten habe, sowie auf den Umstand, daß er, falls er Privatstunden nehme, sein Examen in eben so kurzer Zeit machen könne, als wenn er fortfahre, die Schule zu besuchen. Es entstand zwischen den Beiden nun ein lebhafter Wortwechsel, in dem der Tante der kurze Geduldfaden nur zu bald riß, und der daher, wie in der Familie üblich, mit einem großen Eclat schloß. Tante Irene verließ weinend das Haus und hatte für alle ihre Bemühungen keinen andern Dank, als daß Weinthal, der sie hinausgeleitete, ihr eine zeitlang nachdenklich nachsah und endlich seine Gedankenreihe mit den Worten schloß: »Schade, daß den gnädigen Herrn seine Schwester nicht den gnädigen Herrn sein Bruder ist; das wäre ein Kerl!« Dann schloß er die Thür und ging, indem er vor sich hinmurmelte: »Aber mein Jungherrchen ist ihr doch über,« seinen Verrichtungen nach.

Kaum war die Tante fort, so kamen die Freunde, und Heinz hatte zu seinem nicht geringen Erstaunen Gelegenheit, schon jetzt zu erkennen, wie richtig die Tante geurtheilt hatte. Der Schulinspector, der seine Leute kannte, hatte die ganze Klasse versammelt und ihr in seiner ruhigen, überlegenen Weise vorgestellt, daß doch unmöglich ein Schüler sich herausnehmen dürfe, seinen Lehrer einen Unverschämten zu nennen; daß in dem Lehrer doch eigentlich die ganze Schule beleidigt sei, und daß man schwerlich nachsichtiger verfahren könne, als sich mit einer einfachen Abbitte genügen zu lassen. Zuletzt hatte er dann noch ganz kaltblütig erklärt, daß ein Jeder, der sich künftighin in irgend einer Weise Herrn Schreimeier gegenüber vergehe, sich ohne weiteres als ausgeschlossen betrachten solle. Er hatte dann noch mit ein paar einflußreichen Schülern unter vier Augen gesprochen und zuletzt die Genugthuung gehabt, einen völligen Umschlag der Stimmung zu bewirken. Es hieß jetzt allgemein: »Eichenstamm hat zwar ganz recht gehandelt, aber er muß nachgeben,« und als Heinz, der in diesem Ansinnen eitel Verrath erblickte, nun kurz und verächtlich erklärte, er werde nun und nimmermehr um Verzeihung bitten, so bewirkte er dadurch, daß seine bisherigen Genossen, die durch den Ton seiner Rede verletzt waren, und ein keineswegs ruhiges Gewissen hatten, sein Betragen ebenso heftig als Trotz und Hochmuth verurtheilten, wie sie es am Tage vorher als Heldenmuth und Großthat gefeiert hatten.

Heinz empfand das Verhalten der Kameraden einerseits schmerzlich, andererseits war es ihm aber auch eben recht. Es erschien ihm ganz in der Ordnung, daß andere Menschen feig und verächtlich handelten; daß sie so seien, hatte er ja immer geglaubt. Er durfte dadurch nicht überrascht sein, daß er sie fand, wie er von vornherein angenommen hatte. Erst von dem dunkeln Hintergründe der nichtsnutzigen Masse kann sich der Edle leuchtend abheben. Er erklärte daher seinen Entschluß, nicht nachzugeben, ohne sich irgend dabei zu ereifern, mit derselben kühlen, beleidigenden Höflichkeit, die seinem Vater eigen war. So blieben denn nur Horace und Karlchen Maier, beide in großer Aufregung, bei Heinz zurück und strengten ihre Beredtsamkeit an, um Heinzens Entschluß rückgängig zu machen, und ihn zur Abbitte zu bewegen.

»Liebster Heinz,« rief Horace zuletzt, indem er in Thränen ausbrach, »ich werde es mir nie verzeihen, daß ich Dich in diese Unannehmlichkeit gestürzt habe. Glaube mir, ich wenigstens werde Dich nicht im Stich lassen, ich weiß sehr wohl, daß ich Dich nicht verlassen darf, und Madeleine ist auch dieser Meinung; aber nicht wahr, Heinz, Du nimmst es mir nicht übel, wenn ich es noch ein paar Tage anstehen lasse? O, Du weißt nicht, Heinz, wie betrübt Mama sein wird, wenn ich das Gymnasium verlassen muß!«

»So bleibe doch darin,« rief Heinz lachend, indem er Horaces Hand ergriff und herzlich drückte. »Ich werde mich freuen, wenn mein Ausschluß Dir eine bessere Behandlung von Seiten Schreimeiers verschafft und finde es wirklich nur ganz natürlich, wenn Du bleibst.«

