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K-Reise eines Zerstreuten.

»Wohin so eilig, Zyprian?« Mit diesen Worten stellte ich meinen alten Freund spät abends an der Straßenecke.

»Komm ein Stückchen mit,« sagte der Angeredete; »oder noch besser, begleite mich in meine Wohnung. Ich werde dir unterwegs erzählen. Ich komme nämlich von meiner Reise.«

»Wo bist du denn gewesen?«

»Überall und nirgends. Aber das läßt sich nicht in zwei Worten erledigen. Also unterbrich mich nicht. Ich bin noch ganz voll von meinen Erlebnissen und freue mich wirklich, einen getroffen zu haben, der gut zuhört.«

Ich schloß mich ihm an, und Zyprian legte los:

»Heut morgen reifte in mir der Plan. Seit Kriegsbeginn bin ich ja in Berlin festgenagelt und ärgere mich über die sechzig Jahre, die ich auf dem Buckel trage. Nichts fürs Vaterland geleistet! Denn daß ich fleißig Liebesgaben hinausschicke und tüchtig Kriegsanleihe zeichne, das wird doch als Aktivposten der Tätigkeit nicht allzu hoch gerechnet. Ich selbst empfand das schmerzlich genug, und als der Sommer herankam mit seiner Reiseverführung, da sagte ich mir: es wird zu Haus geblieben! Kannst du nicht ins Feld, so soll dich auch keine Sommerfrische, keine Bergwanderung und kein Seebad erquicken! Kurzum, ich blieb. Bis endlich heut früh die alte Gewohnheit und die liebe Erinnerung durchschlugen. So eine Anwandlung überrumpelt einen, ehe man sich dessen versieht. Und im Augenblick rief ich meine Wirtschafterin: »Packen Sie mir meinen großen Handkoffer; was man so für ein bis zwei Wochen braucht. Sie verstehen schon. Etwas Mundvorrat nicht zu vergessen. Sie wissen ja, was ich gern habe. Und wenn Sie damit fertig sind, dann holen Sie mir eine Droschke – wenn Sie eine kriegen.«

Etliche Stunden gingen darüber hin, während deren ich zahllose Zeitungen durchstöberte. Die Alte packte gewissenhaft, darauf konnte ich mich verlassen. Endlich meldete sie, die Droschke stünde schon unten und der Koffer wäre aufgeladen. Hut, Mantel und Schirm vervollständigten mich in der Sekunde. »Leben Sie wohl, Brigitte, und hüten Sie mir das Haus!« Damit schwang ich mich die Treppe hinab und geriet an den Kutscher.

»Also los!« sagte ich zu dem Mann, der mich fragend anglotzte. »Hat Ihnen die Frau nicht gesagt, wohin?«

»Die, wo mir vom Standplatz jeholt hat? Nischt hat se mir gesagt.«

»Nun, Sie sehen doch, daß ich verreisen will. Der Handkoffer redet sozusagen Bände. Also fahren Sie gefälligst nach einem Bahnhof.«

»Ja, det is bald jesagt, lieber Herr, in 'ner Stadt wie Berlin! Da missen Se sich schon jenauer ausquetschen. Ick meene: nach welchem Bahnhof?«

Die Frage war nicht unberechtigt. Sie verlangte einen bestimmten Bescheid, während mir nur der lockere Umriß einer Reise überhaupt vorschwebte.

In dieser Verlegenheit brachte ich es bis zu der Gegenfrage: »Welches ist denn der nächste?«

»Na, der nächste, det wird wohl der Anhalter sein.«

»Sehen Sie, Kutscher, da hätten wir's ja. Nehmen wir den Anhalter Bahnhof!«

»Von mir aus hätten Se ooch nach'm Lehrter Bahnhof können, mir wäre det ejal,« versicherte der Rosselenker.

»Schön!« antwortete ich. »Ihre Stimmung soll mir gelten, fahren Sie nach dem Lehrter!«

Langsam, aber zuverlässig setzte sich das Gefährt in Bewegung. Wir kamen an den Königsplatz, wo plötzlich der Eiserne Hindenburg als eine übermächtige Erscheinung aufragte. Da kam mir eine Unterlassungssünde zum Bewußtsein. Seit dem Tage der Einweihung hatte ich mir vorgenommen, mich an dem vaterländischen Hammerwerk zu beteiligen. Jetzt mahnte mich das Gewaltbild des Feldherrn selbst an die verabsäumte Pflicht. Ich ließ daher halten, stieg aus und bedeutete dem Kutscher, er möge drüben am Reichstag auf mich warten; das könnte höchstens drei Minuten dauern.

Womit ich mich allerdings verrechnet hatte. Denn in dichten Ketten bildete das Publikum Spalier, und eine Viertelstunde verstrich, ehe ich mir an der Eingangshalle einen Nagel erstanden hatte. Aber dafür verursachte mir auch die Zeremonie helle Freude, und ich empfand so recht die Weihe des Augenblicks, als ich meinen Nagel an der vorpunktierten Stelle auf dem Schienbein des Helden einschlagen durfte. Ich schrieb alsdann meinen Namen in das ausgelegte Erinnerungsbuch, nahm eine Schleife und eine Gedenkschrift als Andenken mit und stand abermals nach einer halben Stunde auf dem Königsplatz in lebhafter Verwunderung darüber, daß all meiner Vergeßlichkeit zum Trotz ich doch noch an meinen lieben Hindenburg gedacht hatte. Plötzlich fiel mir meine Droschke ein. Donnerwetter! Die hatte ich ja an den Reichstag vorangeschickt, wo sie schon eine Ewigkeit wartete. Richtig, da stand sie. Ich mit einem Satze hinein und: »Kutscher, also jetzt nach der Lehrter Bahn!«

»Was woll'n Se denn da, Herr? Da jeht doch jetzt jar keen Zug nich!«

»Das wäre allerdings ein Übelstand; wo geht denn einer?«

»Na, zum Beispiel auf'n Potsdamer, aber der könnt Se doch nischt nützen.«

»Woraus schließen Sie das, Kutscher? Zug ist Zug. Also fahren Sie nach dem Potsdamer Bahnhof!«

Wenige Minuten später befand ich mich am Schalter, in dessen Innern ein vertrauenerweckender älterer Beamter hauste. Ich hatte das deutliche Vorgefühl, daß ich hier zu einem klaren Ergebnis gelangen würde.

»Ich bitte um einen eisernen Nagel.«

»Eiserne Nägel gibt's hier nicht,« erklärte der Schalterbeamte, »hier gibt es bloß Fahrkarten.«

»Ach, entschuldigen Sie nur, ich war eben in Gedanken beim Hindenburg. Ich wollte ja auch eigentlich eine Fahrkarte, und zwar zweiter Klasse.«

»Wohin?«

»Irgendwohin. So, wie Sie mich hier sehen, möchte ich nämlich eine Reise machen.«

»Ja, das kommt vor auf Bahnhöfen. Aber Sie müssen doch wissen, wohin Sie wollen.«

»Ich dachte vielmehr, ich würde es hier erfahren. Die Wünsche des einzelnen sind in dieser Zeit bedeutungslos gegen den Staatswillen. Sie als Beamter verkörpern augenblicklich für mich den Staat, also entscheiden Sie, bitte, über mein Reiseziel.«

»Darauf kann ich mich gar nicht einlassen. Wollen Sie nach Magdeburg, nach Harzburg, nach Köln?«

»Die Rheingegend hätte mancherlei für sich; im Prinzip wäre dagegen gar nichts einzuwenden. Anderseits ...«

Weiter kam ich nicht. Mein Nachbar zur Linken, ein ungeduldiger Fahrgast von herkulischer Gestalt, gab mir einen Rippenstoß, der wahrscheinlich eine abfällige Kritik über meine Unschlüssigkeit ausdrücken sollte. Jedenfalls verlor ich meinen Standort vor dem Schalter und flog auf der anderen Seite heraus; eine Flut tadelnder Bemerkungen folgte mir obendrein. Aus alledem entnahm ich, daß dieser Bahnhof für mich nicht das Geeignete sei.

Draußen, nahe der Köthener Straße bemerkte ich eine Droschke, die mir so bekannt vorkam. »Haben Sie mich vorhin hierher gefahren?« fragte ich den Kutscher.

»Is möglich. Vielleicht ooch nich. Is übrigens eejal. Steijen Se man in. Wohin möchten Se denn?«

»Das ist vorläufig ein offenes Problem. Fahren Sie mich mal einstweilen eine halbe Stunde spazieren, und wenn Sie in die Nähe eines Bahnhofs kommen, setzen Sie mich ab. Ich will mir das Weitere unterwegs überlegen.«

»Na, na,« meinte der auf dem Bock, »so eenen habe ick schon 'nmal jefahren, et war een Kassendefraudant. Aber so sehen Sie ja nich aus. Und übrigens – wat jeht's mir an? Los!«

Unterwegs überlegte ich wirklich. Mein Reiseplan mußte schärfer umgrenzt werden. Wo war ich denn sonst immer hingereist? Ach, richtig! Vor Jahren war ich mehrfach in der Schweiz gewesen, und ich entsann mich erhebender Eindrücke. Daß mir das vorhin nicht eingefallen war! Jetzt aber war das Programm vorgezeichnet: nur einige Minuten festen Entschlusses, und das lockende Dunstbild konnte in die erfreulichste Wirklichkeit übersetzt werden; schon morgen konnte mir auf grünen Matten das Alphorn tuten.

