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Der Doktor täuschte sich sehr, als er annahm, daß er vielleicht bei einem Duell werde assistieren müssen. Der Tag verstrich und kein Mensch war bei ihm erschienen. Ritter von Sterk, dem das Zerwürfnis zu Ohren gekommen, war ein taktvoller Mann und wollte kein ungebetener Friedensstifter sein. Der Zwist hatte ihn zwar unangenehm berührt, doch nahm er sich vor, nichts zu tun, bis eine der Parteien ihm die Sache anzeigen würde. Bis dahin hatte er Zeit, sich ins Mittel zu legen. Besonders kränkte ihn der Umstand, daß die beiden wegen der Frau in Streit geraten waren.
Aber keiner ließ etwas verlauten. Er fing an zu glauben, sie hätten Vernunft angenommen und die Torheiten eines Zweikampfes in dieses kleine Nest nicht mitgebracht. Am folgenden Abend aber konnte er sich nicht mehr zurückhalten und ließ seinen Vertrauensmann Vertes zu sich kommen.
»Wie steht's mit den beiden?«
Vertes, der kleine Wichtigtuer, trug erst die Angelegenheit vor, wie sie sich im Speisesaal des Kasinos zugetragen hatte. Zuletzt mußte er doch eingestehen, er habe von nichts anderem Kenntnis. Die vierundzwanzig Stunden waren vergangen. Niemand hatte man zum Sekundanten aufgefordert.
Daraus wurde der Direktor nicht klug. Er ging unruhig zu Bett. Er konnte nicht annehmen, daß dieser streitsüchtige Richter so was verschluckt hätte.
Richter hatte auch nichts hinuntergeschluckt. Die jungen Leute hatten die Angelegenheit nur nach ihrem Geschmack erledigt.
Richter war an demselben Nachmittag hinunter in den großen Schacht gegangen. Es war ungefähr fünf Uhr, als man anfing zu sprengen. Wie er in den untersten Stollen geht, ergreift ein laufender Arbeiter seinen Arm und reißt ihn mit.
»Es wird gesprengt.«
Auch er lief und setzte sich in eine halbkreisförmige Nachbarhöhle, um die Sprengung abzuwarten. Dort hatten sich schon an zwanzig Bergleute angesammelt. Sie hockten auf den Steinen, rauchten ihre Pfeifen und hatten die Grubenlampen vor sich auf die Erde gestellt. Die kleine Höhlung war alsbald mit Rauch erfüllt, der schlechte Tabak biß in die Augen. Alle schwiegen und horchten, und da konnte man in der tiefen Stille vernehmen, wie unten, oben, ringsum auf allen Seiten die Arbeiter hämmerten. Durch die dicken Felsenwände hörte man hunderte und hunderte von leisen Schlägen, unordentlich, bald langsamer, bald in verschärftem Rhythmus. Plötzlich rollte ein dumpfer Donner ohne Widerhall durch die Stille. Ein im Stein erstickter, heftiger Schall. Gleich danach ein zweiter, weniger starker Knall. Dann kam der Schwefelrauch, sie hüstelten und rieben sich die Augen. Und sofort verteilten sie sich nach allen Richtungen.
Richter blieb allein in der jetzt schon finsteren Höhle, in deren Seitengängen die gelben Lichter und die Menschenstimmen allmählich erloschen. Es wurde wieder still, abermals hörte man das unendlich leise Hämmern – wie wenn furchtsame Vögel auf irgendeine starke Fensterscheibe klopften.
Er kannte den Weg und schritt auf einen Gang zu, um zum Fahrstuhl zu gelangen. Er ging noch am Anfang des Ganges, mißmutig, zusammengeduckt, damit das Wasser nicht in seinen Nacken tropfte, wartend in dem schmatzenden Kot, als er weit in der Ferne einen zitternden Lichtschein gewahrte. In dieser Gegend arbeitete man schon seit Monaten nicht, und er dachte gleich an irgendeinen Diebstahl.
Er war eben im Begriff, seine Lampe auszulöschen, um die geheimnisvolle Gestalt belauschen zu können, da bemerkte er, daß der Lichtpunkt immer näher komme. Richter beschleunigte seinen Schritt, aber schon in der Mitte des Ganges erkannte er die sich nähernde Gestalt.
Es war Bajtzar.
Im ersten Augenblick wußte er nicht: sollte er wortlos an ihm vorübergehen oder sollte er tun, als habe er Eile und ohne hinzublicken sagen:
»Glück auf!«
Doch hätte es schwer gehalten, hier unter der Erde, an einem so einsamen Orte an jemand vorbeizuschreiten, als bemerkte man ihn nicht. Er hatte aber auch keine Zeit, lange nachzudenken, denn schon stand Bajtzar vor ihm.
»Herr Richter,« sagte er ohne jede Einleitung, »es trifft sich gut, daß wir uns begegnen.«
»Ich stehe Ihnen zur Verfügung,« sagte Richter ernst, mit einer leichten Verbeugung.
Sie blickten sich seltsam an. Der Rock des stets eleganten, europäischen Bajtzar war schmutzig, kotig und er mußte irgendwo tief in den Bergletten gesunken sein, denn der Kot reichte ihm bis zum Schenkel. Man sah nicht einmal, wo sein Stiefel endigte.
