Charlotte Niese
Kajus Rungholt
Charlotte Niese

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II.

Neben dem Herrenhause stand unter dem Schatten knorriger Ulmen ein verfallener, mit Efeu umrankter Turm, vielleicht der Überrest einer früheren Befestigung. Aus unbehauenen Felssteinen lose aufeinandergeschichtet, mit Backsteinen und Kalk ausgebessert, sah er aus, als könnte er täglich zusammenbrechen. Doch mancher Sturm war über das altersgraue Gemäuer dahingebraust, ohne seine Grundfeste zu erschüttern, und er stand auch nicht als Erinnerung an vergangene Tage. Hart über dem Erdboden war eine Tür aus dicken eichenen Bohlen, mit einem riesigen Hängeschloß versichert, und auf diese Tür warfen die Knechte von Holleby oft ängstliche Blicke. Es war nicht 23 angenehm, hinter derselben im feuchtkalten Turm zu sitzen, und jedermann wußte, daß die Freifrau öfters ihre Leute einsperrte, wenn sie Anlaß zur Unzufriedenheit gaben. Selten nur war das Gefängnis unbewohnt und auch jetzt wieder besetzt durch den fehmarnschen Knecht Hinnerk, dessen Äußerung, er möchte nicht auf Holleby sein, durch Frau Rungholt auf frischer Tat bestraft wurde.

Der Aufenthalt in den alten Mauern war für einen älteren Mann wie Hinnerk, der dazu von der Gicht geplagt wurde, nicht angenehm, und der Knecht saß gekrümmt und leise stöhnend auf einem Haufen halbvermoderter Blätter. Aber er war nicht allein: vor ihm stand der Junker Kai. Das Gesicht des Knaben trug einen finsteren Ausdruck, während seine Blicke an den nassen, grünlich schimmernden Wänden hingen, und er lauschte nur mit halbem Ohre den Worten des Gefangenen.

»Eine Hexe ist sie!« stöhnte dieser grimmig. »Darauf möchte ich meinen Kopf verpfänden! Wie könnte sie sonst so unbemerkt an uns herangekommen sein? Aber ich sah, als ich mit Euch sprach, ein Eichkätzchen an dem weißen Birkenstamme sitzen, das mich schon an jemand erinnerte, und ich Narr gedachte nicht der Freifrau. Nun habe ich dafür meine Strafe!«

»Wenn sie eine Hexe wäre, würde der Prädikant doch nicht zu uns kommen!« wandte Kajus ein.

Hinnerk schüttelte den Kopf.

»Meint Ihr, daß die Frau den geistlichen Herrn nicht betören kann? Pah! Ich weiß von einer Hexe, die war des Bischofs Schwester. Sie wohnte bei ihm vier Jahre im Hause und würde noch länger ihr Wesen 24 getrieben haben, aber eines Tages lag sie mit abgehauener Hand im Bette. Ein Ritter, dem sie als weiße Katze auf den Nacken gesprungen war, hatte ihr eine Pfote abgehauen!«

»Du hast mir diese Geschichte schon oft erzählt,« sagte der Junker ungeduldig. »Es mag wohl sein, daß die Frau Mutter hexen kann, und ich werde darüber mit dem Herrn Vater sprechen, wenn er einmal wieder heimkommt. Vielleicht geht sie dann in sich und tut Buße, ehe es zu spät ist. Aber wundern muß ich mich dann, daß sie sich den Herrn von Zoppelow nicht vom Halse schafft. Sie scheint ihn nicht gern hier zu sehen.«

»Wen?« fragte Hinnerk in einem so scharfen Tone, daß Kai befremdet aufsah.

»Ich meine den Herrn, der gestern abend bei uns eintraf, auch mit Bier bewirtet ward, obgleich es der Frau Mutter sauer abging. Er wollte lange hier bleiben, doch glaube ich kaum, daß die Mutter dies gestatten wird.«

Hinnerk war aufgestanden und ging langsam hin und her. Er schien in Aufregung zu sein, denn er murmelte unverständliche Worte und schüttelte drohend die Faust.

