Charlotte Niese
Kajus Rungholt
Charlotte Niese

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XIX.

Und weiter ging die Zeit. Rauh blieb sie, und grausam; immer wieder kam der Krieg und zerstörte, was eben in kurzer Friedenszeit aufgebaut war. Niemand wußte mehr, wie es war, Frieden zu haben und sich seines Lebens zu erfreuen. Denn freudlos war das Leben geworden, und in den Hütten der Armen war der Jammer so groß, daß die Vornehmen lieber nicht daran dachten und nur für sich sorgten.

Auf den Dänenkönig Friedrich war sein Sohn Christian gefolgt. Ein hochmütiger Mann, dem es ein Dorn im Auge war, daß die Herzöge von Gottorp fast ebensoviel Macht in ihren Landen hatten als er. Sein Auge blieb begehrlich auf Schleswig-Holstein gerichtet, das er gern ganz besitzen wollte, und er versuchte alles mögliche, um seinen Willen durchzusetzen. Vor allem suchte er sich den Adel gefügig zu machen, indem er ihm Titel und Würden verlieh. Ehemals hatte es nur einfache Junker in Schleswig-Holstein gegeben, er aber schaffte Grafen und Freiherrn, dazu mehrere Orden und eine große Liste von schönen Titeln, die er sich teuer bezahlen ließ. Er war es auch, der Eleonore Uhlfeld aus dreiundzwanzigjähriger Kerkerhaft befreite und ihr eine kleine 276 Wohnung einräumte, wo sie nicht allein den Himmel, sondern auch einen Garten sehen konnte.

Sie war alt und stumpf geworden, und die meisten Menschen hatten fast ihren Namen vergessen.

Aber der König besuchte sie gelegentlich, fragte sie dieses und jenes und lachte jedesmal, wenn sie böse wurde, weil sie wohl noch Gedanken hatte, aber die rechten Worte nicht finden konnte. Nur, wenn er sie nach Christian dem Vierten, seinem Großvater, fragte, dann wurden ihre Augen lebhaft und ihre Worte klarer. Und dann hörte er manches, das er nicht wußte und doch gut gebrauchen konnte.

Denn wenn er auch kein kluger Mann war, so hatte er eine gewisse Verschlagenheit, die manchmal besser war als Klugheit.

Aber Christian Albrecht von Gottorp war sehr viel bedeutender als der König Christian, und da er vom Kaiser zum souveränen Herzog seines Landes ernannt worden war, fiel es ihm nicht ein, dem König mehr Macht zuzugestehen, als er verlangen konnte. Dieser Streit mit den zwei Fürsten, die noch dazu miteinander verschwägert waren, hat die Gemüter viel in Bewegung gehalten und den Schleswig-Holsteinern schon damals oft Kummer bereitet. Fremde Mächte mischten sich hinein: Schweden, Brandenburg und England wollten ein Wort mitreden und hielten ihre Hand über den Herzog von Gottorp.

Es ist viel geredet und geschrieben worden über diese Frage, und König Christian ließ kein Mittel unversucht, um den schleswig-holsteinischen Adel auf seine Seite zu ziehen. Er verlieh ihm viele hohe Stellungen in seinem Lande und suchte seiner Eitelkeit 277 in jeder Beziehung zu schmeicheln. Der größte Teil von Holstein, wie auch fast die Hälfte des schleswigschen Landes gehörte ihm auch, und so war es für den Adel, der überall seine Güter hatte, nicht ganz leicht, sich mit dem König gut zu stellen und den Herzog nicht zu erzürnen.

Schleswig-Holstein erholte sich nur langsam von den Verheerungen des Krieges. Ganze Dörfer waren verödet, die Güter der Adligen lagen in Trümmern, die Felder konnten nicht bestellt werden, weil es an Menschen für die Arbeit mangelte, und überall herrschte eine erschreckende Armut. Dazu drückte die Leibeigenschaft das Volk auf dem Lande, und das Los der Hörigen war ein erbärmliches. Denn es war ein häßlicher, hochfahrender Geist in die Ritterbürtigen gefahren, daß sie auf die untern Stände viel mehr herabsahen, wie vor etwa fünfzig Jahren. Das kam von den ewigen Kriegen, die Zucht, Gelehrsamkeit und seine Sitte mit sich nahmen; der gewöhnliche Junker war ein roher Mann geworden, der nur an sich dachte und an seinen eigenen Vorteil. Ewigen Streit gab es mit den Ritterbürtigen untereinander, die sich totschlugen, wenn es ihnen in den Sinn kam; aber noch schlimmer hatten es die Bauern und Bürger, die von den Junkern hochfahrend behandelt wurden, als wären es keine gleichberechtigten Menschen. Von allen Seiten klagte man über die gottlosen Streiche des jungen Adels. Auch die Städter wußten davon zu berichten, und mancher Bürgerssohn verschaffte sich heimlich sein Recht. Denn die Gerichte wagten nicht, die Vornehmsten des Landes anzufassen, so oft auch die Herzöge und der König sie dazu ermahnten.

278 Bei den Bürgern in den Städten gab es noch Wohlstand, wenn er auch verborgen wurde, um die Habsucht des Adels nicht herauszufordern, und die Herrscher des Landes wußten wohl, daß es geraten war, die Städte des Landes zu schützen und ihnen Vorteile zu verleihen. Aber grollend sah der Junker auf den Bürger, und dieser wieder tat dem Adel sicherlich keinen Gefallen, wenn er darum gebeten ward.

König Christian aber schrieb eine Steuer nach der andern aus, in Dänemark sowohl, wie auch in den Teilen des schleswig-holsteinischen Landes, in denen er die Oberhoheit hatte. Auch verlangte er immer wieder Geld von dem Gottorper Herzog, der ihm natürlich alles verweigerte, und so kamen der Zank und die Unzufriedenheit niemals aus der Welt, und wenn man sich eben einig geworden zu sein schien, begann ein neuer Streit.

So also war einer gegen den andern, und wenig Stätten gab es im Land, wo wirklich Frieden herrschte.

Es waren aber doch einige zu finden, wenn auch nicht alle von ihnen wußten.

Auf dem mit Fliesen belegten Flur eines großen Hauses saß und stand eine Anzahl ärmlich gekleideter Leute. Die meisten hatten die Hände gefaltet und lauschten andächtig der Stimme einer Frau, die auf einem Stuhle saß und klar und deutlich ein Kapitel aus der Bibel vorlas. Sie hatte den Kopf in die Hand gestützt, und das von der Seite her fallende Licht schien auf ihre ruhigfreundlichen Züge, während die andere Hand halb unbewußt auf einem kleinen goldenen Kreuz ruhte, das an einer Kette um ihren Hals 279 hing. Eine feierliche Stille herrschte in dem kleinen Raum, die auch dann nicht unterbrochen ward, als sie den schweren Deckel des heiligen Buches zugeschlagen und mit einem Vaterunser die Vorlesung beendet hatte.

Nach einer Weile erhob sie sich und ging auf einen alten, grauköpfigen Mann zu, der sich ehrerbietig bei ihrer Annäherung erhob.

»Du bliebst lange aus unserer Andachtsstunde weg, Michel Feddersen! Bist du krank gewesen?«

»Unser Junker verbot mir, herzukommen,« lautete die zögernd gegebene Antwort.

»Und weshalb?«

»Er sagt, es zieme sich nicht für uns Hörige, in die Nähe der Frau Priörin zu treten. Es würde uns stolz machen und ungeschickt zur Arbeit!«

Die Priörin des adligen Klosters Preetz lächelte flüchtig, dann aber überschattete großer Ernst ihr Gesicht.

»Ich werde deinem Junker ein Wörtlein schreiben,« sagte sie ruhig; »er wird dein Kommen, so hoffe ich zu Gott, erlauben!«

Dann wandte sie sich einem jungen Burschen zu.

»Wie geht es deiner Mutter?«

Der Angeredete fuhr sich über seine gelben Haare und stotterte einige verlegene Worte.

