Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VIII.

Wenige Minuten nach neun Uhr langte Toganow vor dem Direktionsgebäude an. Er blickte hinauf auf die Fenster im Stockwerk und bemerkte, daß in der Stube neben dem Salon Licht brannte. Darauf schritt er ruhig durchs Tor und ging die Treppe hinauf. Er war nun sicher, die Kollegen oben zu finden. Das war zur üblichen Gewohnheit geworden. Oben auf dem kleinen Gang lauschte er eine Weile. Aus der Stube tönte eine leise Melodie. Die Frau spielte wieder irgendein trauriges Liebeslied. Seit Wochen traktierte sie die Herren mit diesen Liedern und sprach mit ihnen von der Liebe.

Toganow horchte eine Zeitlang auf die Musik, und plötzlich überkam ihn ein unangenehmes Gefühl. Er drehte sich um und ging leise die Stufen hinunter. Er hatte sich besonnen.

Im Erdgeschoß sah er durch die Fenstertür der Kanzlei Licht. Herr Wurm wusch sich die Hände mit der gemeinsamen Sandseife.

»Was tun Sie denn hier, Wurm?«

»Ich schicke mich an, nach Hause zu gehen,« antwortete der Rechnungsführer und mahnte mit dem nassen Finger: »Pst!«

Sie lauschten. Von oben hörten sie durch die Wand hindurch die Stimme Evas, wie sie das vorige Lied sang. Eine Weile horchten sie, dann bemerkte Wurm, der früher solche Aeußerungen nicht riskiert hatte:

»Ich liebe derlei Dinge nicht. Die gnädige Frau wird noch alle die Herren zu Narren machen.«

»Sie gehen nicht hinauf?«

Wurm entgegnete, indem er sich die Hände abwischte:

»Ich nicht. Bisher war ich beschäftigt, nun gehe ich heim. Diese Herren schauen jetzt immer auf die Uhr und wenn es nur möglich ist, eilen sie früher, zum Abendessen, damit sie sich zum Konzert ja nicht verspäten … Ich reiße mich danach.«

Damit patschte er, als ob dies eine große Tugend gewesen, das Handtuch auf das Waschbecken.

Toganow verriet nicht, daß er auf dem Wege umgekehrt war.

»Ich komme soeben von der kleinen Lokomotive,« sagte er, »und eile nach Hause. Ich gehe mit Ihnen. Wir machen uns dann einen Tee.«

Wurm gefiel diese kleine Absonderung. Er nahm seinen Hut, löschte die Lampe aus, schloß die Tür und ging mit dem Russen weg. Sie wohnten in einem Hause, bei demselben Slowaken. Zu Hause stellte der Russe die Teekanne auf den kleinen Eisenofen und zündete sich die Pfeife an. Wurm setzte sich zum Ofen und schaute in die Petroleumlampe. Diese zwei einfachen Leute pflegten so beim Tee oftmals ihre Gedanken über den Gang der Welt auszutauschen. Heute schien ihnen dieses Zusammensein ganz besonders innig, denn sie dachten daran, daß die übrigen jetzt der Frau den Hof machten.

»Wer hätte es gedacht,« meinte Wurm, »noch vor einem Monat lebten wir wie die Tiere.«

Da der Russe nicht antwortete, legte er seine Beine auf einen andern Stuhl und fügte ohne Uebergang hinzu:

»Dieser Richter verdient das Mädchen nicht.«

Der Russe gab noch immer keine Antwort. Seine tief dunklen Augen blickten auf die Wand und seine Stirne zog sich in ernste Falten.

»Er verdient sie nicht,« fuhr Wurm fort, »glauben Sie es mir, Herr Toganow. Ich habe gestern im Bett einen Roman gelesen; darin steht, ein Mann habe seine Braut geküßt, im geheimen, damit sie niemand sehe.

Ein wunderschöner Roman. Ich habe mir vorgestellt, daß – könnte ich Jolan einmal so küssen, daß niemand es sehen würde, und sie nichts dagegen hätte … es würde so herrlich sein, Herr Toganow.«

Auf dem kleinen Ofen prasselte unruhig der Samowar. Das Wasser begann jetzt zu sieden. Wurm schaute hin, fuhr aber fort, zu reden, jetzt etwas leiser:

»Ich liebe noch immer dieses Mädchen. Ich habe es Ihnen immer gesagt, Herr Toganow. Ich fange an zu bemerken, Richter sei nicht einmal sehr verliebt. Ich aber habe keine Hoffnung und könnte ein Mädchen nicht mehr zur Frau nehmen, das …«

Das Wasser kochte. Toganow schüttete den vorbereiteten Löffel Tee hinein.

