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Einer von Vielen.

(Besuch bei einem Komponisten.)

Er: Ach, wie ich mich freue. Sie bei mir zu sehen! Sie treffen mich gerade in einer Arbeitspause. Ich muß Ihnen erzählen, was ich vorhabe und nachher will ich es Ihnen auch vorspielen.

Ich: Das haben Sie gar nicht nötig, Verehrtester. Schonen Sie Ihre Beredtsamkeit und Ihr Klavier. Ich werde Ihnen erzählen, was Sie vorhaben. Ich werde Ihnen Ihre überraschenden Gedankengänge haarscharf entwickeln.

Er: Sie mir? aber erlauben Sie, Sie können doch gar nicht wissen ...

Ich: Selbstverständlich weiß ich. Sie sind doch Kapellmeister und Sinfoniker, das genügt mir. Also hören Sie: Momentan stehen Sie im Begriff, Beethovens Zehnte Sinfonie zu schreiben. Sie wollen dem titanischen Ringen der Menschheit den letzten, höchsten orchestralen Ausdruck verleihen.

Er: Allerdings – das heißt, gewissermaßen...

Ich: Warum so schüchtern? Bekennen Sie sich doch voll und ganz zu Ihren Absichten. Ich wette darauf, Sie schildern in den ersten drei Sätzen Ihrer neuen Sinfonie den faustischen Drang einer verzweifelten Heldenseele. Im zweiten Satz haben Sie Momente melancholischer Entsagung. Im dritten bringen Sie den temperamentvollen Aufschwung. Und ich wette darauf, im letzten Satz werden Sie Chor und Soli aufbauen, um die letzte höchste Erlösung Ihrer Gigantenseele in ebenso erhabenen wie niederschmetternden Tönen zu feiern.

Er: Ja, natürlich brauche ich Chöre und Solisten...

Ich: In Minimo fünfhundert ausführende Personen. Es wäre Verrat an den heiligsten Gütern der Kunst, wenn Sie weniger beanspruchten. Ich wette darauf, das überleitende Fugato, in dem Sie das innere Zerwürfnis Ihres Helden schildern, wird Ihnen ganz fabelhaft gelingen und unter Dutzenden absolut gleichwertigen Fugatosätzen als ein Unikum dastehen. Ich wette darauf, im Erlösungssatze wird über hohen Trillern und Flageolets eine Lohengrin-Reminiszenz himmeln und wimmeln. Ich wette darauf, Sie brauchen ein Glockenspiel, um ferne Sphärenklänge anzudeuten. Ich wette darauf, daß Sie abwechselnd von Wagner in Brahms, von Brahms in Tschaikowsky, von Tschaikowsky in Bruckner und von Bruckner wieder in Wagner verfallen.

Er: Man steht doch auf den Schultern seiner Vorgänger!

Ich: Daher der Name Kapellmeistermusik. Früher machte man flache, heute schreibt man transzendente. Früher mußte alles klingen, heute muß alles mißklingen. Im übrigen gleicht sich alles aus. Den Kapellmeister möchte ich sehen, der nicht Beethovens Zehnte Sinfonie schriebe! Nichts für ungut. Ich wette darauf, Sie werden einen immensen Erfolg haben. Das Publikum applaudiert immer wie besessen, wenn man es anderthalb Stunden viviseziert hat und die Quälerei schließlich doch einmal aufhört. Der Satz, mit dem die Hörer dann in die Höhe fahren, ist der eigentliche Erlösungssatz. Ich wette darauf, man wird Sie originell finden. Denn im Konzertsaal besteht die Originalität darin, daß es alle egal machen. Ich wette darauf, Sie werden eine glänzende Presse haben; besonders wenn Sie inzwischen verstorben sind. Und ich wette darauf, daß ich mit diesen Wetten zehnmal mehr verdienen könnte als Sie und Ihre Kollegen mit zehn Zehnten Sinfonien!


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