»Kennst du Herrn von Zoppelow?« fragte Kai, erstaunt über die Erregung des sonst so phlegmatischen Knechtes.

»Ob ich ihn kenne?« schrie Hinnerk. »Habe noch eine Rechnung mit ihm abzuschließen und schon oft zu Gott gebetet, er möge mir Gelegenheit geben zum Bezahlen!«

»Sprich nicht so laut!« rief Kai ängstlich. 25 »Bedenke, daß man dich hören könnte, denn die Turmmauer hat viele Spalten!«

Hinnerk setzte sich mit einem Seufzer wieder auf seinen Platz.

»Ihr habt recht, Junker,« sagte er leiser, aber mit grimmigem Blick, »das laute Schelten nützt zu nichts. Dann kommen die großen Herren und hängen einen, ehe man's sich versieht. Aber wenn Ihr etwas für mich zu essen hättet, edler Junker,« setzte er mit veränderter Stimme hinzu, »so würde Gott es Euch lohnen. Ich habe seit gestern mittag nichts in den Magen gekriegt, und die Frau wird mich sicherlich noch ein Weilchen versäumen.«

Kajus zog aus seinem Wams einige Wurzeln und ein großes Stück Brot hervor.

»Verzeih,« sagte er freundlich, »daß ich vergaß, weshalb ich kam. Brot und Wurzeln müssen dir genügen, aber ich hoffe, dir am Abend Milch zu bringen. Hilf mir aber aus dem Turm, ehe du anfängst zu essen!«

Hinnerk erhob sich, und während er einige Dankesworte murmelte, stellte er sich gegen die Mauer und krümmte seinen Rücken, damit der Junker diesen als Stütze brauchen konnte. Kajus kletterte einige Fuß an der Innenseite des Turmes hinauf und zwängte seinen schlanken Körper durch einen Mauerspalt ins Freie. Hier stand eine Ulme, deren knorriger Ast fast in den Turm wuchs. Diesen ergriff Kajus, und nach wenigen Augenblicken saß er in dem Blätterwerk des Baumes, das trotz des Herbstes noch immer dicht genug war, um ihn vollständig zu verdecken. Er wollte an dem Stamm niedergleiten, als 26 er Stimmen hörte, die sich diesem Platze näherten. Hastig drückte er sich in die Blätter zurück und warf einen scharfen Blick nach unten. Hier näherten sich langsam und in eifrigster Unterhaltung die Freifrau und ihr Gast aus Mecklenburg.

Es war ein sonniger, milder Herbsttag, und Frau Rungholt hatte dem schönen Wetter, vielleicht auch ihrem Besuch zu Ehren ein hellgraues, mit kirschrotem Tuch besetztes Gewand angelegt, das ihrem ältlichen Gesicht gut stand. Ein schöner Kragen aus gelblichen Spitzen verdeckte dabei ihre Magerkeit. Ein Häubchen aus grauem Tuch bedeckte ihren Scheitel, und breite Bänder von derselben Farbe rahmten das Gesicht ein. Kajus, dessen Falkenaugen nichts entging, mußte sich sagen, daß er seine Stiefmutter noch niemals so hübsch gesehen hatte, und er schämte sich, unfreundlich über sie gesprochen zu haben. Herr von Zoppelow sah heute nicht anders aus wie gestern. Der Staub war von seiner Kleidung verschwunden, aber sie erschien im hellen Sonnenlicht noch abgeschabter als gestern abend. Die schweren Stiefel waren schiefgetreten, der Koller vielfach ausgebessert und die Federn des Hutes kahl und verregnet. Trotzdem drehte sich der Mecklenburger mit siegesgewisser Miene den langen Schnurrbart und blickte um sich, als wäre er Besitzer des schönen Holleby.

Jetzt waren beide dicht am Turme angekommen, und während Frau Rungholt ein auf die Erde gefallenes Stück Kalk wieder zwischen zwei Steine einzufügen versuchte, lehnte Zoppelow sich behaglich an den Ulmenstamm, in dessen Krone Kajus saß.

