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Im Telegraphenamte zu Schemnitz war am nächsten Tage in der Früh die erste Depesche diejenige, welche die Forderungen der Arbeiter den Aktionären kund tat und dringend um Antwort bat.
Und im Dorfe herrschte Ruhe.
Als ob es Sonntag gewesen wäre. Noch mehr: als feierte man ein großes Fest, an dem man nicht nur ruhen, sondern sich auch freuen müßte. Sogar das Pochwerk feierte, und doch hatte es schon seit Jahren keine halbe Stunde geruht. Auf der Gasse lustwandelten kleinere und größere Gruppen im Sonnenschein, das Wirtshaus war gefüllt mit Gästen.
Der Ritter hatte die ganze Nacht hindurch die Kleider nicht abgetan. Er war ganz gebrochen, man konnte es an seinem Gesicht, an seinen Augen und seiner Haltung sehen, daß ihn das große Ungemach sehr mitgenommen habe. Und nebenbei mußte er auch das chemische Laboratorium schließen, denn der Chemiker, den er telegraphisch an die Stelle Toganows berufen, war nicht gekommen. Teure Mixturen gingen zugrunde, wichtige chemische Arbeiten stockten, sodaß man alles von neuem beginnen mußte. Ihm selbst fehlte die nötige Ruhe, um diese Arbeiten fortzusetzen. Und als er von so vielen Mißlichkeiten gequält unten in dem großen, abgenützten Lehnstuhl der Kanzlei saß, hätte er beinahe weinen mögen. Sein großes, wohldurchdachtes, prächtig angehendes Werk war zertrümmert … Es gibt keine Eintracht unter den Menschen, sie töten einander, verlassen einander.
Die Bergleute arbeiteten nicht. Seine Seele zermarterte die tiefe Bitternis, die nur diejenigen empfinden, denen schon ein schöner, großer Wert in die Brüche gegangen ist.
Er saß dort im Lehnstuhl, rauchte seine Zigarre, und oben lag Eva, sorgsam gehütet, im tiefen Morgenschlaf. Der Diener putzte draußen auf dem Gang ihre Stiefelchen, die Zofe aber bürstete das Kleid. Sie sprachen im Flüsterton, und wer sie nicht hörte, nur sah, hätte geglaubt, sie bewachten eine mächtige Königin und behüteten mit verliebter Anbetung ihre Schuhe und ihr Kleid. Die Zofe hatte die Kleider der Reihe nach vom Haken genommen, und jetzt fuhr sie mit der Bürste über den Schoß. Es war dies ein wunderbar farbiges, prächtiges Seidenstück voll Spitzen, rauschender zierlicher Krausen. Die Seide war so gesponnen, daß, wenn die Sonnenstrahlen von einer bestimmten Seite auf das Kleid fielen, es wie Gold glitzerte. Das Mädchen betete dieses Kleidungsstück förmlich an, und jeden Morgen überkam sie eine Erregung bei dem Gedanken, es würde einmal ihr gehören. Auch heute, als es auf dem Nagel hing, zog sie das eine Ende zur Seite, worauf die Pracht des in mannigfachen Farben schillernden Jupons auf der sonnigen Wand sichtbar wurde. Sie schaute es fast mit Andacht an. Ein feines Kleid können in Wahrheit nur Dienstboten würdigen … Der Diener kniete vor dem Kleid, während er die Schuhe putzte. So war die Gruppe vor der Tür der schlafenden Königin am Morgen des Streiks.
Das war im Stockwerk.
Im Erdgeschoß aber, wo der Ritter allein saß und wartete, klopfte jemand furchtsam an die Tür. Der arme Direktor sagte nicht einmal »herein«. Am liebsten hätte er gesagt: »Was kümmert's mich, gehet, kommet, mir ist schon alles gleichgültig.«
Der Gast kam freilich auch ohne Bescheid herein.
»Sie sind es, Herr Gastwirt?«
Er war es. Der dicke Wirt des Kasinos. Im Staatsgewand, als streike er ebenfalls. Der Direktor liebte diesen ewig lamentierenden Menschen nicht sonderlich. Nur von obenhin, ohne Interesse, fragte er ihn:
»Was wünschen Sie?«
Dieser drehte seinen Hut in den Händen und rückte mit der wichtigen Antwort heraus:
»Bitte also, gnädiger Herr Direktor, auch ich habe gepackt. Wir gehen nämlich nach Pest.«
Darauf sah ihn der Direktor ernst an.
»Also, Sie reisen ebenfalls?«
»Was soll ich tun, bitte,« jammerte der Arme. »Seit Wochen kommt kaum jemand ins Kasino. Herr Toganow ist abgereist, der Herr Direktor essen zu Hause, Herr Richter ist krank, die anderen Herren aber kommen niemals. Sie sind entweder geladen oder nicht, aber zu mir kommen sie nicht. Bitte, ich sitze drin in der Patsche. Ich hab's mit meiner Frau besprochen; was Geld verloren gegangen, das hole der Teufel. Jetzt geh' ich nach Pest. Ich werde Oberkellner.«
Er tat diesen Ausspruch mit jener Melancholie, mit der die Leute, welche die Selbstständigkeit zugrunde gerichtet hat, zu ihrem früheren Handwerk zurückkehren. Das ist eine besondere Tragik: die Tragik der Selbstständigkeit.
»Nun denn, mein lieber Freund,« sagte der Ritter, indem er sich erhob, »ich halte Sie mit keinem Worte zurück. Gehen Sie nach Pest, wenn Sie hier nicht leben können. Ich kann für Sie nichts tun. Hat die Sache diese Wendung genommen, so muß man sich drein fügen.«
Er weinte beinahe, daß die Sache »diese Wendung genommen hatte.« Er fühlte, sie habe eine Wendung genommen, daß sich alles von unterst zu oberst kehrte. Alles, alles … Auch, dieser arme Ofner Schwabe war zugrunde gegangen!
»Gehen Sie, Gott segne Sie …«
Der Gastwirt liebte den Ritter sehr und jetzt bedauerte er ihn auch. Er blickte ihn teilnahmsvoll an:
»Sie sehen schlecht aus!«
Er meinte damit eine Pflicht erfüllt zu haben. Der Ritter reichte ihm die Hand und fuhr mit der anderen durch die Luft, von oben nach unten, den Kopf auf die andere Seite gewendet. Er wollte damit ausdrücken: »Die ganze Geschichte sieht schlecht aus.«
Dann, nachdem der Schwabe den Segen Gottes auf sein Haupt erfleht hatte und hinausgewatschelt war, setzte sich der Ritter wieder in den Lehnstuhl zurück und starrte weiter vor sich hin, mit fast wildem Blick. In diesem Augenblick dachte er an sehr viele Dinge.
Er war schon so nervös geworden, daß er beinahe in die Höhe fuhr, als durch die Stille des Hauses eine frische, muntere Frauenstimme klang, ungeduldig, doch im herrischen Gebietertone: