Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Das Feuer knisterte, summte im Kamin und die rötlichen Strahlen der Morgensonne huschten über den Schreibtisch. Der Direktor saß in seinem Lehnstuhle und rauchte englische Zigaretten. Den Kopf hatte er ein wenig hintenüber geneigt und in dieser Morgenfrische überkam ihn ein glückseliges Gefühl. Alles in der reinlichen, kleinen Kanzlei atmete Heiterkeit und Ruhe. In den großen Büchern lagen stille, ehrsame, positive Zahlen aufeinander; die aus dem langen Regal aufgereihten erzhaltigen Steine hatte man gar nicht wählen müssen, gerne gab die Erde das Silber, gewiß will sie es nicht. Der Rauch der Zigarette mischte sich angenehm mit dem kaum wahrnehmbaren Geruch, den das Einheizen in früher Morgenstunde bedingt. Auf allem lag schon die angenehme Erregung, welche die Ankunft des sehnsüchtig erwarteten Gastes verursachte
Draußen gingen die Laboranten und die Schreiber auf den Fußspitzen. Welch ein Glück!
»Pst«, bedeutete einer dem anderen. »Still, die Königin ruht.«
»Still, die Eva schläft« …
– Still, die Eva schläft. – …
In der Tat schlief oben im Zimmer neben der Kanzlei Eva, die – nach Gott weiß wieviel Stunden Fahrt – in der Morgendämmerung endlich angekommen war; von der Station aus war sie nach der Stadt und von hier ins Dorf gefahren. Die Aermste hatte nur um ein wenig Milch gebeten; dies hatte sie wie ein Kätzchen ausgeschlürft, dann hatte sie plötzlich den Ritter und ihren Diener aus der Stube getrieben, hatte sich ausgezogen und ins Bett gelegt. Es muß ein hohes Gefühl sein, nach so anhaltender Erschütterung ohne jeden Rhythmus liegen zu können.
Die Vorhänge an ihrem Fenster waren herabgelassen. Natürlich kannten alle schon seit Tagen diese Fenster; all wußten es, daß Eva durch dieses Fenster Luft und Licht bekäme. Und jetzt schritten sie davor vorbei, raunten einander etwas ins Ohr, warteten, gingen unruhig hin und her.
In der Kanzlei erschienen alle festlich angetan. Eine Ausnahme bildete nur der kleine Richter, der – man weiß nicht, warum –, auf das Weib schon zornig war. Er demonstrierte. Er hatte justament den schwarzen Rock nicht angezogen. Nebenbei war Richter Sozialist, von jener Sorte, welche die Welt noch heute mit Blut, Eisen und Feuer bessern wollen und beinahe wütend werden, wenn eine ihrer Forderungen ohne Rauferei erfüllt wird.
Er feierte nicht.
Herr Toganow, ein Chemiker aus Rußland, trug seinen schwarzen Anzug. Er mochte niemals, in keiner Beziehung von den andern unterschieden sein. Er konnte die lästigen Elemente nicht ausstehen, verabscheute die Streber, liebte die Genies und die Leute ohne diplomatischen Sinn nicht.
Als erster meldete sich Herr Bajtzar, der zweite Ingenieur, beim Direktor. Er klopfte an.
»Herein!«
Er steckte gerade nur den Kopf durch die Tür.
»Ist die gnädige Frau schon angelangt?«
»Ja.«
»Schläft sie?«
Jetzt hatten sich schon mehrere um ihn gesammelt, ganz hinten, der Russe. Nur Richter blieb ruhig an seinem Tische sitzen. Danach tat Bajtzar die Türe zu und erklärte mit höchst wichtiger Miene, was ohnehin schon jeder wußte:
»Sie schläft!«
Sie setzten sich wieder auf ihre Plätze und sprachen den Vormittag nur wenig. Offen gestanden, hegten sie im Grunde ihrer Seele die Hoffnung, man würde sie zu Mittag einladen. Der Direktor aber kam nicht einmal zu ihnen heraus. Er blieb drin in seiner Kanzlei, rauchte Zigaretten und freute sich seines Lebens. Dann und wann erhob er sich, ging auf den Gang hinaus, legte sein Ohr horchend an die Tür des Schlafzimmers. Das Weib schlief, atmete tief, und darauf ging der Ritter ins Arbeitskabinett zurück; er machte behutsam die Türe zu und war glücklich. Er behütete diese schöne junge Frau, als ob sie seine Tochter wäre.