»Sie liegt noch schwer darnieder? Sage ihr, daß ich nach ihr sehen werde, und hole morgen mittag einen Topf mit Krankensuppe für sie aus meiner Küche!«

So sprach die Priörin mit jedem Anwesenden ein gütiges Wort, erkundigte sich teilnehmend nach ihren 280 Angelegenheiten und Kümmernissen, machte hier einer Frau ernste Vorwürfe über die Unordnung ihres Hauses, lobte dort eine Mutter, daß ihre Kinder reinlich und gut gekleidet seien. Die Leute verhielten sich verschieden ihr gegenüber. Auf einige schienen ihre Worte Eindruck zu machen, andere starrten gleichgültig vor sich hin, oder lachten blöde, als hätten sie nichts verstanden.

Endlich winkte sie mit der Hand, und alles drängte mit scheuem Gruße nach der Tür. Bald war der Hausflur leer, nur hinter dem Stuhle der Priörin standen etwa zehn bis zwölf Damen, die schweigende Zeugen der ganzen Verhandlung gewesen waren. Einige von ihnen hatten schon weißes Haar, andere sahen lebensfreudig in die Welt; es waren die Klosterjungfrauen von Preetz.

Als die Tür sich hinter dem letzten der Armen geschlossen, zuckte eine von ihnen etwas spöttisch die Achseln.

»Diese Leute werden Eure Güte nimmer verstehen, hochwürdige Frau,« sagte sie, indem sie auf die Priörin zutrat. »Ich begreife nicht, daß Ihr Geduld haben könnt mit leibeigenem Volk.«

Die Priörin blickte die Sprecherin mit ihren ruhigen Augen an und lächelte.

»Ich bitte Gott täglich, daß er ihnen Verständnis gebe für seine heilige Schrift,« erwiderte sie, »dann wird das andere sich schon finden!«

Die Klosterdame schüttelte eifrig den Kopf.

»Verzeiht, daß ich wage, Euch zu widersprechen, aber Ihr seid zu kurz Priörin und überschätzet Eure Kraft und Geduld. In wenigen Jahren, wenn Ihr 281 die Hörigen unseres Klostergutes kennt, werdet Ihr das unverschämte Volk Euch vom Leibe halten!«

Die Priörin seufzte.

»Es schmerzt mich, Fräulein von Seehagen, daß Ihr so wenig Herz für unsere armen Brüder habt!«

»Brüder?« wiederholte die andere und trat entsetzt zurück. »Da sei Gott vor, daß ich solch Volk meine Brüder nenne! Ich habe meine vollgezählten Ahnen, und mein Wappenschild ist rein!«

Einige der anderen Klosterdamen, die sich bis dahin nicht in die Unterhaltung gemischt hatten, murmelten leise Worte der Zustimmung, was Fräulein von Seehagen veranlaßte, sich höher aufzurichten und ihre reichlich mit Grau gesprenkelten Locken kampfbereit hinter das Ohr zu streichen. Aber die Priörin schien nicht geneigt, sich länger mit ihr zu unterhalten.

»Wenn die Damen mir in mein Gemach folgen wollen, so soll es mir angenehm sein, obgleich mich wichtige Geschäfte erwarten!«

Die Fräulein schienen diese Worte zu verstehen, rüsteten sich zum Fortgehen und verneigten sich höflich vor ihrer Oberin. Diese erwiderte die Grüße artig und bemerkte zum Abschiede wie beiläufig:

»Die nächste Andachtsstunde ist am Sonnabend!«

»Befehlen Eure Hochwürden wirklich, daß wir wieder hier erscheinen?« fragte eine Dame mit weißen, ehrwürdigen Haaren.

»Ich bitte alle Damen um diese Gunst!« erwiderte die Priörin freundlich, aber mit Nachdruck.

Die Klosterdamen sahen sich betroffen an.

»Auch,« setzte die Priörin hinzu, »möchte ich noch den Wunsch aussprechen, daß alle adligen Damen 282 unseres Preetzer Konventes sich eines stillen Lebenswandels befleißigen wollen, wie es ehrsamen Jungfrauen ziemt, daß sie nicht mit wildem Geschrei und Hundegebell auf die Jagd reiten, auch nicht nachts mit den Herren der Nachbarschaft tanzen, lustige Lieder singen und den Sabbat durch wüstes Treiben entheiligen. Eine jede, die meine Worte treffen, befleißige sich, dieselben zu Herzen zu nehmen; die andern mögen gleich mir darauf halten, daß das Kloster nicht in Unehre komme!«

Sie kehrte sich schnell ab, in ihr Gemach tretend, während die Damen eilig das Haus verließen.

Draußen angelangt, blieb das Fräulein von Seehagen stehen.

»Ihr waret es, die uns empfahl, das stille Fräulein von Buchwald, von der kein Mensch sprach, und die alle für eine einfältige Person hielten, zur Priörin unseres Klosters zu erwählen!«

Zornig blickte sie eine kleine verwachsene Frau an, die gleichmütig die Schultern hob.

»Agnete Buchwald wird unser Kloster wieder zu Ehren bringen, nachdem es jahrelang in keinem guten Geruch stand!«

Die andere blieb erstaunt stehen.

»Also auch Ihr stellt Euch auf die Seite der frommen und schlauen Frau? Auch Ihr wollt aus dem fröhlichen Kloster, in dem sich so gut leben ließ, einen Altweiberkasten machen, in dem nur geseufzt und gebetet wird?«

Verschiedene Stimmen antworteten ihr; einige klangen schrill und ärgerlich, andere ruhig und besänftigend. Die älteren Jungfrauen schienen sich fast 283 ohne Ausnahme für die Priörin zu erklären, obgleich sie an ihr verschiedene Ausstellungen zu machen hatten; während die jüngeren sich auf die Seite Fräulein von Seehagens stellten; und so gingen sie, lebhaft sprechend und gestikulierend, über die mit weißem Sande bestreuten Wege des Klostergartens, in dem die Häuser der Konventualinnen malerisch zerstreut lagen.

Das adlige Fräuleinkloster zu Preetz war ein stilles, friedliches Plätzchen, und gar manche Jungfrau, die auf dem elterlichen Hofe ein unruhiges, kärgliches Leben geführt hatte, schätzte sich glücklich, in die Reihen der Konventualinnen aufgenommen zu werden, da diese ein sorgenloses, reichliches Dasein führten. Doch auch hier waren die unruhigen Zeiten nicht ohne Einfluß geblieben, nicht immer herrschte ehrbare Sitte in den edlen Familien, die das Recht hatten, ihre Töchter ins Kloster einschreiben zu lassen, und kamen diese nach Preetz, so scheuten sie sich nicht, mit leichtfertigen Zerstreuungen der Welt ein Ärgernis zu geben. Manche Dame ward noch in jüngeren Jahren Konventualin, und so kam es, daß sich kleine Liebeshändel in dem einstigen Nonnenkloster abspielten und wunderbare Geschichten geschehen konnten.

Die frühere Priörin war eine steinalte Dame gewesen, die sich um das Leben der ihr unterstellten Damen nicht kümmerte, und der Propst, der die äußeren Geschäfte leitete, war meistens am dänischen Hofe, so daß auch die Finanzen des Klosters in einem zerrütteten Zustande waren. Dann, als die alte Priörin das Zeitliche segnete, erwählten sich die Konventualinnen zum Oberhaupt ein Fräulein, von dem niemand viel wußte. Man nahm aber an, daß Agnete von Buchwald 284 unbedeutend und furchtsam wäre und niemals wagen würde, dem lustigen Leben im Kloster ein Ende zu machen. Und nun war großes Staunen. Das stille, sanfte Fräulein ergriff mit fester Hand die Zügel der Regierung.

Frau von Buchwald stand an ihrem schweren, mit Papieren bedeckten Eichentisch und blickte gedankenvoll auf einen Brief, den sie in der Hand hielt.

»Mein Herr Vetter will kommen,« sagte sie, mit einem Seufzer ihr graues Haar glattstreichend, »und ich soll ihm Quartier in der Herberge vor dem Klostertore bestellen. Möge er mir gute Kundschaft bringen!«

Sie wandte sich einer Frau zu, die wie sie in einfaches Schwarz gekleidet, am Fenster saß und mit Schreiben beschäftigt war.

»Habt Ihr den Herren Pastoren eine freundliche Ermahnung geschrieben, daß sie den Leibeigenen mehr Sorgfalt zuwenden und aufmerken sollen, wenn ihnen Unrecht geschieht, und mir sodann Bericht zu erstatten?«

»Ich schrieb an die vier geistlichen Herren, die Eurer Hochwürden untergeordnet sind. Die Briefe harren Eurer Unterschrift!«

Die antwortende Stimme klang müde und bedeckt, und während die Priörin die ihr überreichten Schreiben las, warf sie dann und wann einen bekümmerten Blick in das stille Gesicht der Sprecherin.

Sie sagte jedoch nichts, ehe sie mit kräftigen Zügen viermal ihren Namen unter die Schriftstücke gesetzt, dann schob sie einen hochlehnigen Stuhl herbei und ließ sich neben der andern nieder.

»Ihr seid wieder in trüber Stimmung,« sagte sie 285 mit freundlicher Teilnahme, »und ich möchte Euch helfen! Kann ich es nicht?«

»Eure Güte hilft mir vieles tragen,« versetzte die Gefragte, große, traurige Augen zu Frau Agnete aufschlagend; »aber helfen kann mir nur einer!«

Die Priörin faltete unwillkürlich die Hände.

»Ich weiß, ich weiß; der Allmächtige allein vermag Euch aufzurichten, aber kann er nicht mich zu seinem Werkzeug machen und durch meine Freundschaft Euch Linderung verschaffen? – Seht,« fuhr Frau Agnete fort, indem sie aufstand und an ihren Schreibtisch ging, »ich weiß wohl, was Ihr denkt. Ihr meint, ich könnte leicht versuchen, Euch mit Worten zu trösten, da ich doch niemals schweres Leid erfahren und daher ein Verständnis für das Eure nicht hätte, – denkt Ihr nicht so?«

»Vielleicht!« sagte die andere, müde die Hände in den Schoß legend. »Ihr habt doch niemals erfahren, was es heißt, jemanden heiß zu lieben, und später –« Sie stockte, und ihre Lippen preßten sich wie im Schreck zusammen.

Ein flüchtiges Rot stieg in das alte, freundliche Gesicht der Priörin, aber ihre Augen blickten ruhig vor sich hin, als sähe sie etwas wie in weiter Ferne.

»Weshalb sollte ich es nicht erfahren haben?« fragte sie sanft. »Ich habe ihn vielleicht zu sehr geliebt; als er einen tapferen Soldatentod fand, dauerte es lange Zeit, ehe mein Herz die Bitterkeit des Schmerzes überwand und stille ward. Aber der Herr hat mir zum Frieden verholfen!«

»Und habt Ihr denn niemals Gott gefragt, 286 weshalb er Euch gerade so Schweres zu tragen gab?« rief die Klosterdame heftig. »Habt Ihr niemals gedacht, daß Tausende von Menschen glücklich sind, und daß Ihr allein auserwählt wurdet, einsam und elend zu sein? Konntet Ihr Euch entschließen, an einen barmherzigen Gott zu glauben, wenn er Euch das Gegenteil bewies?«

Die Priörin nahm einen schmalen Kasten aus der Lade ihres Tisches und öffnete behutsam seinen Deckel.

»Er war so frisch und so lustig!« sagte sie halblaut vor sich hin, liebkosend mit den Fingern über eine blonde Haarlocke fahrend; »wenn ich allein sitze und an vergangene Zeiten denke, meine ich sein Lachen zu hören. Und so jung ist er gestorben, ohne das große Herzeleid und die Schmerzen dieser Welt zu kennen. Am letzten Tage seines Lebens hat er meiner in Liebe und Treue gedacht, mir diese Schnalle gesandt, und als der Herr ihn gerufen hatte, nahm sein Freund ihm noch die Locke vom Haupte –«

Sie sprach leise und abgebrochen; als sie schwieg, fragte die andere:

»Habt Ihr niemals mit Eurem Schicksal gehadert?«

Frau Agnete schob den Kasten wieder in die Lade und schüttelte leicht das Haupt.

»Ich bat den Allmächtigen wohl viele Male, auch mich zu sich zu nehmen, aber als ich merkte, daß er mich noch auf der Erde lassen wollte, da habe ich gesagt: ›Herr, nicht wie ich will, sondern wie du willst!‹«

Nachdenklich senkte Gude von Thienen ihr Haupt auf die Brust. Die einfachen Worte Agnete Buchwalds klangen in ihr nach, und sie dachte daran, wie fest und 287 treu die Priörin ihr Amt verwaltete, welchen Segen sie schon in der kurzen Zeit ihrer Herrschaft gestiftet, und mit welcher erbarmenden Menschenliebe sie jeden empfing, der hilfeflehend zu ihr kam. Aber wiederum durchzuckte sie ein bitteres Gefühl.

»Ihr empfandet einen reinen Schmerz, hochwürdige Frau,« sagte sie mit zuckenden Lippen. »Euch muß das Angedenken desjenigen, den Ihr liebtet, heilig sein, denn nichts tat er, was Ihr ihm hättet niemals verzeihen können. Habe ich Euch aber nicht berichtet, wie ich nachher erfahren mußte, daß mein Junker sich arger Missetat schuldig machte, daß er wohl Tod oder Gefängnis verdiente, wenn sein Bruder ihn nicht vor meinen Augen erstochen –«

Sie sprang auf, die Hände ringend.

»Und ich, die ich mein Teil an aller Schuld trug!« rief sie verzweiflungsvoll. »Gab es einen Menschen am dänischen Hofe, der Mitleid mit mir empfand; hatte Frau Uhlfeld ein Wort des Trostes für mich? Noch sehe ich ihr stolzes Gesicht, als ich mich jammernd zu ihren Füßen warf, noch höre ich ihre hohnvollen Worte: ›Wie man sich bettet, so liegt man, Jungfrau Gude. Ihr verstandet es nicht, einem Manne Treue zu halten!‹«

Die Priörin legte beschwichtigend ihre Hand auf die des Fräuleins.

»Sprecht nicht hart von Eleonore Uhlfeld,« sagte sie milde. »Bedenkt, wie die stolze Frau gebeugt ist und welche Leiden ihr auferlegt wurden.«

Gude von Thienen ließ sich in einen Stuhl gleiten und sah mit glanzlosen Augen durch die kleinen Fensterscheiben.

288 »Die Blätter beginnen zu fallen, und die Luft ist so klar wie damals, als mein Leben anfing, für mich ein Entsetzen zu werden! Allmächtiger! Wenn ich sagte, daß nur einer mir zu helfen vermöchte, so meinte ich nicht dich, ich meinte den Tod!«

»Ist denn dieser nicht der Diener seines großen Herrn?« fragte die Priörin. »Ach, Jungfrau Gude, lernt erst noch Gott lieben, ehe Ihr zu ihm gehen wollt!«

Fräulein von Thienen achtete der Worte nicht.