»Natürlich, Horace, natürlich,« nahm Karlchen Maier jetzt das Wort. »Wir bleiben Alle, Heinz, Sie und ich. O, gewiß! Du wirst doch einsehen, Heinz, daß man nichts Unbilliges von Dir verlangt, nichts, was sich mit Deiner Ehre nicht vertrüge. Natürlich!«

»Ich bleibe nimmermehr,« sagte Heinz kalt, »es sei denn, daß Schreimeier hier zu mir in's Haus kommt und mich hier in meinem Zimmer um Verzeihung bittet.«

Karlchen Maier gerieth in die äußerste Entrüstung:

»Unsinn, Heinz, Unsinn!« schrie er, »Du bist toll! Horace, ist er nicht toll? Nun gut, ich werde Dich deshalb nicht verlassen, ich nicht, ich gewiß nicht! Es ist rein toll von Dir, Heinz, aber ich meinen Freund in der Noth im Stich lassen? Ne, ist nicht. Holl der Teufel das ganze Gymnasium, Heinz, o gewiß, und Dich dazu, Heinz, natürlich, aber dazu hab' ich Dich viel zu lieb, und dazu bin ich viel zu ehrlich, Dich jetzt im Stich zu lassen! Natürlich! O!«

Damit ergriff Karlchen Maier seine Mütze und stürzte, ohne sich von Heinz aufhalten zu lassen, gerade auf die Straße hinaus. Er wußte gar wohl, daß Heinz Unrecht hatte, er wußte auch, daß seine Mutter eine arme Wittwe war, und er liebte sie viel zu sehr, um nicht mit tiefem Schmerz an den Kummer zu denken, den sein Vorhaben ihr verursachen mußte, er wußte endlich auch, daß seine Erziehung ihr schwer genug wurde; aber in diesem geistig beschränkten Jünglinge lebte etwas von jener uralt germanischen Treue, wie sie einst das Gefolge band an den selbstgewählten Führer, wie sie noch jetzt den Deutschen an seinem Fürsten hängen läßt, dem er Treue geschworen hat, auch wenn dieser auf Abwege gerathen ist. Nicht einen Augenblick besann er sich, was er zu thun habe, sobald Heinz sich als unerschütterlich erwies. Er ging von Heinz direct zum Inspector und erklärte ihm kurz heraus, daß, falls Heinz ausgeschlossen würde, er darum bitte, sein Geschick theilen zu dürfen. Der Inspector versuchte vergeblich, ihn von seinem Entschluß abzubringen, Gefühle lassen sich durch Gründe nicht bestimmen, und es blieb ihm nichts übrig, als Maiers Verlangen der Conferenz mitzutheilen. Karlchen Maier erzählte dann zu Hause, was er gethan habe, und ließ sich auch dort durch die Bitten seiner Mutter und Schwester nicht bewegen, seinen Entschluß aufzugeben. Weichen Herzens, wie er war, weinte er mit ihnen bitterlich, hielt aber unwandelbar daran fest, sein gegebenes Wort zu halten und Heinzens Loos zu theilen.

Wie beneidete ihn Horace um seine rasche Entschlossenheit! Er hatte der Schwester sogleich erzählt, wie energisch Heinz sich seiner angenommen hatte und hatte ihr dann gebeichtet, daß er nicht den Muth gehabt habe, zugleich mit Heinz die Klasse zu verlassen. Madeleine war darüber ganz außer sich gerathen, hatte ihn mit Vorwürfen überhäuft und an ihn die kategorische Anforderung gestellt, sogleich zum Inspector zu gehen, und die Erklärung abzugeben, daß er entschlossen sei, Heinzens Schicksal zu theilen, ja sie hatte sich erboten, für ihn diesen Schritt zu thun. »Ich bin nur ein Mädchen,« sagte sie mit glühenden Wangen und leuchtenden Augen, »aber ich könnte für Eichenstamm, für Jemand, der so mannhaft für meinen Bruder eingestanden, vor einen König treten und ihm zurufen: ›Sire, hier ist noch Jemand, der straffällig ist!‹ Parbleu, das thäte ich, und wenn Eichenstamm den Kopf verwirkt hätte.« Durch ihre leidenschaftlichen Worte angeregt, begab sich Horace auf den Weg zum Inspector, aber jedes selbstständigen Handelns ungewohnt, konnte er seinen Entschluß nicht zur Ausführung bringen, obgleich er wohl ein paar Stunden lang vor des Inspectors Hause hin und herging und mehrmals nach der Glocke griff, ohne sie jedoch zu berühren. »Ach, wenn doch noch Monsieur Bertrand am Leben wäre!« seufzte er in seiner Seelenangst und wiederholte diese Worte immer und immer wieder. Endlich kam ihm ein glücklicher Gedanke, und verhältnißmäßig ruhig kehrte er nach Hause zurück.