»Ich merke schon, werte Cousine,« sagte er mit 27 leicht gedämpfter Stimme, »Ihr seid der Sache nicht ordentlich zu Leibe gegangen, sonst müßte alles anders sein. Aber es ist wahr, Ihr seid ein Weib und habt keine männliche Stütze gehabt, ohne die Ihr nichts ausrichten könnt. Euer Gemahl begeht einen Übergriff, wenn er sich verleiten lassen sollte, seinen ältesten, unebenbürtigen Sohn zum Erben seines Besitzes einzusetzen. Der Freiherr mag ein stattlicher Kriegsheld sein, aber wer einmal ein bürgerlich Weib nahm, der verliert für viele Dinge das Verständnis. Laßt mich nur machen, werte Frau Cousine, und Ihr werdet den Tag segnen, da Albrecht Zoppelow den Fuß auf die Schwelle Eures Hauses setzte!«

Die Freifrau schüttelte ungläubig den Kopf.

»Ihr habt gut reden!« sagte sie dann. »Mein Herr ist ein Querkopf, der tut, was ihm wohlgefällt. Auch habe ich von Beispielen gehört, wo König Christian Knaben, die eine bürgerliche Mutter hatten, durch öffentliches Schreiben für ritterbürtig erklärte und in großen Zorn geriet, wenn man an seinem Wort hat zweifeln wollen. Nein, es wird schwer halten, meinem geliebten Sohne den Hof zu verschaffen, und manche schlaflose Nacht verbrachte ich in Kummer und Gram über das Schicksal des süßen Kindes!«

Zoppelow räusperte sich.

»Es gibt doch noch mancherlei Wege, zum Ziele zu kommen!« meinte er, sich vorsichtig umschauend.

»So haltet damit nicht hinter dem Berge!« rief Frau Mathilde ärgerlich. Bis jetzt flößte der Vetter ihr noch nicht viel Respekt ein.

Dieser warf ihr einen schlauen Blick zu.

28 »Wenn Seeland schwedisch würde!« sagte er bedeutungsvoll.

»Seeland schwedisch? Lieber Gott, was redet Ihr da!« rief die Freifrau unmutig. »Wollen denn die Schweden das ganze Erdreich besitzen?«

»So weit ist's noch nicht!« lächelte Zoppelow überlegen. »Ich weiß wohl, daß man mit Frauen eigentlich keine Politik treiben soll, weil sie doch nichts davon verstehen und meistens Verwirrung anrichten, aber erzählen muß ich Euch doch, daß man in Stockholm schon lange wünscht, Schonen, Bleckingen und Seeland einzuverleiben. Ihr müßt das auch begreiflich finden, da Schonen und Bleckingen in Südschweden liegen und Seeland nur durch den schmalen Sund von diesen Ländern getrennt ist. Es ist offenbar Gottes Wille, daß dies einst alles schwedisch wird, und die Dänen müssen sich darein finden. Behalten sie doch noch die übrigen Inseln: Norwegen, Jütland, Schleswig und Holstein, wahrlich ein weites Reich, wie sie es besser nicht verlangen können!«

»Hat Euch dieses Herr Oxenstirn alles selbst gesagt?« fragte die Freifrau, als Zoppelow schwieg und mit einem zerlumpten Tüchlein sich die Stirn trocknete. Der kühle Ton ihrer Frage behagte ihm nicht, und er warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Wäre ich ein Diplomatikus und in Oxenstirns Vertrauen, dann stünde ich wohl nicht hier,« erwiderte er unwirsch. »Aber ich weiß, was man in Stockholm redet, und daß es ein gut Stück Geld zu verdienen geben wird, wenn man dem Kanzler Nachricht über Seelands Armierung und Befestigung bringt. Auch habe ich erfahren, daß es hier mancherlei 29 Leute gibt, die lieber unter der blaugelben Fahne als unter dem Danebrog leben möchten!«

»Ich verstehe aber nicht, was meine Angelegenheit mit diesen Sachen zu tun hat,« bemerkte Frau Rungholt, prüfend in das aufgedunsene Gesicht Zoppelows sehend.

