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XVI.

Im Hause des Staatsbeamten aber waren alle Fenster verhängt. Auch die Umgebung war still, denn der ganze Lärm des Streiks verlief am oberen Ende des Dorfes. Dort war das Hauptquartier, hier unten herrschte Ruhe, und nur zuweilen sah man eine kleine lustwandelnde Gruppe.

Und auch drinnen im Hause war ein großes Schweigen. Manchmal fing einer an zu sprechen, aber man hörte ihn kaum. Man hatte alle nutzbaren Stühle in die rauchgeschwängerte, ungesellige Kanzlei des Beamten geschleppt. Dort saß nun das ganze Haus. Dort saß auch der Doktor, neben ihm der kleine Wurm, der den Doktor seit Mitternacht, als man ihn ins Direktionsgebäude einschließen wollte, nicht verlassen hatte. Damals hatte der kleine Wurm plötzlich eine solche Kraft in sich gespürt, daß er das Tor aus den Angeln hob, und – ohne zu sehen, noch zu hören – mit dem Doktor zu den Csenkes gerannt war.

Heute gab es kein Fliehen und keine Erregung mehr im Hause. Sie hatten die Hoffnung, daß irgend eine Medizin dem Fräulein Jolan helfen könnte, schon aufgegeben. Stumm saßen sie in der Kanzlei und warteten. Sie hatten nicht den Mut dazu, das, was sie erwarten mußten, zu denken, und doch erwarteten sie es. Mittags aßen sie ein wenig. Nur Wurm rührte nichts an. Der kleine jüdische Rechnungsführer war von der zweitägigen Aufregung ganz abgemagert. Seine Augen waren eingefallen, sein Haar zerzaust, und seit zwei Nächten schon hatte er die Kleider nicht abgelegt … Auch den Nachmittag verbrachten sie regungslos in schläfriger Ruhe. Bisweilen kam Tante Csenke herunter zu ihnen. Sie nickte nur mit dem Kopf, sprach aber kein Wort. Dann kehrte sie nach wenigen Minuten Ruhe wieder zurück.

So gegen 5 Uhr ging der Doktor zum letztenmal hinauf. Man schonte die süße, arme kleine Jolan nicht. Die Bettdecke auf ihrem schwachen Körper wurde gehoben, und der Doktor fühlte ihren Fuß.

»Kalt, sehr kalt,« sagte er.

Dann hob er die Decke von ihrer Brust. Er legte das Ohr an die Stelle des Herzens und sagte:

»Der Herzschlag wird schwächer.«

Darauf hüllte er sie wieder zu, Tante Csenke aber legte die Decke wieder schön zurecht. Als fürchtete sie, das Mädchen würde sich erkälten. Dann schaute sie auf Jolans Gesicht. Die Arme atmete bewußtlos, mit geschlossenen Augen, langsam, tief, sehr leise. Sie sahen es, und Tante Csenke brach plötzlich wieder in Tränen aus, heute vielleicht schon zum hundertsten Mal. Der Doktor gab sich keine Mühe, sie zu trösten.

»Jolika, Jolika,« weinte sie, »süße, schöne, kleine Jolika.«

Dann trocknete sie sich die Augen und erzählte mit einem schmerzlichen Lächeln:

»Gestern hat sie noch sagen können: ›Liebe Tante Karolin', bringen Sie mir meine Blumen her, ich möchte sie gern riechen.‹ Ich holte sie ihr, und die Heilige hat sich gefreut.«

Wieder befiel sie ein Weinkrampf. Der Doktor schwieg. Und in der großen Stille hörte man, wie Onkel Csenke vor der Tür flüsterte:

»Da hinauf belieben – da –«

Leise ging die Tür, und Eva kam herein. Auf den Fußspitzen ging sie langsam auf Tante Csenke zu und küßte sie. Den Doktor grüßte sie mit einer kaum merklichen ernsten Kopfneigung. Sie fühlte, man dürfe nicht mehr fragen, ob es der Kranken besser gehe. Bescheiden und ernst stellt man sich hin zu den andern, schweigt, wartet und nickt mit dem Kopf, wenn etwas von Jolan erzählt wird, was sie gestern oder vorgestern gesagt; unbedeutende, kleine Ereignisse, deren Hauptreiz und einziger Wert darin besteht, daß Jolan damals noch lebte und sprach. So wird beim Nahen des Todes alles wertvoll, was mit dem Sterbenden zusammenhängt.

»Gehen wir hinunter,« flüsterte Onkel Csenke, und darauf begaben sich alle ins Erdgeschoß; nur Tante Csenke blieb oben. Sie hatten aber noch nicht die Mitte der Treppe erreicht, als ein entsetzliches, wehklagendes Schluchzen die bange Stille des Hauses unterbrach. Alle liefen zurück, und unter ihren Schritten knarrte die Holztreppe fürchterlich. Auch die in der Kanzlei waren, rannten hinauf.

Drin, neben dem Bett, schrie Tante Csenke und hatte ihren ergrauten Kopf auf die Füße Jolans gestützt.

»Sie ist gestorben, gestorben!« jammerte sie und sagte an das zwanzigste Mal: »Sie hat den Kopf erhoben, sich umgeschaut und ist gestorben. Keinen Laut hat sie, von sich gegeben!«

Der Doktor untersuchte sie eingehend. Seine große Liebe offenbarte sich darin, daß er sie genau untersuchte. Er forderte sehr viele Beweise von der armen Jolan dafür, daß sie nicht mehr lebe. Und als alle Methoden klar und mit der in den Lehrbüchern vorgeschriebenen Pünktlichkeit zeigten, daß Jolan aus dem Leben geschieden war, weinte schon jeder. Das Haus widerhallte von Wehklagen, von gedehntem Männergebrüll und Frauenschreien, und man hörte, wie Tante Csenke unter vielen Tränen laut aufschluchzend ununterbrochen jammerte:

»Sie hat kein Wort gesagt – kein einziges Wort! Sie hat sich umgeschaut und ist gestorben, und hat kein Wort gesagt!«

Man mußte sie herunterführen und gab ihr Kognak. Die Herren tranken ebenfalls, und Onkel Csenke zog den Doktor in eine Ecke, und fing nun an, mit ihm wegen des Begängnisses zu sprechen, leise, mit trocknem Ernste.

Die Tote blieb allein im Zimmer. Durch den weißen Fenstervorhang sickerte das Licht der Abendsonne. Die kleine Blume stand dort am Fensterbrett und blickte auf die Leiche, wie damals, als sie sich küßten und das Mädchen auf den Herzschlag ihres Bräutigams gehorcht hatte. Das war vor langer Zeit.

Und wieder öffnete sich die Tür, leise verstohlen. Ein abgehärmter, elender, kleiner Jude kam herein, – Wurm. Er wankte ans Bett, kniete nieder und ergriff die Hand Jolans. Er küßte sie zärtlich, höflich. Und das Herz tat diesem armen Menschen so närrisch weh, daß er leise, zitternd zu der Toten sprach:

»Sie haben mich nicht geliebt, Jolanka, liebe Jolanka, Jolika, Jolko!«

Dann ging er rasch hinaus, weil er nicht wußte, was er tun solle. Er wollte das Haus verlassen. Und es kam ihm gelegen, als ihn der Doktor bat, in Angelegenheit des Begräbnisses zum Pfarrer zu gehen. Doch war sein Herz so schwer, daß er nicht einmal wußte, was er sprach.

»Gehen Sie aufs Pfarramt,« erklärte man ihm, worauf er blödsinnig, fast furchtsam, ängstlich und beinahe verzweifelt fragte: »Schadet es nichts, daß ich ein Jude bin?«


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