»Großer Gott!« murmelte sie, »wie habe ich ihn geliebt! Und er war ein Lügner! Später, als niemand Erbarmen mit mir fühlte, da vernahm ich, daß er mich getäuscht, daß sein Bruder mich niemals betrog; da sagte mir die Gräfin, daß sie den treuen Junker hatte verderben wollen. Ihr Wille geschah, der Brudermörder ward gebannt, sein Gut genommen, und ich trug die Schuld! Auch er steht vor mir und sieht mich drohend an –«

»Genug!« rief jetzt die Priörin, mit freundlichem Ernst die Hand hebend. »Wohl weiß ich, wie schwer Ihr gelitten, wohl fühle ich inniges Mitleid mit Eurem armen zerrissenen Herzen, aber wenig frommt es, in seinem Schmerz zu wühlen und tatenlos die Zeit zu verträumen. Glaubt mir, dadurch schadet Ihr Euch mehr, als daß Ihr dem Andenken Eurer Lieben nützt. Habe ich Euch doch deswegen nicht zu meiner Handlangerin ernannt, daß Ihr vor mir weint, sondern Ihr sollt mir beistehen mit Rat und Tat! Bin ich doch nur ein armselig Landfräulein, das die große Welt nicht einmal von ferne sah; Ihr aber seid ein gereistes, hoferfahrenes Fräulein!«

289 Die Priörin griff wieder nach dem vorhin beiseite gelegten Brief.

»Also, mein Herr Vetter, der neugebackene Graf, will unser Klösterlein besuchen, mir auch vom König eine Botschaft bringen. Ich danke Gott, daß Seine Majestät nicht in höchster Person hier erscheinen, wie unser königlicher Herr zuerst die Absicht hatte. Aber Ihr wißt, daß ich den Grafen ernstlich bat, unserm gnädigsten Fürsten alle Gedanken, uns zu besuchen, auszureden, und obgleich Herr Reventlow für seine Base niemals viel Freundschaft zeigte, so hat er mein Ersuchen dennoch erfüllt. Glaubt Ihr nun aber, Jungfrau Thienen, daß mein stolzer Vetter sich bequemen wird, in der Herberge vor dem Tor Wohnung zu nehmen? Zwar könnte ich ihm mein Haus anbieten, doch kommt er nicht allein. Ein anderer Herr, den er zum König führen soll, begleitet ihn, und für zwei Edelleute mit Knechten und Troßbuben ist es hier nicht groß genug; auch will der Graf nicht gestört sein!«

»Wer ist der andere Herr?« fragte das Fräulein.

Die Priörin räusperte sich und las bedächtig vor: »Auch vermelde ich meiner hochwürdigen Base, daß ich noch für einen zweiten Herrn Quartier erheische. Selbiger wird voraussichtlich etliche Stunden später kommen denn ich, und wir wollen ungestört des Gesprächs pflegen.«

»Wenn Euch mit meiner Wohnung gedient wäre, hochwürdige Frau –« begann Fräulein von Thienen, aber eine kräftige, etwas spöttische Männerstimme unterbrach sie.

290 »Da sei Gott vor, daß ich so heilige Jungfrauen aus ihrer Behausung vertriebe! Mir ist die Herberge am Tor sehr gelegen, und ich würde es meiner hochwürdigen Base sehr verübeln, wenn sie Umstände machte meinetwegen!«

Ein älterer Mann in reicher Hofkleidung, die Hand lässig auf den Griff seines Degens gestützt, stand vor den beiden Frauen. Er blickte sich einen Augenblick in dem kleinen einfachen Zimmer um, dann ging er auf die Priörin zu, erfaßte ihre Hand und berührte sie leicht mit den Lippen.

»Verzeiht, wenn ich Euch erschreckte, aber da ich keine Magd fand, mich anzumelden, so mußte ich mir Eure Tür selbst öffnen!« Dann trat er einen Schritt zurück und richtete prüfend die Augen auf Frau Agnete.

»Ihr habt noch dieselben Augen wie einstmals,« sagte er dann, »und Eure Stirn ist noch glatt. Das Leben hat Euch mit sanfter Hand erfaßt, Frau Base!«

Die Priörin lächelte.

»Sechzig Jahre sind über meinen Scheitel dahingezogen und haben ihn weiß gefärbt! Doch wollt Ihr Euch nicht setzen, Herr Graf?«

Es lag eine ruhige Würde in ihrer Haltung, die auf den Hofmann ihre Wirkung nicht verfehlte. Keinen Augenblick war Frau Agnete erstaunt über den unvermuteten Eintritt des Grafen, und auch Fräulein von Thienen zeigte keine Überraschung in ihrem noch Spuren großer Schönheit tragenden Antlitz. Auf sie war der Graf jetzt zugetreten.

»Darf ich nicht auch eine Verwandte begrüßen? Ihr seid doch Ulrika Brockdorff?«

291 »Ich heiße Gude von Thienen!« erwiderte die Dame, ihre noch immer schlanke Gestalt aufrichtend.

Graf Reventlow unterdrückte hastig eine Bewegung des Staunens und verbeugte sich tief.

»Euren Namen hörte ich viel nennen; Ihr waret lange der Gräfin Uhlfeld zugetan?«

»Ganz recht, Herr Graf!« lautete die Antwort, und das Fräulein machte eine Gebärde, als sähe sie die Unterhaltung für beendet an.

Der Graf setzte sich und zog die gestickten Handschuhe von den schlanken Fingern. Er war eine stattliche Erscheinung, doch manche Furche war vom Alter in sein schmales, vornehm geschnittenes Gesicht gezogen, und man sah ihm an, daß er viel erlebt hatte.

»Welche Botschaft bringt Ihr vom Könige?« fragte Frau Agnete, die einen Augenblick das Zimmer verlassen hatte und jetzt einen Platz am Fenster einnahm.

»Seine Majestät läßt Euch seinen gnädigen Gruß vermelden und Euch sagen, daß Ihr auf dem begonnenen Wege fortfahren möget. Höchstderselbe ist erfreut, zu sehen, daß Ihr das Kloster zu heben versucht, daß Ihr keine Mühe scheut, Euch Ansehen zu verschaffen, und daß Ihr auch bestrebt seid, den Hörigen des Klostergutes eine christliche Behandlung angedeihen zu lassen. Zwar sind Seiner Majestät allerhand Klagen zu Ohren gekommen, denn trotz Eurer Sanftmut habt Ihr Euch Feinde gemacht, die behaupten, Ihr wäret zu milde gegen die Niedriggeborenen und zu streng gegen Eure adligen Genossinnen, doch will mein gnädigster Herr annehmen, daß diese Klagen nicht begründet sind.«

292 Es lag viel Hochmut in der Sprechweise des Grafen und ein gewisser Ton, der andeutete, daß ihm diese ganze Angelegenheit völlig gleichgültig sei. Immer wieder gingen seine beobachtenden Blicke zu der etwas abseits sitzenden Gestalt des Fräulein von Thienen, und er schien sich Zwang anzutun, nicht an sie einige Fragen zu richten. Doch jetzt trat ein sauber gekleidetes Mädchen ein und brachte auf silbernem Teller einen Becher und eine Karaffe mit Wein.

Die Priörin schenkte ihm ein, und nachdem er in höflichen Worten gedankt, nippte er vorsichtig an dem Becher, ehe er einen tüchtigen Zug tat. Frau Agnete lächelte flüchtig. Sie merkte wohl, daß er in den Wein einer Klosterfrau kein Vertrauen setzte.

»Was ich Euch soeben berichtete, hochwürdige Frau, steht auch hier geschrieben, und Seine Majestät hat eigenhändig seinen Namen darunter gesetzt, Euch zur Aufmunterung!«

Nun zog der Graf einen umfangreichen Brief aus der Tasche.

»Ihr geht zu Seiner Majestät?« fragte die Priörin.

Reventlow neigte bejahend das Haupt.

»Mein königlicher Herr weilt bei Pinneberg und wird vielleicht in ernsten Streit mit der übermütigen Stadt Hamburg geraten!«

»Der allmächtige Gott bewahre uns vor einem neuen Kriege,« seufzte die Priörin; »doch hörte ich, daß Seine Majestät keinen großen Geldschatz besäße und deswegen sich vor Truppenwerbungen hüten müsse!«

293 »Ein so großer Herr schafft sich Geld mit geringer Mühe!« war die leichthin ausgesprochene Antwort. Dann kehrte sich der Graf zu Gude von Thienen.