»Nun, das ist doch ganz einfach!« rief dieser laut und ärgerlich. »Dann würden die schwedischen Gesetze mit aller Strenge hier eingeführt werden, und nimmer würde es dem Junker Kajus verstattet sein, einen Edelhof sein eigen zu nennen!«

»Wißt Ihr das gewiß?« fragte die Freifrau schnell.

»So gewiß, wie ich hier stehe!« beteuerte Zoppelow.

»Nun, wir können noch einmal über die Angelegenheit reden,« meinte die Dame, ihr Kleid aufraffend, um weiterzuschreiten. »Wenn Ihr auch nicht unrecht haben möget, daß Frauen wenig von der Politik verstehen, so weiß ich doch, daß mir die Schweden lieber sind als die Dänen. Erstere habe ich sogar zu einer Zeit sehr geliebt, ehe sie so grausam in Deutschland wüteten; aber die Dänen sind falsch und hochmütig, so daß schlecht mit ihnen zu leben ist. Doch laßt uns weitergehen, – an unserem Gefängnis ist für Euch nicht viel zu sehen!«

»Dies ist Euer Gefängnis?« Zoppelow wandte sich noch einmal um und klopfte mit dem Finger an die Mauer. »Nun, ein alter Bau; aber so morsch, daß er bald zusammenbrechen wird!«

»Er sieht wohl so aus,« versetzte seine Begleiterin, »aber ich kann Euch versichern, daß er noch viele Jahre seine Dienste tun wird!«

30 »Benutzt Ihr ihn fleißig?«

»Gewiß!« seufzte die Gefragte. »Das Volk ist widerspenstig und aufsässig, so daß fast immer einer hier drin sitzt. Jetzt sitzt hier ein Knecht, der mir davonzulaufen drohte. Er mag fein nachdenken über seine rebellischen Gedanken.«

»Solche Leute darf man nicht erst einsperren!« rief Zoppelow rauh. »Man muß sie auf frischer Tat aufhängen lassen – dann hat man nicht mehr nötig, sie zu füttern, und die andern mögen sich ein Beispiel daran nehmen!«

Er lachte roh auf und eilte der davonschreitenden Freifrau nach, während Kai mit schmerzenden Gliedern noch immer auf seinem Aste saß und nachdenklich vor sich hinblickte. Was wollte dieser fremde Mann hier, und weshalb sprach er so viel und so unfreundlich von ihm? Kai hatte ihm doch nie etwas zuleide getan; weshalb wollte der Fremde ihn seines Erbteiles berauben? Ein Gefühl des Unbehagens, wie er es noch niemals gekannt, bemächtigte sich des Knaben; langsam glitt er vom Baum herunter und ging schweren Schrittes zum Hofplatz. Er hätte am liebsten laut weinen mögen, und nur der Gedanke, daß dies nicht mehr für ihn schicklich sei, hielt ihn zurück.

Junker Kai war von der eben gehörten Unterhaltung so hingenommen gewesen, daß er auf nichts anderes geachtet hatte. So war es ihm entgangen, daß ein Lauscher den Kopf aus der Maueröffnung gestreckt und gleichfalls kein Wort Zoppelows verloren hatte. Jetzt noch sah er heraus, und seine kleinen Augen funkelten vor Wut.

»Also hängen wolltest du mich, du 31 Landesverräter? Nun, lieber Gott im Himmel! Sie sagen ja immer, daß du auch ein Gott für die Armen und für die Knechte bist; dann zeige mir einmal deine Gnade und laß mich ihn aufhängen, wenn seine Stunde geschlagen hat!«

Junker Kajus hatte nicht viel Zeit, seinem Kummer nachzuhängen; auf dem Hofplatz kam ihm Klemens entgegen, der einen Papierdrachen steigen ließ und die Hilfe des Bruders beanspruchte. Dann waren auch noch Bolzen für den Kleinen zu schnitzen – kurz, Kai vergaß bald, weshalb er hätte weinen mögen, und dachte nur daran, wo der schönste Wind für den Drachen sei. Er beschloß, hinter den Garten auf eine kleine Wiese zu gehen, und Klemens, die Schnur des Drachens haltend, während ein Hofjunge das papierne Ungetüm trug, folgte ihm jubelnd.

