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XII.

Doktor«, sagte er zu dem mürrischen Alten, »mein Arm ist zerschossen. Tun Sie damit, was Sie wollen, nur erzählen Sie niemandem, daß es von einer Kugel herkommt. Sagen Sie was anderes, zum Beispiel, daß er gebrochen ist. – Ist's recht?«

Der Doktor hatte noch nicht verstanden, um was es sich handelte, und schon herrschte ihn der bleiche blonde, junge Mann mit dem blutenden Arm an:

»Ist's recht?«

Der Doktor nickte:

»Ja.«

Darauf legte Richter seinen Rock, die Weste, das Hemd ab, reichte dem Doktor seinen Arm und schnitt dazu ein Gesicht, als ob er es mit einem Fleischhacker zu tun hätte. Der Doktor zog die Augenbrauen in die Höhe, schüttelte den Kopf, traute sich aber nicht nachzufragen. Dann begann er sogleich das Waschen und Verbinden: augenblicklich war das Zimmer mit Karbol, Jodoform und anderen medizinischen Düften erfüllt. In großen Tüllrollen wand sich das weiche, weiße Band um den Arm und der Doktor manipulierte, wusch, schaute durchs Mikroskop und erst, als der Arm verbunden war, hub er an zu sprechen:

»Gott sei Dank, die Kugel ist nicht darin; und hoffentlich auch kein Schmutz. Hoffen wirs. Sie haben ein verteufeltes Glück, Herr Richter.«

»Danke schön.«

»Wir tun den Arm in einen Gipsverband,« fuhr Doktor Timko zu sprechen fort, »und dann legen Sie sich nieder. Sie Glückskind.«

Richter lächelte.

»Oder eher unglücklich«, meinte fast zornig der Doktor, indem er den Tüllrest zurückwickelte.

»Wie man's nimmt.«

Eine Zeitlang schwiegen sie.

»Seitdem das Frauenzimmer hier ist, bin ich auf alles gefaßt«, beendete der Alte seine zornige Rede und warf die Tüllrolle grimmig in die Schublade.

Dann schrie er Richter an:

»Es wird am besten sein, Sie gehen nach Hause und legen sich nieder. Ich selbst werde sofort nachkommen. Ich muß erst zu den Csenkes hinunter.«

Das sagte er und schaute dabei Richter über die Brille an. Aus seiner Stimme spürte man den Vorwurf und die Betrübnis heraus. Richter fühlte sich unbehaglich. Er war gezwungen, Interesse zu heucheln:

»Geht ihr's sehr schlecht?«

Der Doktor fühlte, er habe recht grob zu werden. Er fragte streng:

»Sie fragen noch?«

Und da der Ingenieur nicht antwortete, setzte er in milderem Tone hinzu:

»Der Aermsten geht es sehr schlecht. Und dann mit ihrer schwachen Konstitution –.«

Er nahm Rock und Hut und ging hinaus, Richter folgte ihm langsam nach, wie ein gescholtener Knabe. Am Tore freute es ihn fast, daß der Doktor hinunterging, sein Weg aber hinaufführte. Um nur etwas zu sagen, fragte er:

»Sie kommen hernach zu mir, Herr Doktor?«

»Ja.«

Sie grüßten einander und jeder ging seines Weges.

Richter schlenderte auf dem Mittelwege, in der lauen, beinahe frühjahrsmäßigen Sonne. Er betrachtete die Radspur, welche der Wagen Toganows in dem Staube zurückgelassen hatte. Er mußte an dieses verliebte, große Menschenskind denken. »Armer Bursch, armer, guter Bursch,« dachte er. Doch im Geheimen fühlte er eine geringe Freude darüber, daß sich ihre Zahl verringert hatte. Dann warf er sich die Frage auf, ob er wohl die Kraft hätte, wegzureisen, wie Toganow weggegangen war. Er wußte es, nein. Er mußte sie besitzen. Ob durch Blut, Feuer, ob durch alle Höllen hindurch, – sie mußte sein werden!

Und wenn alles draufginge: das Leben, die Ehre, oder was weniger als dies: seine Stelle, seine Zukunft. Und müßte er jemand töten, auch dann.

Er schritt weiter aufwärts und der Gedanke versetzte ihn in Aufregung, daß sein Ziel unschwer zu erreichen sei. Es wird leicht halten, Bajtzar aus dem Sattel zu heben, denn dieser denkt gewiß an irgend eine vornehme Liaison nach Pariser Art. Ein so korrekter, eleganter Weltmann ist einer echten, wilden Liebe nicht fähig, wie er, der heißblütige Sozialist. Da kam ihm der Zweikampf in den Sinn. Einer, der ihm die Pistole in die Hand drücken konnte, und sich, wie Bajtzar, vor seine Kugel herauswagte, muß imstande sein, für den Sieg ein großes Opfer zu bringen.