Auf Madeleinens Frage nach dem Erfolge seines Ausganges antwortete er geheimnißvoll abwehrend und begab sich am anderen Morgen, während Madeleine noch schlief, als ob nichts geschehen wäre, in's Gymnasium. Er wußte, daß Schreimeier an diesem Tage die erste Stunde gab, und hatte seinen Plan darauf hin angelegt. Schreimeier eröffnete, wie Horace erwartet hatte, die Stunde mit einigen Worten, in denen er sich Horace gegenüber entschuldigte und reichte ihm zum Schluß die Hand. Horace aber war nicht nur, während der Lehrer zu ihm sprach, nicht aufgestanden, sondern blieb auch jetzt regungslos sitzen, indem er die Hände tief in den Hosentaschen hielt und die Wand mit großer Aufmerksamkeit betrachtete. Die Kameraden lachten, Schreimeier stieg das Blut zu Kopf. »Ich erlaube mir,« sagte er mit mühsam unterdrückter Heftigkeit, »Ihnen die Hand zur Versöhnung zu bieten.« Horace saß, feuerroth im Gesicht, regungslos da, während Herr Schreimeier sprach. Er war in seinem Herzen überglücklich. Passiven Muth hatte er für zehn. Die Kameraden lachten wieder, und jetzt lauter. »Balteville, verlassen Sie augenblicklich die Klasse,« schrie Schreimeier jetzt empört und stampfte mit dem Fuße. Horace rührte sich nicht. Schreimeier stürzte nun hinaus, um den Inspector zu rufen, die Schüler lachten und schrien durcheinander; erst als Schreimeier mit dem Inspector zurückkehrte, wurde es todtenstill. »Herr Oberlehrer Schreimeier sagt mir,« begann der Inspector, hielt aber plötzlich inne, da er sah, daß Horace auch jetzt unbeweglich sitzen blieb. »Ich spreche mit Ihnen, Balteville,« sagte er streng, »stehen Sie auf.« Horace rührte sich nicht, und erst als es hieß: »Verlassen Sie augenblicklich die Klasse und kehren Sie nicht mehr zurück,« sprang er wie electrisirt auf, ergriff voll Jubel seine Bücher, rief unwillkürlich dem Inspector ein: » Mille fois merci«zu und verließ rasch das Zimmer. Diesmal konnte selbst die Gegenwart des Inspectors nicht verhüten, daß die ganze Klasse, der Horacens Betragen wie ein wohlvorbereiter, schlechter Witz erscheinen mußte, in ein schallendes Gelächter ausbrach, ein Gelächter, daß die Einzelnen nachher mit einer Stunde Nachsitzen keineswegs zu theuer erkauft zu haben glaubten. Horace eilte unterdessen frohlockend nach Hause, und fiel daselbst der Schwester mit dem jubelnden Ausrufe: » Grace au ciel, Madeleine, grace au ciel, on m'a renvoyé du collège!« um den Hals.

Doch wir wollen zum gestrigen Tage und zu Heinz zurückkehren. Dieser ging, nachdem auch noch der Onkel Konrad zu ihm gekommen war, und ihn ungefähr mit denselben Gründen und mit ganz demselben Erfolge, wie Tante Irene, zur Nachgiebigkeit zu bewegen gesucht hatte, ein wenig in das Gärtchen hinab, in welchem er Tante Agathe zu finden hoffte, und wollte, als er sie dort nicht traf, eben zu ihr gehen, als er einen Reiter in den Hof sprengen sah, in welchem er den Wagger aus Waldhof, dem Gute des Doctors, erkannte. Der Mann stieg vom Pferde, und indem er dem schweißtriefenden, mit Schaume bedeckten Thiere den Zügel über den Hals warf, fragte er, ohne sich Zeit zu nehmen, die Mütze zu ziehen, ob der Doctor zu Hause sei, und eilte dann, als die Frage bejaht worden war, ohne auf Heinzens ängstliche Frage zu antworten, in das Haus, in das ihm Heinz, von unbestimmter Furcht ergriffen, schnell folgte. Beim Vater angelangt, hörte er, wie der Wagger, indem er die Mütze zu einer Rolle zusammendrehte, berichtete, daß am Morgen in Waldhof der Milzbrand ausgebrochen sei und überaus heftig auftrete.