»Herr Richter,« hub er an, »wir könnten die Sache noch ein wenig verziehen, das hat aber keinen Wert. Entweder Sie oder ich.«
Richter schwieg. Er wartete auf die Fortsetzung.
»Hier,« sprach Bajtzar weiter, »kann, glaube ich, von einer Etikette nicht die Rede sein. Hol' der Henker das Duell. Ich biete den Dummköpfen nicht gerne Gelegenheit, den Ehrenmann zu spielen. Ich brauche keinen Sekundanten. Ich fühle, daß wir einander die größten Feinde sind. Reden wir offen: Sind Sie verliebt?«
»Ja.«
»In die Frau?«
Tief unten, siebenhundert Meter unter der Erde, fiel bei dem Scheine zweier Grubenlampen das Wort. Der Bräutigam hatte gesagt, er sei in eine andere Frau verliebt. Und schon bebte, glühte er vor Wut. Erregt schwang er die Lampe.
Bajtzar kam noch näher an ihn heran.
»Nun, auch ich bin verliebt. Und entweder Sie oder ich!«
Das sagte er schon zum zweitenmal, aber in einem anderen Tone, mit erhobener Stimme, fast kreischend.
Richter brüllte:
»Was wollen Sie von mir?«
Das gab keinen Widerhall. Dieses tierische Gebrüll blieb dort stecken, eingefangen von dem Bergletten, dem Kot, von der ungeheuer riesigen Erdmasse, die über ihnen lag, mit Häusern, Menschen und unter dem Schnee schlummernden Pflänzchen auf ihrem Rücken.
»Haben Sie Ihren Revolver bei sich?«
»Nein.«
»Nun, ich habe einen. Hier weiter oben stellen wir uns auf. Wir losen. Einer von uns schießt zuerst; trifft er, dann gut, wenn nicht, stellt er sich vor die Pistole des andern.«
Es kam ihnen gar nicht in den Sinn, sie könnten einen andern, nennenswerten Rivalen haben. Sie sahen nur sich. Der Bräutigam fühlte, daß er jetzt keine Verlobte mehr habe, und daß es sich entscheiden müsse, entweder die Frau oder der Tod … Der andere aber sah, daß dieser Mensch sehr verliebt sein müsse, wenn er soviel opfert.
Mit kleinen Steinchen zogen sie das Los. Bajtzar hatte den ersten Schuß. Sie gingen auf ihre Plätze, jeder hielt seine Lampe in der Hand.
Das Blut pochte in ihren Schläfen. Daran dachten sie nicht, daß – wenn einer stürbe – der andere ins Gefängnis käme.
Bajtzar drückte los und schoß in den Arm Richters. Der kleine Deutsche schrie auf, dann sagte er, beinahe heulend in seinem Schmerz: »Der Arm ist gebrochen. Ich komme.«
Bajtzar reichte ihm die Pistole. Und Richter zielte grausam lange. Er kümmerte sich um seinen linken Arm nicht, mußte aber zweimal den Revolver sinken lassen, so sehr schmerzte ihn der zerschossene Arm. Dann zielte er von neuem, und in der großen Stille konnte man seinen durch die zusammengesetzten Zähne ausgestoßenen tiefen Atem hören.
Er schoß, traf aber nicht. Er warf die Pistole auf die Erde, kehrte sich um und lenkte seine Schritte wieder dem Fahrstuhle zu. Er sagte nur:
»Das nutzt nichts. Was haben wir damit erreicht?«
Dann zuckte er vor Schmerz zusammen. Im Fortgehen murmelte er:
»Schweinerei!«
Und er ging weiter. Immer ferner sah man den Schein seiner Lampe, zitternd und unsicher. Zuletzt war nur ein kleiner Lichtpunkt in der grenzenlosen Finsternis sichtbar. Bajtzar hob die Pistole auf und schämte sich, der Urheber dieses verrückten, romantischen Zweikampfes gewesen zu sein. Er fühlte, daß ihn dieser junge Mann übertrumpft habe. Er hatte sich vor seine Pistole gewagt und jetzt trägt er seinen zerschmetterten Arm, wie irgendeine ziemlich schwere, ein wenig unangenehme, aber darum nicht bedeutende Bürde. Er verließ den Ort in der entgegengesetzten Richtung ebenfalls. Auf die zwei Schüsse war niemand hervorgekommen.
Den ganzen Vormittag hindurch krachte in den Gruben das Dynamit. Das ist hier keine Neuigkeit.
Die Entfernung zwischen den beiden Lichtpunkten auf diesem meilenweiten, bis zum benachbarten Dorf führenden engen Gang wurde immer größer. Nur die Finsternis blieb zurück, eine unmeßbar schwarze, lichtlose Nacht. Und wenn nun jemand dortgeblieben wäre, wo sie einander gegenübergestanden, dann hätte er das schüchterne, schwache Klopfen vernehmen können, von unten und oben, rechts und links, bald in verschärftem Rhythmus, bald erschlaffend, doch ununterbrochen, ewig, wie es vielleicht schon seit zweitausend Jahren tönt.