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Der Morgen war so schön, daß es einem beinahe leid tat, die Gegend zu verlassen. Jetzt meldete sich in der Tat schon der Frühling und die Täler füllten sich mit seinem Hauche. Angenehm warme Sonnenstrahlen tanzten auf den Hängen. Die kleinen Wachholder schwammen darin, wie in einem Bade, und strömten ihren Wohlgeruch aus, so daß in der Frühe die Luft wie geschwängert vom Fichtenduft war.
Der Wagen stand vor dem Hause. Derselbe Wagen, der einst die sehnsüchtig erwartete Frau hierher gebracht hatte. Auf dem kleinen Platze herrschte Stille, die Arbeit ruhte. Für heute Mittag erwartete man die Depesche der Hauptaktionäre, worin sie auf die Forderungen der Arbeiter ihre Antwort geben mußten.
Die zwei schönen, dicken Pferdchen standen in der Sonne und klatschten mit den Schweifen die ersten Fliegen von sich weg. Dann kam das Stubenmädchen mit einem Paket herunter. Bald brachte auch der Diener einige Koffer und Schachteln. Darauf gingen sie wieder ins Haus, und es wurde auf eine kurze Zeit still.
Und dann kam Eva. Sie trug über der langen, grauen Jacke einen Staubmantel aus Rohseide. Auf den Weg hatte sie einen kleinen, grauen, weichen Hut mitgenommen. Sie blieb auf der Schwelle stehen und ließ ihre Blicke herumschweifen. In der Ferne schien die Sonne hell und kräftig auf die Bergabhänge herab. Die kahlen Stellen glänzten, als wären sie Felsen aus Kreide, und unaufhaltsam kam von der Berghalde der leichte, flüchtige Frühlingsatem, kein Wehen, nur irgend eine geahnte, leise Bewegung, ein geheimnisvoll flüsternder Wellenschlag der Lust, der nicht rauscht, sondern schlüpft, schleicht.
Auch der Ritter schaute flüchtig herum. Dann betrachtete er die schlanke, zierliche Gestalt von Eva. Das Herz tat ihm weh, daß die Frau diesen Ort verließ. Jetzt wird er sich wieder unter Zahlen und Steinen begraben und die Kolonie auf irgend eine Weise herzustellen bemühen. Eva drehte sich um und küßte noch ein letztes Mal ihren Verwandten, Sie war so schön und so lieblich an diesem frischen Frühlingsmorgen, daß der breitschultrige Germane – vielleicht, weil ihm das Herz so schwer war – sie umarmte und so kräftig zurückküßte, als ob er verliebt gewesen wäre. Da fuhr ihm auf einen flüchtigen Moment ein sonderbarer Gedanke durch den Sinn; sofort aber scheuchte er ihn weit hinweg, damit er auch nicht einen Augenblick in seinem ruhigen, klugen Kopf Wurzeln fasse.
Die Frau stieg auf den Wagen. Der Ritter hüllte sie ein. Die Zofe hatte auf dem Bock Platz genommen und grüßte den Direktor:
»Ich küsse die Hände, gnädiger Herr!«
Der Ritter winkte ihr zu und eilte in den Torweg hinein. Dann bekam man ihn nicht mehr zu sehen. Der Wagen setzte sich in Bewegung, indem er anfänglich auf der absteigenden Straße bremste. In der Mitte des Dorfes aber trabten die kleinen Pferde lustig und unbändig dahin. Mit einem Worte: es war eine prächtige Fahrt an diesem angenehmen Frühlingsmorgen.
Auf einmal stand der Wagen still. Der Kutscher nahm seinen Hut vom Kopfe ab. Man vernahm Gesang.
Das Mädchen wendete sich um und sagte:
»Ein Begräbnis, gnädige Frau.«
Eva sprang rasch von ihrem Sitz auf und über die Schulter des Kutschers ausschauend, gewahrte sie das Begängnis. Man ging soeben über die Landstraße dem Stege zu, der auf den Hügel führte. Dort oben lag um die Kirche herum der Friedhof. Zwischen unansehnlichen weißen Häusern bewegte sich der kleine dunkle Zug. Den Sarg konnte man nicht mehr sehen, der war schon hinter den Häusern verschwunden. Schon trug man ihn auf dem mit Sträuchern umsäumten Wege, der im Sommer ganz besäet mit Blumen ist, daß dem Menschen, wenn er es sieht, das Herz im Leibe hüpft. Nur die Leute schritten noch über die sonnige Straße, hinter dem langen schwarzen Sarge her. Man sah Tante Csenke, ganz in Schwarz gehüllt, wie sie ihr Taschentuch nervös an die Augen und Lippen preßte, plötzlich ans Herz drückte, so daß dieses weiße Tüchlein auf dem schwarzen Grund sich ausnahm wie ein nadeldurchstochener und befreiter sterbender Schmetterling.
Der Kutscher brummte etwas in seiner Mundart. Das Mädchen übersetzte es:
»Er sagt, daß die Verwandte des Beamten beim Staatsbergwerke gestorben ist …«
Eva nickte mit dem Kopf, und da waren schon alle auf dem zum Hügel führenden Stege verschwunden.
»Fahre«, rief sie dem Kutscher zu, »aber schnell …«
Die Zofe übersetzte es ins Slowakische, und darauf jagte der Wagen die abschüssige Straße hinunter. Diese Eile schien zu sagen, sie verließen auf immer die Gegend. Eva schloß die Augen, lehnte den Kopf zurück und ließ den Wind ihr Gesicht streifen und ihre Haarlocken zerzausen.
»Ich gehe fort«, dachte sie, »und was lasse ich hinter mir zurück?«
Der Luftzug brachte den Schall eines Glöckleins herüber. Man war mit der armen Jolan im Kirchhof angelangt. Sie zuckte zusammen bei dem entsetzlichen Gedanken, daß dieser feine, zarte, weiße Mädchenkörper soeben in eine Grube voll kotiger Schollen und Steine geworfen wurde.
»Rascher!« rief sie dem Kutscher zu.
Der Bauer, in der Hoffnung auf ein gutes Trinkgeld, peitschte auf die Pferde los. Nun flogen sie schon über die breite, weiße Straße. Und wie nun der Wagen dahinjagte, hörte Eva ein Summen und Dröhnen in der Ferne. Sie aber meinte, es sei der Wind, der in den Fichten heule. Auf einmal verstärkte sich der Lärm. Man konnte heraushören, daß er dem Rhythmus eines Liedes folge. Eva öffnete die Augen, sah aber noch immer nichts. Plötzlich, bei einer Biegung des Weges, erblickte man oben an dem kahlen Bergabhange die ungeheure Menge der Grubenarbeiter. Die ganze Berghalde war voll von ihnen. Es schien, als ob die kleinen Wachholder und die mächtigen Fichten sich in Bewegung gesetzt hätten und der Wald vom Berge herunterstiege.
Der Wagen rasselte unter ihnen vorbei, und nun konnte man deutlich hören, daß alle die Marseillaise sangen. Man sah, wie sie in drohenden Scharen herunterkamen, bestrahlt von der Sonne Gottes mit goldenen, silbernen, überirdischen Lichtreflexen. Diese bleichen Slowaken stiegen herunter vom Berge, als wären sie himmlische Heerscharen.
Unten am Wegsaume aber lag hinter den in Pyramiden aufgestellten Gewehren ein großer Trupp von Soldaten, während eine andere Kompagnie gewaffnet in einer langen Reihe längs der Heerstraße stand und so ein Spalier bildete vor dem Wagen Evas.
Der Hauptmann blickte unverschämt unter den Hut der Frau, und Eva bemerkte erst jetzt, daß neben ihm zwei entsetzte, verzweifelte Männer standen. Es war Vertes und Bajtzar. Sie waren noch immer beisammen und überwachten sich gegenseitig …
Da rief Eva, noch einmal, das letzte Mal, wild, fast gellend:
»Kutscher, fahr zu!«
Und wieder schmetterte, jetzt hinter ihnen das Lied; wer es nicht wußte, brüllte, heulte, schrie mit, und das gab dem vom Berge kommenden Schall einen höllischen Klang.
Der Wagen flog in wilder Hast vorwärts. Und er ließ hinter sich das Dorf, das Begräbnis, die beiden einander überwachenden Narren, die Soldaten und das vom Berge herunterströmende Meer, dessen heulendes Gebrüll die Frau immer wieder hören mußte, mochte sie sich die Ohren wie immer auch verstopfen. Es durchdrang alles, wie das drohende Brausen eines fernen großen Gewässers, das allmählich geheimnisvoller, kraftvoller wird, in dem Maße, als der Wagen sich mehr und mehr davon entfernt.
Aber den schrill durch die Luft gellenden deutschen Kommandoruf konnte man noch vernehmen, mit dem der Hauptmann auch die zweite Compagnie ins Gewehr treten ließ.
Ende.