Er schaute auf und schrak zusammen. Weither, jenseits der Straße, kam eine Frauengestalt auf ihn zugeschritten. Augenblicklich hatte er sie erkannt. Es war Eva. Sie trug eine lange, graue Jacke und man sah es ihr an, sie habe es eilig. Richter fühlte, wie seine Wangen allmählich dunkelrot wurden. Als sie sich einander genähert hatten, nahm der Ingenieur den Hut tief ab.

»Küß die Hände.«

Eva blieb nicht einmal stehen, nur auf einen Augenblick streckte sie ihm die Hand entgegen. Richter ergriff sie und küßte sie.

»Dummkopf!« sagte die Frau, und da bemerkte sie den verbundenen Arm des Ingenieurs. Sie blieb stehen.

»Was soll das bedeuten?«

In Richter jagten einander plötzlich sehr heftige Leidenschaften. Einen Augenblick zauderte er; sollte er ihr die Wahrheit gestehen, oder etwas vorlügen, wie vor dem Russen? Dann wurde er mit einem Male ernst und sagte in fast verbittertem, festen Ton:

»Er ist zerschossen – um Ihretwegen.«

Die Frau blickte ihn verwundert an. An dem wechselnden Schimmer ihrer weit aufgerissenen Augen konnte man wahrnehmen, in welchem Moment der Gedanke in ihrer Seele auftauchte: »Sieh, sie morden sich schon!« Das war aber nur ein kurzes Aufleuchten, aus Trotz, Eitelkeit und Schrecken zusammengetan. Richter sah ihr tief in die Augen und bei diesem Blitz überkam ihn ein Gefühl als loderte etwas in seinem Innern auf. Jetzt sagte er schon mit zitternder Stimme:

»Er hätte auch meinen Kopf oder mein Herz treffen können.«

Auf einen sehr kurzen Augenblick war er der Herr. Der Halbmärtyrer stand derjenigen gegenüber, für die er geblutet. Dieser Moment war aber auch für einen Augenblick zu kurz. Sogleich triumphierte die Frau und erhob stolz ihren Kopf. Richter wurde zahm. Ihn marterte das Bewußtsein, daß er der Frau auch damit nicht imponieren gekonnt hatte. Eva fragte ihn sehr gelassen:

»Und wer war der andere Bursch?«

»Bajtzar.«

»Ist ihm etwas geschehen?«

»Nichts.«

Sie blickten einander unverwandt in die Augen. Dann wandte Eva rasch ihren Blick von ihm ab und setzte ihren Weg fort. Sie sagte noch:

»Ich muß eilen. Schämen Sie sich.«

Verblüfft ließ sie den Märtyrer stehen. Die Sonne schien auf ihn und der Märtyrer schämte sich so sehr, daß er Lust verspürte, den verwundeten Arm, welcher ihm zu keiner ernsten Blutzeugenschaft verholfen hatte, von seinem Körper zu reißen. Dann drehte er sich gleichfalls um und eilte heimwärts. Vielleicht wußte er es selbst nicht, was er in diesem Augenblick fühlte.

Eva aber ging eiligen Schrittes hinunter. Nun empfand auch sie, daß sie der Mittelpunkt des Dorflebens geworden. Selbstbewußt und trotzig dachte sie daran und freute sich dessen. Es ereignete sich zufällig – ging es ihr durch den Sinn –, daß die aus Pest vertriebene Frau ein Land ohne König fand. Irgend ein nichtswürdiger Zufall hatte sie hierher geführt: vielleicht als Königin, oder als Göttin, hierher in dieses Nest, wohin kein Vogel geflogen kam. Sie hatte nicht den geringsten Ehrgeiz gehabt; sie war als Bettler hergekommen und wurde zum Herrscher gewählt. Sie wollte auf einem Strohsessel sitzen und der Sessel wurde zu einem güldenen, purpurnen Throne. Sie ballte die Hand und hatte die Empfindung, als hatte sie alles in ihrer Faust gefangen, als hänge alles von ihr ab. Wie wenn ein Splitter sich ins lebendige Fleisch einbohrt – ein unbedeutender, bescheidener Splitter, der nichts will und der doch Entzündung, Fieber verursacht, den Körper vor Schmerz aufschwellen läßt. Sie kann nichts dafür.

Sie begab sich, gleichwie der Doktor, zu den Csenkes. Man hatte sie ebenso gerufen, wie den Doktor. Vielleicht war sogar dasselbe Dienstmädchen der beiden gewesen. Und sie wußte wohl, warum das kranke Fräulein sie zu sich bat. Gerade jetzt war die Ursache – dieser schändliche, abtrünnige Geselle – vor ihr vorübergegangen. Dieser Bräutigam, der in eine andere verliebt war, dieser sich duellierende Narr. Der Teufel hole diesen halbverrückten Bräutigam der armen Jolan, dachte sie.