Ihm gefiel seine Rolle: er sollte es trösten, pflegen und unterhalten, dieses Frauenzimmer, das man auch unglücklich nennen konnte, weil es erst sechsundzwanzig Jahre alt und schon weder Mädchen, noch Frau, noch Wittib, nur ein schönes zartes Weib war, dem jeder Salonheld auflauert, sobald er erfährt, sie sei von ihrem Manne geschieden. Hätte er sich nicht geschämt, wäre er sogar hineingegangen, um nachzuschauen: ob sie ruhig schliefe, ob das Zimmer geheizt sei, so wenig sah er in Eva die Frau, nur das arme, geschlagene, vertriebene Kind.
Gegen Mittag wurde es lebendig um das Haus. Der Direktor legte die Zeitung nieder und ging, die Hände in den Hosentaschen, zum Fenster. So blickte er auf den finstern Schlund des Schachtes, wie er die Arbeiter der Morgenschicht ausschüttete. Auch die Glocke des Maschinenhauses ertönte, sie rief die draußen arbeitenden Leute. Drinnen im Bergwerk durchzog das Gebrüll des Hornes die Höhlen, draußen strahlte die Sonne, es war Mittag ein süßer, goldener Wintertag, voll Sonnenschein, voll Glück.
Auf dem kleinen Platz bewegte sich schon ein ganzer Schwarm von Menschen. Sie löschten die Lämpchen aus und gingen nach Hause. Einige blieben noch und warteten auf den Zug. Einige Augenblicke verstrichen, dann langte auch dieser an. Fröhlich pustend lief aus dem Schachte die winzige Spiellokomotive, ließ in der freien Luft einen scharfen Pfiff hören, wie ein schmieriger, russischer Gassenbursche, und nachdem sie sämtliche Grubenhunte hinter sich herausgezogen, blieb sie mit einemmal stehen, so gehorsam war sie. In den Hunten saßen Leute auf den Steinen, jetzt sprangen auch diese herunter und trotteten mit den übrigen heimwärts. Das Glöcklein im Maschinenhause läutete noch immer, der Ritter fürchtete beinahe, es könnte Eva aufwecken. Der Zugführer sprang von der Lokomotive herab, koppelte sie ab, und nachdem er das Pfeifchen nochmals hatte ertönen lassen, bog er mit ihr in das rotdachige Maschinenhaus ein.
Nun kamen auch die Beamten heraus, immer noch hoffend. Es kam aber niemand, niemand rief sie, und sie gingen ins Kasino speisen. Keiner sagte es, aber jeder fühlte, es wäre besser gewesen, mit der schönen, unbekannten Frau zu Mittag zu essen. Herr Vértes, der Ingenieur, sprach mit dem Diener, der die Frau gesehen hatte. Eigentlich nicht, denn sie war fest in ein großes Tuch eingehüllt gewesen. Aber was er von ihr gesehen, hatte ihm sehr gefallen. Sie hatte eine feine, vollkommen regelmäßige Nase. Das Auge war blau. Den Diener hatte sie sehr leutselig behandelt.
Sie nahmen diese Einzelheiten zur Kenntnis, verschlangen sie gierig und analysierten sie. Als sie sich um den langen weißen Tisch niedersetzten, sah Herr Bajtzar nochmals zum Fenster hinaus, ob der Diener nicht gelaufen käme: »Belieben zurückzukommen zu Tisch!«
Aber er kam nicht. Jetzt war es schon ganz sicher, daß sie hier speisen würden.
Und sie nahmen Platz. Die neuen Gewänder machten den Eindruck, als wäre es Sonntag, ja, der Gastwirt hatte in der Hoffnung, die Gnädige käme hierher, ein frisches Tischtuch aufgelegt. Zufällig gab es auch Suppe mit Karfiol – wie es nur des Sonntags vorzukommen pflegte –, so daß dieser gewöhnliche Donnerstag förmlich wie ein Sonntag wirkte. Wie denn auch alle unsere Festtage aus so kleinen Freuden zusammengesetzt sind.