Der Doctor fragte ihn darauf, indem er kreidebleich wurde und sich mit der Rechten an der Lehne seines Armstuhls festhielt, ob auch bereits viele Todesfälle vorgekommen seien. Als dies bejaht wurde, sprang er auf und eilte, indem er dem ihm folgenden Wagger befahl, sogleich zum Thierarzte zu laufen, dem Stalle zu. Heinz, der die Größe des drohenden Verlustes nicht übersehen konnte, und der den erschütternden Eindruck, den die Nachricht auf seinen Vater machte, nicht recht verstand, folgte ihm, von seinem Schreck angesteckt, und als er sah, daß der Doctor, ohne den Kutscher herbeizurufen, dem schnellsten Pferde einen Zaum überwarf, es schnell sattelte und sich dann hinauf schwang, folgte er seinem Beispiele. Wenige Augenblicke darauf flogen Beide, so schnell die Pferde sie tragen konnten, die Hauptstraße hinab. Der Doctor, ganz von seinen Gedanken in Anspruch genommen, schien des Sohnes Gegenwart gar nicht zu bemerken, und war nur bemüht, durch wilden Zuruf und Hackenschläge sein Thier zu noch flüchtigerem Laufe anzufeuern. Ein großer Theil seines Vermögens stand auf dem Spiele, denn er hatte, wie die meisten Leute, die ein Gut kaufen und verwalten, ohne Landwirthe zu sein, damit angefangen, daß er für eine enorme Summe eine Heerde prachtvollen ostfriesischen Viehes direct aus Friesland verschrieben und auf die Fütterung und Pflege der Thiere viel Geld verwendet hatte, indem er von Jahr zu Jahr hoffte, daß der Augenblick bald eintreten müsse, wo er die Auslage mit Zinseszins zurückerhalten würde.

Heinz überkam bald jene wilde Lust, die solch ein wilder Ritt der Jugend und Kraft einzuflößen pflegt, und erst als sie den Hof erreicht hatten und von den Pferden gesprungen waren, wurde er sich der traurigen Veranlassung ihrer Eile wieder bewußt.

Der Hof bot einen schrecklichen Anblick dar. Man hatte die ganze Heerde auf ihm zusammengetrieben, und der Anblick der todten und kranken Thiere, sowie das laute Weinen und Heulen der mit den Thieren beschäftigten Menschen machten einen erschütternden Eindruck. Das schöne, schwarze Haar der sonst so stattlichen Rinder war jetzt glanzlos, rauh und struppig, die Beine schienen den Körper nicht tragen zu können, aus der Nase floß blutiger Schleim. Geifer bedeckte das Maul, in dem die Zähne aufeinander knirschten, der Athem ging schnell und ängstlich, heftig bewegten sich die Flanken. Von Zeit zu Zeit versuchte ein Thier zu gehen, wankte und sank dann laut brüllend zusammen. Dann sprang es wieder auf, um bald abermals nieder zu fallen. Die todten Thiere verbreiteten einen häßlichen Verwesungsgeruch.

Der Doctor griff mit voller Energie ein. Er ließ zunächst die Knechte und Mägde die wenigen noch gefunden Thiere aus dem Hofe treiben, trennte dann die alten und ganz jungen, bei denen er noch Rettung für möglich hielt, von den übrigen und befahl, die Gestürzten hinwegzuräumen. In einer Stunde war einigermaßen Ordnung geschafft, die klagenden Frauen entfernt und ein Wagen dem Thierarzte entgegengeschickt. Diesen erwartend gingen Vater und Sohn mit großen Schritten im Hofe auf und ab. Endlich kam der Mann, aber er brachte schlechten Trost, denn er erklärte die ganze Heerde für rettungslos verloren. Der Doctor kehrte ihm, ohne ein Wort zu erwidern, den Rücken zu und eilte zu den kranken Thieren. Unthätig dem Unglücke zuzusehen, wehrlos das Geschick über sich ergehen zu lassen, war er völlig außer Stande. Obgleich er sich im Grunde selbst sagen mußte, daß der Thierarzt Recht hatte, so befahl er doch den Knechten, die erkrankten Thiere mit Stroh abzureiben und ließ andern selbst zur Ader. »Läßt sich denn absolut nichts thun?« fragte Heinz seinerseits den Thierarzt. Dieser zuckte die Achseln. »Wir können Arsenik versuchen,« sagte er, »aber es wird nichts helfen.« Er nahm aus seinem Arzneikästchen ein paar Kügelchen und reichte sie Heinz, der mit ihnen auf ein junges Thier zueilte. Während er sich bemühte, ihm das Maul aufzureißen, wurde der Doctor sein Vorhaben gewahr. »Was hast Du da?« rief er herbeieilend, und als Heinz ihm erwiderte, es sei Arsenik, riß er ihm die Hände vom Maule des Thieres. »Das Mittel ist gut, aber Du darfst es ihm nicht geben,« rief er, »der heiße Athem kann Dich anstecken.« Heinz wollte sich nicht fügen, der Vater aber sah ihn mit einem so wilden Blicke an, daß er scheu bei Seite trat. Der Doctor gab nun selbst das Gift, aber die Thiere starben ihm unter den Händen. Den ganzen Tag über eilte er von einem Thiere zum andern, aber als die Sonne unterging, war die ganze Heerde, mit wenigen Ausnahmen, todt.