Nicht lange dauerte es, und der Drachen erhob sich langsam, von Kajus sorgsam in die richtige Windrichtung gebracht. Beide Knaben standen dann still und schauten aufmerksam in die Höhe, während die Schnur, an der ihr Spielzeug befestigt war, sich immer schneller abwickelte. Endlich gab es einen kleinen Ruck – der Bindfaden hatte sein Ende erreicht, und der Drachen stand unbeweglich über ihnen.

»Er will weiter fort!« rief Kajus. »Sieh nur, wie er an der Schnur reißt! Ach, wäre sie doch doppelt so lang!«

»Gib mir das Band, damit ich den Drachen lenken kann!« bat Klemens, die Hand nach dem Stückchen Holz ausstreckend, um das das Ende des Bindfadens gebunden war und das Kajus in der Hand hielt.

Der ältere Bruder schüttelte den Kopf.

32 »Nein, mein Kleiner,« sagte er freundlich. »Du würdest den Burschen niemals halten können. Sieh, wie er sich bäumt und wie er vorwärtsdrängt! Er will weit weg fliegen, und er tut es sogleich, wenn er deine schwache Hand fühlt!«

Aber der Kleine hatte sich in den Kopf gesetzt, den Drachen selbst zu halten, und seine rosigen Lippen baten so inständig um diese Vergünstigung, daß Kai einige Schritte fortlief, um dem Drängen des Bruders zu entgehen. Als aber dieser, nach Art eines verwöhnten Kindes, zu weinen begann, ging er auf ihn zu und legte ihm gutmütig die Handhabe des Drachens in die Hände. Er selbst steckte die Hände in die Taschen und verfolgte die Bewegungen des Bruders mit Spannung.

Mit zufriedenem Lächeln übernahm Klemens die Leitung des Drachens, und er biß kräftig die Zähne zusammen, als der scharf angespannte Bindfaden die Haut seiner Finger rieb, aber lange hatte er nicht die Kraft, dem Zerren des ungebärdigen Spielzeuges zu widerstehen. Plötzlich fuhr ein schärferer Windstoß daher, der Drachen tat einen Ruck, und mit einem Aufschrei ließ Klemens das Stück Holz fahren, das sofort in die Luft gerissen ward. Der befreite Drachen fuhr mit stürmischer Eile vor dem Winde davon; langsam sinkend verschwand er hinter dem entfernten Walde.

Beide Brüder standen schweigend und sahen in die Höhe, bis der Drachen gänzlich ihren Blicken entschwunden war; dann sagte Kajus:

»Siehst du wohl, daß du ihn nicht halten konntest?«

»Mein Drachen, mein Bindfaden, mein Papier, 33 mein Stück Holz!« schluchzte Klemens, dessen Tränen ungehindert flossen.

»Ja, alles ist verloren!« bestätigte Kajus. »Der Drachen fliegt vielleicht nach Schweden und bekommt ein großes Stück von der Welt zu sehen!«

Diese Bemerkung schien für Klemens nichts Tröstliches zu haben; er weinte noch stärker.

»Du bist an allem schuld!« schrie er Kajus an. »Ich wollte auf dem Hofplatze spielen, und dann hätte ich meinen Drachen noch! Du bringst mich um alles, um den Drachen und um meinen Edelhof!«

Kai, der tröstend seinen Arm um den Bruder legen wollte, trat einen Schritt zurück.

»Was sagst du da?« fragte er scharf, während dasselbe Gefühl des Unbehagens, das er soeben abzuschütteln versuchte, sich seiner wieder bemächtigte.