»Euren Namen, wertes Fräulein, hörte ich noch vor kurzem in Kopenhagen aus Frau Uhlfelds Munde. Ihr wißt doch, daß mein Herr ihr allergnädigst die Freiheit zurückgab, nachdem sie dreiundzwanzig Jahre im Kerker saß und viel Trübsal erlebte. Denn Herr Korfiz starb fern von ihr, und viele Schmach mußte sie erdulden, ehe sie wieder ihr enges Gefängnis verlassen durfte. An dem Tage, da sie dem blauen Turm Valet sagte, der ihr ein Menschenalter zur Behausung diente, hat sich viel Volks versammelt, sie zu sehen, so daß ihr Wagen kaum vorwärts kommen konnte. Denn die meisten Leute dachten, sie wäre lange gestorben – und nun war sie noch lebendig. Königliche Pikeniere mußten sie geleiten, und doch ereignete es sich, daß eine steinalte Frau mit Kot nach ihr warf und ihr laut fluchte.«

»Welch schändliches Weib!« rief die Priörin entrüstet, während Gude schweigend zuhörte.

Der Graf spielte mit den goldenen Knöpfen seines gestickten Rockes.

»Sie war die Frau eines Bäckers und hatte auf die Uhlfelds einen Haß geworfen, weil ihr Sohn gegen die Schweden fiel! – Nun, Frau Uhlfeld hat die Gunst und den Abscheu des Volkes erfahren, und ihr ist beides gleichgültig geworden; Ihr würdet Eure einstige Herrin verändert finden, Fräulein von Thienen; klein und gebückt sitzt sie in ihrem Sorgenstuhl, und ihre Hände zittern, wenn sie spricht.«

294 »Sie nannte meinen Namen, sagtet Ihr?« fragte die Klosterdame leise.

»Sie sprach von Euch und sagte, daß sie hoffte, Ihr gedächtet freundlich ihrer! Mehr sagte sie nicht; ihre Gedanken verwirren sich zuweilen; dann klagt und stöhnt sie laut, jammert nach ihrem Gemahl und wünscht sich den Tod. Aber es kann sich ereignen, daß, wenn der König, mein gnädiger Herr, zu ihr eintritt und mit ihr redet, sie verständig spricht. Sie ist immer für die Höchsten des Landes gewesen. Obgleich sie einmal heftig nach dem Hofprediger Lauritzen begehrte. Doch der weilt schon lange nicht mehr unter den Lebenden.«

Der Graf stand auf.

»Wollet mich entschuldigen, hochwürdige Jungfrauen, wenn ich Euch verlasse, da ein Fremder meiner harrt. – Ihr, hochwürdige Frau Base, werdet gestatten, daß ich morgen noch einmal nach Eurem Befinden mich erkundige, und auch Euch, wertes Fräulein, hoffe ich noch einmal zu sehen!«

»Ich hoffte Euch und Euren Gast für heute abend bei mir zu bewirten!« sagte die Priörin, aber der Graf bedauerte mit höflichen Worten, diese Einladung nicht annehmen zu können.

Als er gegangen war, weinte Fräulein von Thienen laut auf.

»Ach, meine arme Herrin, was haben sie aus dir gemacht! Aus der königlichen Eleonore eine alte gebrochene Frau! Wie elend sind wir alle geworden!«

Es war schon dunkel, als Graf Reventlow ins Freie trat, und mit raschen Schritten erreichte er das 295 Klostertor, vor dem eine kleine, freundlich gelegene Herberge stand. Vor der Tür standen zwei seiner Diener, die ihm Platz machten, und er wollte die enge Stiege hinauf in sein eigenes Gemach gehen, als sein Blick in das Gastzimmer fiel. Dort saß an dem festgearbeiteten Tische ein Mann, der beschäftigt war, bei dem Lichte einer qualmenden Öllampe einige Worte auf ein dickes Stück Papier zu schreiben. Das gelb scheinende Licht fiel auf seine scharfgeschnittenen Züge, auf seinen dichten weißen Bart, auf die große, ausgearbeitete Hand, und spiegelte sich in seinen dunklen Augen, die von Zeit zu Zeit aufblickten.

Der Graf blieb unwillkürlich stehen und sah starr auf die mächtige Figur, die sich wunderlich in dem kleinen Gemach ausnahm. Es war, als wenn sie im Aufstehen mit dem Kopfe gegen die niedrige Decke stoßen müßte. Jetzt trat der Graf nach einem kurzen Zögern in die enge Stube, und der andere richtete seine scharfblickenden Augen auf den Eintretenden. Dann stand er auf, und die Augen beider Männer ruhten einige Minuten ineinander, bis Herr Reventlow höflich den flachen Hut vom Haupte nahm, seine Hand ausstreckte und lächelnd rief:

»Beim Scheine dieser elenden Lampe erkennt man Euch schlecht, Herr Matthias! Wisset, daß ich Euch schon vorgestern mit Schmerzen erwartete und ganz mißmutig ward, als Ihr mich wissen ließet, erst heute könntet Ihr hier sein!«

»Ihr müßt einem vielbeschäftigten Manne schon einiges nachsehen, edler Herr Graf!« lautete die mit volltönender Stimme gesprochene Erwiderung. »Meine 296 Zeit ist gemessen, und in Lübeck hatte ich viel zu tun. Wollet mein Säumen gütigst verzeihen!«

Der Graf verneigte sich. »Ihr habt sicher schwerwiegende Gründe, Euer Ausbleiben zu entschuldigen!«

Durch seine höflichen Worte klang eine leise Empfindlichkeit, und Herr Matthias lächelte verstohlen, während er auf einen Wink des Grafen diesem die enge Treppe hinauf folgte. Oben im Giebel des Hauses war ein Gastgemach für vornehme Reisende eingerichtet, und hierher wandten sich die Herren.

»Euretwegen,« sagte der Graf im Eintreten, »machte ich mir ein Geschäft im Kloster Preetz, um mein anderes Vorhaben zu verheimlichen. Nicht gern begebe ich mich zu älteren Jungfrauen unseres Adels, denn sie sind oft unfreundlich und gönnen einander kein Gutes. Doch muß ich sagen, daß Frau Agnete Buchwald mir gefallen hat. Sie hat sanfte Augen und einen festen Mund, und das liebe ich an den Weibern!«

Der Graf nahm unterdessen aus einer schweren Ledertasche ein kleines Paket, das er vor sich auf den Tisch legte. Und nachdem sein Diener eine Kerze gebracht hatte, wandte er sich zu Herrn Matthias:

»Doch laßt uns von Geschäften reden. Der König, mein gnädigster Herr, der Euch einen Freipaß durch mich sandte, so daß Ihr ungehindert in seinen Landen zwei Monate verweilen könnt, will den Bann, den König Christian der Vierte wegen Brudermordes über Euch verhängte, gänzlich von Euch nehmen. Ja, er erbietet sich in seiner großen Gnade, noch mehr zu tun: er will Euch in Eure sämtlichen Ehren 297 wieder einsetzen und Euch Euren Adel, dessen Ihr durch königliches Dekret verlustig ginget, zurückerstatten –«

»Auch mein Erbgut?« warf Herr Matthias ein.

Der Graf zuckte die Achseln.

»Ihr wißt selbst, daß Seine Majestät dies nicht kann. Durch Eure rasche Tat verscherztet Ihr Euer Erbe, und Frau Uhlfeld, die es einmal hatte, mußte es dem Feinde überlassen. Jetzt verkaufte der König Holleby an einen dänischen Edelmann, der es allmählich wieder in Ordnung bringt. Ich meine auch, daß Ihr reich genug seid, Euch ein anderes Gut wiederzukaufen. – Nun, Herr Matthias, was sagt Ihr zu unseres Königs Gnade?«

»Was kostet sie?« fragte der andere.

Herr Reventlow machte eine ungeduldige Bewegung.

»Seine Majestät ist einer beträchtlichen Summe benötigt, welche höchstderselbe zum Besten seines Landes zu verwenden gedenkt!«

Herr Matthias hatte sich gesetzt und zog die Enden seines langen Bartes durch die Finger.