Jetzt erst öffnete er den Mund.

»Reichen Sie mir die Schalen her,« sagte er.

Wurm wußte schon, wo die Schalen standen. Er stellte sie auf den Sessel neben den Ofen.

»Sie sind noch immer verliebt?« fragte darauf Toganow, ohne irgend welches Interesse. Dann fügte er ganz gleichgültig hinzu:

»Gehen Sie zur gnädigen Frau hinauf, vielleicht verlieben Sie sich in sie?«

Wurm goß den Tee ein, indem er sagte:

»Sie haben recht. Ich aber bin ein Dummkopf.«

Der Duft des guten russischen Tees breitete sich aus. Sie fingen an zu löffeln. Wurm blickte in das Gesicht Toganows, dann fragte er unerwartet:

»Und Sie, warum sind Sie nicht heute beim Konzert?«

Unter sich nannten sie die Zusammenkünfte nach dem Nachtmahl höhnisch Konzerte.

Toganow zuckte die Schultern. Dann legte er die Schale nieder und sah den Rechnungsführer scharf an:

»Ich gebe auf mich acht.«

»Das ist nicht möglich,« sagte Wurm ruhig.

»Ich werde Ihnen also beweisen, daß es möglich ist. Niemals gehe ich mehr abends hinauf. Nie schaue ich mehr die Frau an. Ich werde auch nicht auf die Gasse gehen, wenn ich weiß, daß sie draußen spaziert.«

Das sagte er schon in einem tiefernsten Tone, doch konnte er sich nicht mehr beherrschen. Er erhob sich, steckte die Hände in die Hosentaschen und fing an im Zimmer auf- und abzugehen.

»Sie bleibt ja nicht lange hier. Solange sie aber hier weilt, wird sie mich nicht sehen. Mich wird sie mit diesen Liedern und mit ihren Augen nicht zum Narren machen. Ich lasse mich nicht. Ich bin ein armer Mensch. Sie soll mich in Ruhe lassen.«

Er fühlte sich sehr einsam in diesem Augenblick, hier in der Mitte Europas, unter den vielen Fremden. Er gedachte seines Vaters, welcher in einem Dorfe bei Odessa Krämer war.

»Ich fahre nach Hause,« sagte er in einem schmerzlichen, doch trotzigen Tone.

Wurm schlürfte seinen Tee aus. Ein bißchen fürchtete er sich vor diesem finstern Russen. Er glaubte, Toganow sei ein Nihilist. Wenn Toganow so plötzlich ausbrach, wagte er nicht zu widersprechen. Er beschwichtigte ihn:

»Setzen Sie sich, Toganow. Ihr Tee kühlt aus.«

»Ich werde nach Hause fahren,« sagte dieser hartnäckig, »ich habe schon seit zwei Jahren meinen Vater nicht gesehen.«

Ueber weite Strecken flog seine Seele nach Südrußland. Eine große Bitterkeit befiel ihn. Er setzte sich nieder und trank stillschweigend seinen Tee aus. Dann, als er die Pfeife wieder in den Mund steckte, sagte er in dem vorigen Tone:

»Mich soll sie in Ruh lassen.«

Das bezog sich auf die fremde Frau. Wurm, der die Handelsschule in Pest absolviert hatte und sich deshalb für sehr gescheit hielt, verteidigte sich:

»Legen Sie sich nieder, Herr Toganow. Sie sind heute sehr aufgeregt.«

Leise entgegnete Toganow:

»Ich werde mich nicht niederlegen. Ich bleibe bis morgen früh auf.«

Wurm sagte kein Wort. Eine Weile noch rauchte er, darauf empfahl er sich und ging schlafen, nach rückwärts, in das jenseitige Eck des Hofes. Toganow blieb stumm, erwiderte auch nicht den Gruß. Er saß unbeweglich neben dem Ofen, sog an seiner Pfeife und starrte auf einen Punkt an der dunklen Wand. Die Stube war erfüllt mit Rauch und der kleine Ofen strömte eine höllische Hitze aus. Er war glühend rot. Es war eine Nacht zum Wachen.

Wurm entkleidete sich, blies die Kerze aus und kroch mit einem tiefen Seufzer unter die Decke. So tat er es immer. Dann murmelte er halblaut, was er vordem nicht gewagt, aber gerne gesagt hätte:

»Sie sind verliebt, Herr Toganow.«


 << zurück weiter >>