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Der Spezialist.

Der Professor galt als eine Autorität ersten Ranges, und eben darauf kam es mir an. Denn ich wollte ein Ende machen mit dieser verdammten Neurasthenie, die ich schon seit einem Jahre mit mir herumschleppte. Ich hatte mich besonders angemeldet und wurde infolgedessen ohne Verzug außerhalb der Sprechstunde vorgelassen.

»Also worüber klagen Sie speziell?« fragte der Professor, indem er mich zum Sitzen einlud.

»Ich wünschte, es wäre speziell zu bezeichnen,« erwiderte ich, »aber ich fürchte, es ist etwas Allgemeines. Neurasthenie in optima forma, in harmonischer Vereinigung sämtlicher Symptome, die überhaupt vorkommen können; wie beim Normalpferd in der Tierarzneischule. Schwindel, Platzfurcht, Flimmern, Angstzustände, – alles habe ich an mir beobachtet. Können Sie mir wohl ein radikales Mittel dagegen verordnen?«

»Das wird sich finden,« meinte der Professor. »Zunächst wollen wir Sie einmal genau untersuchen.« Er betrachtete meine Pupillen, während er eine angezündete Kerze vor meinen Augen hin- und herbewegte. In seinem Antlitz malte sich Zufriedenheit. Die Pupille funktionierte nach allen Regeln der Optik. Dann kam der sogenannte Patellar-Reflex an die Reihe. Ich mußte im Sitzen die Knie übereinanderlegen, und der Arzt schlug mir mit einem flachen Instrument gegen das vordere Schienbein. Die Extremität hüpfte vorzüglich, beinahe känguruhmäßig.

»Im Zentralsystem scheint also alles in Ordnung zu sein,« gutachtete der Professor. »Etwas ernstes liegt bestimmt nicht vor. Immerhin wollen wir der Vollständigkeit wegen noch ein weiteres Phänomen heranziehen. Versuchen Sie einmal mit geschlossenen Augen auf einem Bein zu stehen.«

Ich versuchte, und es gelang. Ich hielt mich in dieser schwierigen Pose zirka fünfzehn Sekunden ohne die mindeste nationalliberale Schwankung.

»Brillant!« erklärte der Arzt. »Genau genommen fehlt Ihnen gar nichts. Ihre Neurasthenie beruht in der Hauptsache auf Einbildung. Verstehen Sie mich recht: wir Geistesarbeiter sind eben heutzutage alle ziemlich neurasthenisch veranlagt ...«

»Sie auch, Herr Professor?«

»Aber wie! Bei mir liegt es sogar komplizierter, als bei Ihnen. Wenn ich auf einem Bein balanzieren will und mache dabei die Augen zu, so falle ich einfach um. Jeden Tag probier' ich's zehnmal, nichts zu wollen.«

»Ich gebe Ihnen den guten Rat, Herr Professor, probieren Sie es seltener. Übrigens, Sie sind doch die Autorität, womit behandeln Sie sich denn selbst?«

»Hauptsächlich mit Brom.«

»Ach, Herr Professor, ehrlich gestanden, von dem Brom halte ich sehr wenig. Ich habe natürlich das ganze Jahr an mir herumexperimentiert und dabei gefunden, daß die Brompräparate mehr schaden als nützen. Leiden Sie manchmal an Ohrensausen?«

»Manchmal, lieber Herr? Eigentlich dauernd!«

»Sehen Sie, Herr Professor, das kommt nämlich direkt vom Brom. Also lassen Sie das gänzlich weg und nehmen Sie lieber Baldrian.«

»Ätherischen?«

»Nein, gewöhnlichen; täglich etwa drei halbe Teelöffel, das schafft doch eine gewisse Erleichterung. Rauchen Sie viel?«

»Da sind wir beim Kernpunkt!« meinte der Arzt. »Die Neurasthenie ist, wissenschaftlich ausgedrückt, die chronische Schwester der akuten Nikotinvergiftung. Ich war natürlich früher ein starker Raucher, bin aber allmählich zur völligen Abstinenz von der Zigarre übergegangen.«

»Falsch, falsch, Herr Professor! Wer einmal Raucher war, der muß es bleiben! Die Neurasthenie will gerade von dieser Enthaltsamkeit nichts wissen; glauben Sie meinen persönlichen Erfahrungen! Es brauchen ja nicht gerade schwere Importen zu sein, aber eine Zigarette tut wirklich bei diesen nervösen Beklemmungen gute Dienste.«

»Meinen Sie russische Zigaretten?«

»Nein, lieber türkische und zwar mit möglichst langem Mundstück;« – ich zog mein Etui, – »darf ich Ihnen eine anbieten?«

»Sehr freundlich.«

»Und da wir gerade dabei sind, sollten Sie auch etwas Baldrian versuchen; ich habe es immer bei mir; bitte!«

Der Medikus drückte auf den elektrischen Knopf. Der Diener erschien. »Einen Teelöffel!« befahl die Kapazität.

»Ich bin überzeugt, es wird Ihnen wohltun,« ergänzte ich; »wie steht es denn mit Ihrem Schlaf, Herr Professor?«

»Ach, nicht besonders,« klagte er; »besonders mit dem Einschlafen habe ich oft recht große Not, und mit dem Veronal muß man doch vorsichtig sein.«

»Wenn Sie eine Tablette Veronal in einem Viertelliter starker Zitronenlimonade auflösen, haben Sie den vollen Effekt ohne jede störende Nebenwirkung. Ich bin durch Zufall darauf gekommen, als ich mich letzten Herbst in Wengen aufhielt. Kennen Sie Wengen?«

»Nur als Passant, da ich Sommer für Sommer meiner Nerven wegen an die Nordsee gehe.«

»Also Seebäder sind direkt Gift für Sie. Nur Höhenklima in Verbindung mit warmen Wannenbädern und sanfter Kopfmassage!«

Ich erhob mich. »Wann darf ich wiederkommen, Herr Professor?«

»Wenn es Ihnen recht ist, nächsten Donnerstag um dieselbe Zeit. Und dann überhaupt jeden Donnerstag bis auf weiteres.«

Ich stellte mich pünktlich zu den Konsultationen ein. Der Professor befand sich zusehends wohler. Er behauptete, er könne jetzt volle acht Sekunden mit geschlossenen Augen auf einem Bein stehen. Eine Wohnung im Berner Hochland hat er schon vorausbestellt. Die Liquidation betrug 120 Mark.


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