»Der König will Krieg führen mit Hamburg, und das ist nicht zum Besten seines Landes,« versetzte er rauh; »er treibt großen Prunk an seinem Hofe, und die meisten seiner Untertanen hungern! Verzeiht, edler Herr, wenn ich nicht rede wie ein Hofmann!« setzte er milder hinzu, als er den entsetzten Ausdruck in des Grafen Gesicht gewahrte. »Der Wind bläst kräftig auf den Westseeinseln, und seit mir das Salzwasser mehr als tausendmal in die Augen spritzte, 298 ist mein Blick scharf geworden, und ich sehe mancherlei, an dem ich einst blind vorbeiging. Mit hoher Freude erfüllt es mich, den Bann von mir genommen zu sehen, der vierzig Jahre schwer auf mir gelastet, und gern zahle ich dem König hartes Gold für seine Gnade; mehr aber verlange ich nicht von ihm!«

»Ihr wollt Euren Adel nicht wieder annehmen?« fragte Reventlow überrascht.

Kajus Rungholt schüttelte sein graues Haupt.

»Nein, Herr; was sollte mir der stolze Titel? Die Friesen kennen ihn nicht; mein Weib, eine Föhringerin aus altem Geschlecht, würde von Euren Damen nicht als ebenbürtig angesehen werden, meine Söhne nenntet Ihr vielleicht Halbblut, wie ich es in manches Edelmanns Augen war – sie sollen es niemals wissen, daß ihr Vater einst anders hieß als Matthias!«

Kajus hatte sich warm geredet, und der Graf sah ihn nachdenklich an.

»Ganz tadeln will ich Euch nicht,« begann er langsam, »denn auch mir will das, was Ihr sagt, für richtig erscheinen. Doch der König wird anders denken. Er ist Euch gewogen, schon deshalb, weil Frau Uhlfeld Euch haßte. Auch ich erzählte Seiner Majestät von Euch, und er ist nicht abgeneigt, in der Affäre mit Eurem Bruder Euch recht zu geben. Ihr waret schwer gekränkt –«

Herr Matthias stand unruhig auf. »Sprecht von etwas anderem, Herr!« sagte er, mit schweren Schritten auf und nieder gehend. »Ich kann von allem reden, nur von diesem nicht!«

Aber Graf Reventlow ließ sich nicht unterbrechen.

299 »Wäre mein Bruder gegen mich verfahren, wie der Eurige gegen Euch, bei Gott, mich sollte es nicht gereuen, wenn mein Degen ihn getroffen hätte!«

»Ihr habt's nicht probiert!« murmelte Herr Matthias. »Noch jahrelang klang es in meinen Ohren, wie mein Bruder mit Stöhnen niedersank, und das Wort ›Brudermörder!‹ verfolgt mich durchs Leben. Das Blut des Knaben schreit zum Himmel, Herr; ja, es schreit zum Himmel! Wird es dort Gnade für mich geben?«

Seine starke Gestalt schauerte zusammen, und mit der Hand beschattete er die Augen.

Graf Reventlow legte ihm die seine auf die Schulter.

»Ihr seid ermüdet durch die Reise, Herr Matthias; daher blickt Ihr düster, und es war ein Fehler von mir, von dieser alten Geschichte anzufangen. Laßt uns von anderem reden. Seine Majestät ist gewillt, Euch zu empfangen, falls Ihr geneigt seid, seinen Wünschen ein williges Ohr zu schenken!«

»Seine Majestät ist sehr gnädig, doch scheue ich mich, in seine erlauchte Nähe zu treten, da ich der Hofluft mich ganz entwöhnte. Wollet mir die Forderung des Königs mitteilen, Herr Graf; steht es in meinen Kräften, so soll sie Befriedigung finden!«

Herr Matthias sprach mit einfacher Würde, und der Graf legte ihm schweigend ein Papier vor, das er dem kleinen Paket entnahm. Der andere las es aufmerksam durch, legte den Finger auf jedes Wort und sprach es leise vor sich hin. Dann hob er die Augen.

»Seine Majestät verlangt viel!« bemerkte er bedächtig.

300 »Ich sagte Euch schon, daß mein gnädiger Herr Euch dafür große Gnade angedeihen lassen wollte!« lautete die scharfe Antwort.

Über das ernste Gesicht des andern glitt ein Lächeln.

»Ihr seid empfindlich geworden, Herr Reventlow, und doch müßtet Ihr wissen, daß ein Hofmann solche Eigenschaft nicht besitzen darf. Gestattet indessen, daß ich bis morgen den Vorschlag, den Seine Majestät mir durch Euch machte, überlege; ich hoffe Euch dann feste Antwort geben zu können!«

Er machte eine leichte Verneigung und schritt der Tür zu, aber Graf Reventlow hielt ihn zurück.

»Ihr wollt mich doch nicht allein in dieser verwünschten Herberge lassen? Kommt, wir wollen uns ein Nachtessen bestellen und dazu einige Becher edlen Weins, den ich mit mir führe, leeren!«

Er rief aus der Tür nach einem seiner Diener und erteilte ihm rasch einige Befehle.

»Was denkt Ihr doch von mir,« setzte er hinzu, wieder zu Herrn Matthias tretend, »daß ich Euch von mir lassen sollte wie einen Fremden! Bin ich Euch nicht zu ewigem Danke verpflichtet? Waret Ihr es nicht, der vor fünf Jahren die Schiffbrüchigen, die der Sturm an den Strand der Insel Sylt warf, aus der Hand der wilden Friesen rettete? Meiner Treu, Ihr sagt, sie hätten niemals Hand an uns, als die Diener des dänischen Königs, gelegt; aber sie blickten uns nicht freundlich an, und ich erzählte ihnen bereits zum hundertstenmal, daß ich in außerordentlicher Gesandtschaft nach England gereist wäre, ohne Glauben zu finden. Bis dann Ihr erschienet!«

301 Herr Matthias zuckte die Achseln.

»Es ist ein rauhes Volk,« sagte er entschuldigend, »und sie betrachten den Strand als ihr Eigentum. Auch lieben sie nicht, wenn Schiffbrüchige kommen, die Anspruch machen auf das Strandgut. Daher die unfreundlichen Mienen!«

»Der eine griff nach dem Messer,« brummte der Graf, »und noch segne ich die Stunde, da Ihr plötzlich hinter mir standet!«

»Ich wollte ein Boot kaufen!« schaltete der andere ein.

»Als Ihr hinter mir standet, mir die Hand auf die Schulter legtet und mit starker Stimme das Volk anherrschtet, daß es auseinanderstob. Bei meiner Seele, Rungholt! Obgleich viele Jahre vergingen, seitdem ich Euch sah, so fuhr es mir doch wie ein Blitzstrahl durchs Gehirn: Kajus Rungholt! Und dann nahmet Ihr mich mit, in Euer stattliches Föhringer Haus, in dem Frau Inge ernsthaft und fleißig waltet, Ihr pflegtet mich wie einen Bruder und brachtet mich endlich nach Lübeck. Wisset, diese Liebe vergesse ich Euch niemals!«

Das etwas kalte Gesicht des Grafen bedeckte sich mit leichter Röte, und seine Stimme klang herzlich. Auch Herr Matthias sah ihn freundlich an.

»Ich durfte Euch zeigen, daß ich noch mit Dankbarkeit Eures Geleites über die Schleswiger Heide gedenke!« sagte er ruhig.

»Der Ritt über die Schleswiger Heide!« rief wieder der Graf. »Niemals entsetzte ich mich so, als damals, wo ich hörte, daß Ihr geächtet, daß Euer Gut Euch 302 genommen und daß Ihr in die Ferne geflohen waret. Oft gedachte ich Eures tückischen Bruders mit Empörung und gönnte ihm herzlich sein jähes Ende. Als Herzog Friedrich abschied, kam ein ander Leben für mich; ich trat in den Dienst der dänischen Krone. Da vergaß ich Euch! Bis ich Euch wiederfand als den größten Schiffsfahrer der Westküste; als den, der zuerst den Walfisch bis hierher brachte, und der von diesen Ungeheuern über dreihundert Stück erlegte!«

Herr Matthias lachte unwillkürlich über den Eifer des Herrn, dann aber ward er ernst.

»Viel Ungemach mußte ich erfahren, bis mein erstes Schiff die große Beute einbrachte,« sagte er sinnend; »auch sind Jahre vergangen, ehe ich empfand, daß der Kainsfluch von mir genommen war. Doch vieles habe ich durch Gottes Gnade überwunden, und sie nennen mich ›den Glücklichen‹.«

»Ihr seid es auch!« rief Herr Reventlow, aber der Föhringer wiegte bedenklich das Haupt.