Der Doctor war bis zuletzt thätig gewesen. In den letzten Stunden hatte er kein Wort gesprochen. Schweigend saß er jetzt auf den Stufen der Freitreppe, ließ seinen Bart durch seine Hand gleiten und starrte finster vor sich hin. Der Sohn, der neben ihm saß, blickte von Zeit zu Zeit voll Mitgefühl auf ihn, wagte es aber nicht, das Schweigen zu brechen. Erst spät, als der Mond schon längst auf den Platz schien, erhob sich der Doctor. »Ist der Kutscher schon hier?« fragte er. Heinz lief zum Stalle und stieß anspannen. Der Wagger kam, um nach Diesem und Jenem zu fragen, sein Herr aber sah ihn nur starr an und antwortete nicht. Als der Doctor in den Wagen stieg, glitt er aus. »Zum Teufel,« schrie er wild, »soll ich auch nicht mehr gehen können!« und sprang hinein. Als sie eine Strecke gefahren waren, sagte er dumpf: »Noch solch ein Schlag und wir sind Bettler!«

»Was liegt an dem Plunder!« antwortete der Sohn.

Der Vater wandte sich um und sah Heinz scharf ins Gesicht. Heinz schien es, als ob der Vater plötzlich um viele Jahre älter geworden sei, oder war es nur der trügerische Mondschein, der ihm das so erscheinen ließ?

»Ja, ja,« sagte der Doctor, indem er sich schwer seufzend abwandte, »Du bist auf dem Wege zum Bettelstabe und wirst den Werth des Geldes erst erkennen, wenn Du keins mehr haben wirst.«

Der Doctor sagte das in einem traurigen, ihm sonst ganz fremden Tone.

Als sie zu Hause anlangten, schien ihm das Aussteigen schwer zu werden, aber er wurde nicht wieder heftig. »Gieb mir Deinen Arm,« sagte er ruhig zu Heinz. Dann ging er sogleich in sein Schlafzimmer.

Heinz, der den ganzen Tag über nichts gegessen hatte, war diesmal trotz aller Aufregung sehr hungrig. Als Weinthal ihm nach einiger Zeit ein improvisirtes Mahl auf sein Zimmer brachte, sah er, daß der brave Mensch ganz verweinte Augen hatte. Heinz drückte ihm die Hand. »Du lieber Gottchen,« sagte Weinthal, indem er Heinzens Hand küßte, »was habe ich nicht geweint! Ich, Annettchen und Emma, wir sind den ganzen Tag in einem Weinen gewesen! Und gegen so'n Unglück thut auch nichts helfen. Kaum wie der gnädige Herr und Jungherrchen fort waren, haben wir alle drei angefangen das Gesangbuch zu singen und haben den ganzen Tag gesungen, aber es hat rein Garnichts geholfen. Ach, und wie sehen der gnädige Herr aus, nicht zum Wiedererkennen! Mein armer, lieber gnädiger Herr!«

Heinz beruhigte Weinthal so viel er konnte, dann stand er, einem plötzlichen Impulse folgend, auf und ging zum Vater. Er fand ihn bereits im Bette. Als er eintrat, wandte sich der Doctor um. »Vater, bist Du krank?« fragte Heinz, indem er die Hand auf des Vaters Schulter legte und sich auf den Rand des Bettes setzte. Der Doctor ergriff die Hand seines Sohnes und drückte sie warm. »Ich danke Dir, Heinz,« sagte er sehr herzlich, »ich bin nicht krank, aber todmüde. Du wirst auch müde sein, wollen wir Beide schlafen.«

Heinz ging. »Was liegt an dem Plunder!« murmelte er nachdenklich.


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