»Herr von Zoppelow sagt es!« schrie Klemens triumphierend, den Eindruck seiner Worte gewahrend. »Er sagt, daß du mir den Edelhof nehmen willst, obgleich er mir gebührt, denn du bist kein rechter Edelmann.«

Da fiel die Hand des älteren Junkers schwer auf den Rücken seines Bruders, und während dieser ein gellendes Jammergeschrei ausstieß, rief der andere, vor Zorn bebend: »Ich will dich lehren, deinem Bruder so unnützes Zeug zu sagen! Ich bin der erstgeborene Junker Rungholt und werde es bleiben, solange ich lebe!«

Kai hatte kaum die Worte ausgesprochen, als er einen schweren Schlag auf den Nacken erhielt. Mit einem kurzen Schmerzenslaut sich umwendend, erblickte er vor sich den mecklenburgischen Herrn und 34 seine Stiefmutter. Herr von Zoppelow hob den wuchtigen Knotenstock, den er in der Hand hielt, bereits zum zweiten Male.

»Ihr scheint ein sauberes Früchtchen zu sein, Kajus Rungholt,« sagte er mit seiner heiseren Stimme, »und ich will Euch zeigen, –« ehe er den Satz vollendet, taumelte er mit einem Fluch zurück; Kai war mit einem wilden Sprunge gegen ihn vorgestürzt und hatte den überraschten Edelmann so heftig auf den Oberarm geschlagen, daß diesem der Stock entfiel.

Junker Rungholt griff rasch darnach und drohte zornig damit.

»Ihr wagt es, mich zu schlagen?« fragte er, seine blitzenden Augen auf den erschreckten Mecklenburger richtend. »Wahrlich, wäret Ihr nicht der Gast der Frau Mutter, Ihr müßtet bitter für Eure Verwegenheit büßen! Die Rungholts lassen sich nicht schlagen wie Knechte!«

»Ihr schluget auch den Kleinen!« brummte Zoppelow, scheu einige Schritte zurücktretend und seinen Arm reibend.

»Wenn ich meinen jüngeren Bruder für seine ungebührlichen Reden züchtige, so ist das mein Recht, und Euch geht das nichts an!« rief Kajus, den der Zorn wider seine Gewohnheit redselig machte.

»Laßt uns gehen!« rief jetzt die Freifrau scharf, die bis dahin schweigend gestanden und Klemens zärtlich gestreichelt hatte. »Ihr seht, werter Herr, daß ich Euch recht berichtete. Kajus ist ein böser Bube, mit dem nichts anzufangen ist, und dem es besser wäre, er käme in scharfe Zucht, als daß er sich einbildet, den adeligen Herrn hier spielen zu wollen. 35 Im nächsten Brief an meinen Gebieter werde ich von ihm melden, und dann wird er, will's Gott, seiner Strafe nicht entgehen!«

Sie ging davon, noch einen giftigen Blick auf Kai werfend, und Zoppelow folgte ihr eiligst. Er brummte allerhand Drohworte in den Bart, hütete sich jedoch, sie laut werden zu lassen. Kajus, der unbeweglich mit dem Stock in der Hand stand, sah nicht aus, als wenn er viel Federlesens mit dem Herrn machen würde. Nur Klemens blieb bei dem Bruder. Er hatte niemals Furcht vor ihm empfunden und war jetzt zufrieden, da der fremde Herr für ihn Partei ergriffen hatte.

»Du mußt mir Bolzen schneiden!« rief er, den andern am Arme fassend, denn seine Strafe hatte er bereits vergessen.

Aber zum ersten Male in seinem Leben schlug Kai ihm diese Bitte ab.

»Geh und lauf zu deiner Mutter und zu dem Herrn mit der knarrigen Stimme!« rief er, sich ungeduldig abwendend. »Ich bin nicht dein Diener und habe nicht Lust, für dich etwas zu tun!«

Er ging eilig davon, während Klemens wieder in lautes Geheul ausbrach und dann wütend nach dem Hofjungen schlug, der ein stummer Zeuge des ganzen Vorganges gewesen war und sich jetzt herausnahm, über den kleinen Junker zu lachen.


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