»Zwei große Schiffe nahmen mir im Frühjahr die Franzmänner, und auf dem einen war mein ältester Sohn. Daß er lebt und gesund ist, habe ich erfahren, aber ein großes Lösegeld wollen sie mir abpressen. Daher begebe ich mich nach Hamburg, um mit dem französischen Ambassador Rücksprache zu halten, und wenn die Gnade des dänischen Königs mir behilflich sein könnte –«

»Sicherlich!« unterbrach ihn der Graf; »obgleich Seine Majestät der Stadt Hamburg zürnt, wird er doch dem Vertreter König Ludwigs wohlgewogen sein, und ich will dafür sorgen –«

303 Ein Geräusch, das von unten kam, ließ ihn mitten im Satz aufhören, und auch Herr Matthias erhob lauschend den Kopf.

»Die Knechte scheinen sich zu raufen!« sagte der letztere, und stirnrunzelnd erhob sich der Graf, um die Treppe hinunterzugehen, während der einstige Freiherr ihm folgte.

Lautes Schelten und Rufen, untermischt mit kräftigen Flüchen, drang von der Küche her, und gerade als die Herren auf dem Flur angelangt waren, flog ein Mensch an ihnen vorbei durch die offene Haustür ins Freie, wo er unbeweglich liegen blieb.

»Was geht hier vor?« herrschte der Graf einen seiner Knechte an, der soeben ein lautes, zufriedenes Lachen erschallen ließ. Aber die dicke Wirtin, die, ein dünnes Talglicht in der Hand, aus der Küche stürzte, ließ den Gefragten nicht zu Worte kommen, was ihm anscheinend nicht unangenehm war.

»Was hier vorgeht, hochgebietende Herren?« kreischte sie in höchster Aufregung, das Licht wie eine Fackel schwingend, so daß es reichlich Fetttropfen verstreute. »Habe ich nicht den Herren zwei Hähnchen gebraten und Eier in der Pfanne gebacken, und stellte ich nicht alles auf den Küchentisch dicht ans Fenster, um noch die weiße Decke mit der roten Kante zu holen, die meine Mutter mit aus Kopenhagen brachte? Weiß ich denn, daß das Fenster nur angelehnt ist, und daß es so schlechte Menschen gibt, die den Geruch von Gebratenem in der Nase nicht fühlen können, ohne daß ihnen die Diebsfinger jucken! Allmächtiger Heiland! Meine Tochter ist in der Küche und der Diener des gnädigen Herrn; aber die zwei –«

304 »Wo sind die gebratenen Hähnchen?« unterbrach sie der Graf barsch.

»Gott im hohen Himmel! Habe ich es nicht gesagt? Sind sie nicht weggestohlen, aufgegessen? Haben sie den Dieb nicht durchs Fenster hereingezogen und durchgebleut, und waren es nicht meine besten Hähnchen? Und waren die Eier nicht von der schwarzen Henne, die schon zweimal gebrütet hat?«

Graf Reventlow seufzte tief auf, nachdem er diesen zweiten Fragenerguß mit der Fassung anhörte, die einem vornehmen Hofmanne ziemte.

»Bringt so bald wie möglich ein anderes Essen!« befahl er dann, sich verdrießlich abwendend, während Herr Matthias in die Haustür trat und sich scharf umblickte. Nachdem seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt, entdeckte er einen dunklen Gegenstand, den er mit kräftiger Hand ergriff und in den Flur zog.

»Wir wollen uns den Vogel, der unser Geflügel verspeiste, doch genau ansehen und ihn in das Klostergefängnis abliefern,« meinte er. Damit nahm er der Wirtin das Licht aus der Hand und leuchtete in das blöde Gesicht eines sehr alten Mannes, dessen Augen sich soeben öffneten. Er schien betäubt zu sein von dem kräftigen Stoße, durch den er auf die Straße flog, sonst war an ihm keine Verletzung zu entdecken.

»Er soll gepeitscht werden!« rief der Graf drohend.

Der Alte grinste ihn spöttisch an. »Braten schmeckt gut!« kicherte er, mit der Zunge sich die Lippen leckend. Schon hob Herr Reventlow die Hand zum Schlage, als die Wirtin über den zerlumpten Dieb herstürzte 305 und ihm eine kräftige Ohrfeige versetzte. Dann brach sie in einen Strom von Verwünschungen aus und schien auch Lust zu haben, die Schärfe ihrer Nägel an dem Gegenstand ihrer Wut zu versuchen, hätte Herr Matthias ihr nicht Einhalt geboten.

»Laßt ab von dem Menschen, Weib!« rief er strenge. »Schickt ihn zum Klostervogt, damit er ernstlich bestraft werde, aber bezwingt Eure Leidenschaft!«

Nur zögernd gehorchte die Frau seinem Wort und drohte dem Alten mit geballter Hand.

»Sollte ich dich nicht kennen, verfluchter Dieb? Bist du nicht schon einmal hiergewesen und hast gesagt, du wärest ein Junker? Schöner Junker, du!« setzte sie spöttisch hinzu. »War meine Mutter nicht eine ehrsame Schuhmachersfrau in Kopenhagen, und habe ich nicht die geputzten Junker zu Dutzenden gesehen, ehe ich hierherkam, wo es nur Jungfrauen gibt?«

»In drei Teufels Namen, haltet den Mund!« schrie jetzt der Graf, hochrot vor Zorn. »Schafft den Burschen da ins Gefängnis und verschont uns mit Eurer Mutter, die etwas Besseres hätte tun können, als Euch sprechen zu lehren!«

»Kommt!« wandte er sich zu Herrn Matthias, »wir wollen das Stübchen wieder aufsuchen und uns nicht mit diesen gemeinen Dingen beschäftigen!«

Reventlows Stimme klang so, als gäbe er sich Mühe, seine Heftigkeit zu bezwingen, und sein Begleiter blickte befremdet bald auf ihn, bald auf den Bettler, der noch immer am Boden saß und blöde vor sich hinstarrte, um durch verschiedentliches Streicheln seiner Magengegend zu zeigen, daß er durchaus 306 keine Ursache hätte, unzufrieden zu sein. Das flackernde Licht beleuchtete seine bunte, aus Flicken und Lumpen bestehende Kleidung, seinen kahlen Kopf und eine breite rote Narbe, die über die Stirn und einen Teil des Schädels ging. Kajus Rungholt betrachtete ihn aufmerksam.

»Steh auf!« sagte er jetzt kurz, und der Bettler hob bei dem Klang der Stimme einen Augenblick den Kopf.

»Ich kann nicht!« sagte er mit kläglichem Ton. »Mir sind die Beine abgeschossen in der Schlacht bei Fehmarn!«

Lautes Gelächter der umstehenden Knechte antwortete ihm, und rauhe Hände halfen ihm, schneller als er gewollt, auf die Füße. Taumelnd lehnte er sich an die Wand, und ein tückischer Blick trat in seine Augen, während er mit der Hand unter den Rock fuhr.

Noch immer hatte Herr Matthias den Blick nicht von ihm gewandt, und auch die kleinen zwinkernden Augen des Bettlers irrten immer wieder zu dem scharf ausgeprägten Gesicht des Föhringers zurück, aber dem Grafen ward die Zeit lang.

»Laßt uns nach oben gehen, Herr Rungholt!« rief er, mühsam seine Ungeduld beherrschend. »Es ziemt uns nicht –«

Er kam nicht weiter. Mit einem tierischen Gebrüll stürzte der Bettler auf Herrn Matthias, ein funkelndes Messer in seiner Hand schwingend. Er führte einen wütenden Stoß nach ihm, aber der so unvermutet Angegriffene war mit schneller Bewegung zur Seite getreten und erfaßte den Arm des andern, 307 so daß das Messer zur Erde sank. In demselben Augenblick sprangen zwei Knechte vor, den Wahnsinnigen zu binden, was ihnen jedoch erst nach verzweifelter Gegenwehr gelang. Dann ward er hinweggeführt, noch immer laute Flüche und Verwünschungen gegen alle Menschen ausstoßend.