Und wieder stand ich am Schalter, diesmal aber mit einem scharf nach Baedeker bestimmbaren Richtungsziel:

»Wieviel kostet eine Fahrkarte zweiter Klasse nach Luzern am Vierwaldstätter See?«

In dem Antlitz des Beamten spiegelte sich Mitleid und Fürsorge, während in seiner Stimme der Ton eines sanften Verweises hindurchklang. »Erstens,« sagte er, »ist hier keine Auskunftstelle, doch das nur nebenbei; zweitens müßten Sie bei einer Reise ins Ausland laut Verfügung einen Paß mit Photographie und Beglaubigung des Gesandten vorlegen; drittens aber – und dies ist der Hauptpunkt – befinden Sie sich hier auf dem Stettiner Bahnhof, auf dem eine Beförderung nach der Schweiz gänzlich ausgeschlossen ist.«

Der Fall lag schwierig, ja, wie es schien, unlösbar. Nur eines sprang mit Klarheit hervor: daß ich auf den bisher beschrittenen Wegen überhaupt nicht aus Berlin herauskam. Ich beschloß daher, während ich ziemlich belämmert abzog, mein ganzes Vorhaben zunächst einer durchgreifenden Nachprüfung zu unterziehen. Neben diesem verständigen Grundgedanken keimte eine starke Empfindung in mir auf: ich verspürte Heimweh! Sehnsucht nach meiner hübschen Wohnung, von deren Behaglichkeit ich mich ach so lange schon abgetrennt hatte. Und wie wir nebeneinander hergehen, lieber Freund Alex, siehst du mich auf dem Wege nach meinem trauten Heim in der Yorckstraße, wo ich in weisem Zwiegespräch mit dir meine Pläne vervollständigen möchte.«

»Freund Zyprian,« rief ich aus, »du wirst mir das Zeugnis ausstellen, daß ich als guter Zuhörer meinesgleichen suche. Nicht ein einziges Mal habe ich dich unterbrochen. Wenn ich mich aber jetzt zum Wort melde, so kann meine Rede nur mit einer Frage beginnen: » Zyprian, wo hast du deinen Koffer

Er blieb stehen, stutzte, besah seine Hände und erklärte in völliger Übereinstimmung mit dem Augenschein: »Mein Koffer – der ist fort!«

Wir erörterten die Möglichkeiten. Er konnte auf einem der zahlreichen Bahnhöfe stehengeblieben sein –

»Oder in der Droschke,« ergänzte jener.

»Was du, lieber Freund, mit beschränkender Einzahl als » die Droschke« bezeichnest, ist zweifellos ein Plural. Du hast meines Erachtens mindestens ebensoviel Droschken benutzt wie Bahnhöfe. Und das verwickelt die Angelegenheit enorm. Hat dein Koffer ein Erkennungszeichen?«

»Jawohl,« entgegnete mein Freund, »der Schlüssel steckt drin!«

»Dann ist es also das Sicherste, ihn verloren zu geben. Du ersparst dir dadurch Wege und Scherereien.«

»Und außerdem vereinfachen sich dadurch meine Reisepläne: ich bleibe dann eben hier.«

Die Wirtschafterin Brigitte hatte uns schon am Fenster erspäht. Sie lief uns auf der Treppe entgegen mit der freudigen Ansage: »Na, das ist gut, daß Sie wieder da sind – der Koffer ist auch schon hier!«

Natürlich war es die Droschke Nummer eins, die ihn nach langem vergeblichem Warten am Reichstagsbau wieder an der Ursprungsstätte abgeliefert hatte. Und nun entwickelte sich eine wahre Kette von Erfreulichkeiten: denn beim Auspacken enthüllte der Koffer ein wahres Arsenal von Leckerbissen, das die sorgliche Schaffnerin darin verstaut hatte. Da war des Schmausens kein Ende. Aus jedem Eckchen stieg ein Päckchen hervor, angefüllt mit den schmunzelbarsten Substanzen zum Vor-, Mittel- und Nachtisch.

»Du hättest weit reisen können, Zyprian,« sagte ich, »ehe du auf so eine Beköstigung gestoßen wärst. Denn sieh mal, den Koffer hättest du ja doch unfehlbar unterwegs irgendwo verloren.«

»Das ist anzunehmen,« versetzte der andere; »und außerdem, bei jeder Reise gibt es eigentlich nur zwei eindrucksvolle Merkmale: die Abfahrt und die Heimkehr. Beide habe ich erlebt. Was dazwischen liegt, ist Nebensache. Hauptsache bleibt, daß ich meinen Willen gehabt habe, und ein unverhofftes Geschenk dazu: denn, unter uns, Max, es ist wirklich das erstemal in meinem Leben, daß ich von der Reise heimkehre mit Koffer! Im Krieg ist eben alles anders!«


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