»Ihr seid doch nicht verletzt?« fragte Reventlow, als beide Herren wieder in ihrem Gemach saßen.

Kajus Rungholt zeigte einen großen Riß in seinem seinen braunen Tuchrock.

»Arbeit für den Schneider, nicht für den Chirurgus!« erwiderte er.

»Er muß hängen!« murmelte der Graf, finster in seinen Becher blickend.

»Wißt Ihr, daß es Geerd von der Wisch war?« fragte Herr Matthias.

Der andere nickte.

»Ich hatte schon von dem Patron gehört, daß er halb von Sinnen wäre und bettelnd im Lande umherstreifte. Man sagte, er täte niemand ein Leids! Wollte Gott, wir hätten uns nicht in diesen Küchenlärm gemischt!« schloß er ärgerlich. »Es kann ein schlimmer Handel werden, denn obgleich ihn alle verachten und keiner ihm ein Stück trockenen Brotes reicht, so ist er doch von der Ritterschaft, und wenn er am Galgen hängt, wird mancher ein großes Geschrei erheben!«

»Laßt ihn meinetwegen laufen!« sagte Herr Matthias ruhig. »Der arme Irrsinnige kann mir nicht schaden, und sollte er es noch einmal versuchen, so stehe ich in Gottes Hand!«

Der Graf erwiderte hierauf nichts und begann von anderen Dingen zu sprechen.

308 Am frühen Morgen des anderen Tages, als Herr Kajus Rungholt in das Gastgemach trat, kam Frau Lorenzen, die Wirtin, eilfertig zu ihm, um ihm mit vielen Knicksen und Händefalten das Entsetzliche zu erzählen, was in dieser Nacht geschehen war. Hatte doch der freche Dieb nicht seine gerechte Strafe in Demut erwartet, sondern es vorgezogen, mit einem spitzen Taschenmesser, das man ihm leider gelassen, sich den Hals abzuschneiden. Und Frau Lorenzen beschrieb den schrecklichen Akt mit einer Anschaulichkeit, als wäre sie dabei gewesen.

»Er ist also tot?« fragte Herr Matthias ernst.

Nein, er war noch nicht gestorben; man hatte ihn aus dem Gefängnis in ein kleines Armenhaus gebracht, wo die hochwürdige Frau Priörin Kranke hinschaffen ließ, um selbst für ihre Pflege zu sorgen. Dort würde der elende Mordgesell wohl seine sündige Seele dem Teufel übergeben.

Frau Lorenzen sprach sich in große Erregung hinein, so daß sie im Zimmer umherfuhr und es zuerst gar nicht merkte, daß ihr Gast sie verlassen hatte. Dann schüttelte sie den Kopf, daß die langen Bänder ihrer weißen steifgestärkten Haube flogen, und sie murmelte ziemlich unehrerbietige Bemerkungen über die großen Herren, die sich nicht einmal um die wenigen Worte kümmerten, die eine unbescholtene Bürgersfrau mit ihnen redete.

Herr Matthias war in den klaren, sonnigen Herbstmorgen und langsam durch das Tor in den Klostergarten getreten. Die kleinen freundlichen Wohnungen der Konventualinnen lagen noch schweigend da, und 309 die verhängten Fensterscheiben deuteten darauf hin, daß ihre Bewohnerinnen sich noch nicht vom Schlummer getrennt hatten. Herr Matthias wandte seine Schritte nach rechts; dort stand ein niedriges mit Stroh gedecktes Haus, und sein scharfes Auge entdeckte über der Tür einen mit bunten Lettern gemalten Spruch. Er näherte sich und blickte durch ein geöffnetes Fenster in ein kleines Zimmer. Dort lag sein einstiger Feind im Sterben. Er hörte sein dumpfes Röcheln, und unwillkürlich entblößte er sein Haupt, während er sich an die Hauswand lehnte. Dann vernahm er eine sanfte Stimme, die Bibelworte flüsterte, und er runzelte zuerst unwillig die Stirn: was sollten die heiligen Worte bei dem Lager des Sünders? Das Röcheln ward leiser, und als dieselbe Stimme begann, halblaut ein Sterbelied zu singen, da faltete Herr Matthias die Hände, und seine Lippen flüsterten das Lied nach. Ihm ward es andächtig und still zumute, und als er in den hellblauen Herbsthimmel blickte und das leise Zirpen eines Vogels vernahm, da kam es ihm vor, als wäre der strenge und gewaltige Gott, zu dem er in scheuer Ehrfurcht aufblickte, ihm noch niemals so nahe gewesen.

Die Haustür ging auf, und zwei schwarzgekleidete Frauen traten langsam in das Freie. Forschend ruhten die dunklen Augen des Föhringers auf beiden; plötzlich stieß er einen halblauten Schrei aus. Auch Gude von Thienen stand vor ihm wie erstarrt.

»Kajus Rungholt!« sagte sie mit bleichen Lippen.

Er richtete seine mächtige Gestalt höher auf und warf den Kopf trotzig zurück; aber als er in das bleiche Gesicht der einstmals Geliebten blickte, ward seine Haltung milder.

310 Die Priörin war hastig weitergegangen, und Kajus Rungholt stand mit Gude allein im stillen Frieden des Klostergartens. Er fand zuerst seine Fassung wieder.

»Ihr habt dem da,« er wies auf das Armenhaus, »ein selig Sterben bereitet. Er hatte es kaum verdient.«

Sie neigte demütig das Haupt.

»Sind wir nicht allzumal Sünder?« fragte sie leise, mühsam ihre Tränen zurückdrängend, und er sah sie nachdenklich an.

»Ja,« sagte er dann; »Ihr habt recht; wir sind allesamt der Gnade benötigt, und es ziemt keinem von uns, Gericht halten zu wollen. Es hat eine Zeit gegeben, Jungfrau Thienen, da ich Euch fluchte, denn wäret Ihr nicht gewesen –« Er hielt inne. »Aber auch Ihr,« fuhr er hastig fort, »werdet mein Andenken verwünscht haben! Jetzt ist das Leben über uns dahingegangen, und unser Haar ist weiß geworden; laßt uns in Frieden scheiden!«

Gude von Thienen hob ihre einst so schönen Augen zu dem gebräunten Gesicht des alten, ernsten Mannes. »Gott wird entscheiden, wessen Leid das schwerste war! Ich weiß nur, daß ich ihm bis an mein Lebensende danken werde, Euch noch einmal gesehen, Eure Verzeihung für alles, was ich an Euch gesündigt, erfleht zu haben!«

Rungholts Lippen begannen zu zittern.

»Jungfrau Gude,« sagte er endlich mit Anstrengung, »ich liebte Euch mehr wie mein Leben, und es ist mir viele Jahre gewesen, als wäre mein Herz kalt wie ein Stein geworden, seit Ihr mich verachtetet. Aber ich vergab Euch längst, wie auch 311 ich Eurer Vergebung harre, wenn auch der Allmächtige allein nur meine Schuld tilgen kann!«

Ein Ausdruck des Friedens trat in das unruhige Antlitz der Klosterdame, und sie erfaßte die kräftige Hand des Herrn Matthias.

»Gebe Gott uns die ewige Seligkeit!« murmelte sie.

»Amen!« sagte er, das Haupt neigend.

Kajus Rungholt war allein. Noch einmal wandte er den ernsten Blick auf den friedlichen, in buntem Laube schillernden Klostergarten, und seine Gedanken flogen weit zurück in die Vergangenheit. Er sah sich als lebensfrohen Junker, dann als gebannten Flüchtling. Er sah sich in der rauhen Hülle des Seemanns, und jetzt trat vor seine Seele das Bild seines stillen, liebenden Weibes, sein stattliches Haus voll blühender Kinder, und noch einmal neigte er das Haupt. Aber es war nicht Trauer, sondern ernste, tiefe Dankbarkeit.


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