Onkel Csenke erwartete sie bereits am Tore. Man sah es ihm an, er hatte in der letzten Zeit nicht geschlafen. Er war blaß und um die Augen herum drängten sich tiefe Ringe.

»Liebe, gute, gnädige Frau!« rief er ihr entgegen, als er sie erblickte, »kommen Sie, kommen Sie!«

Er faßte sie unter und führte sie über die Treppe hinauf ins Stockwerk.

»Mit diesem großen Unglück hat uns Gott heimgesucht!« sagte er, dem Weinen nahe. »Wer hätte das geahnt, wer hätte das geahnt! So ein Schurke!«

Und die Worte strömten aus dem Munde des betrübten, redseligen, guten Mannes. Er war ganz aus der Fassung geraten. Alles hatte sich in seinem Hause verändert, und das war zu plötzlich gekommen. Diese großen, unangenehmen Veränderungen, dieses große Ungemach hatten seine in zwanzigjähriger Ruhe träumende Seele getrübt.

Sie waren oben angelangt. Jolan lag in einem hübschen, hellen Zimmerchen. An den Fenstern hingen weiße Vorhänge und auf dem Gesims standen dieselben bescheidenen Winterblümchen, die damals, als sie sich küßten, so neugierig dreingeschaut hatten. Als Jolan die Frau erblickte, schickte sie alle hinaus. Mit ihrer wachsbleichen Hand winkte sie, man möge sie mit der Frau allein lassen. Tante Csenke zog den Doktor mit sich fort. Onkel Csenke ging ihnen langsam nach. In großer Stille und tiefer Betrübnis vollzog sich dieser Auszug. Auch die Tür wurde in einer Weise zugetan, daß daraus in der anderen Stube nur ein gemeinsames, halb unterdrücktes Schluchzen folgen konnte. Das hätte besonders derjenige erraten, der das Antlitz der Tante Csenke sah. Sie pflegte leicht in Tränen auszubrechen, und während sie weinte, dachte sie absichtlich an die schmerzhaften Momente der traurigen Ereignisse. So brachte sie sich zum Weinen. Darum weinte sie stoßweise, fing aber immer wieder von neuem an.

Sie hatten die Türe hinter sich zugemacht, und Eva legte den Hut und die lange graue Jacke ab. Dann setzte sie sich ans Kopfende des Bettes und ergriff die Hand Jolans. Eine Stille trat ein, eine große, fast bange Stille. Eine Stimmung wie vor der Beichte herrschte im Zimmer. Die Frau fand es für gut, mit einer liebenswürdigen Lüge zu beginnen.

»Ich höre, Jolanka,« sagte sie, »Sie fühlten sich heute um vieles besser.«

Das Mädchen antwortete einfach, aber überzeugungsvoll:

»Nein.«

Dann wandte sie sich Eva zu, legte die beiden mageren Händchen auf dem Kissen ineinander, lehnte ihren Kopf darauf und hub nun an, mit schwacher, kranker Stimme zu sprechen:

»Bitte, gnädige Frau, Sie werden vielleicht wissen, warum ich Sie zu mir bitten ließ.«

»Ich ahne es, Liebste.«

»Mir tut das Herz so weh, gnädige Frau,« sagte Jolan aufrichtig, »und ich möchte Sie um etwas bitten.«

»Worum denn?«

»Geben Sie mir meinen Bräutigam zurück!«

Das hallte wider von den Wänden. Und die Stille des sonnigen Vormittags wurde feierlich. Die Braut forderte ihren Bräutigam von jemand zurück. Wieder sagte sie, nur etwas leiser:

»Geben Sie mir ihn zurück!«

Eva war gerührt. Sie wollte eine Antwort geben, die in der bestimmtesten Form ausgedrückt hätte, sie brauche Richter nicht, daß er ein unbedeutender Mensch, ein gewöhnlicher Niemand für sie sei. Augenblicklich fiel ihr aber nichts anderes ein, als die Worte:

»Mein liebes Kind, ich habe ihn Dir doch gar nicht weggenommen.«

»Ich weiß es,« lächelte Fräulein Jolan, »ich weiß sehr wohl. Das sagt man aber nur so. Sie haben mir ihn genommen, ohne es gewollt zu haben.«

In der Frau gewann das gute Gefühl, das Bedauern diesem gequälten Kinde gegenüber die Oberhand. Sie sagte verzweifelt:

»Wie soll ich ihn denn Dir zurückgeben?«

Jolan setzte sich aufrecht.

»Dadurch, daß Sie ihn wegjagen. Meinetwegen ohrfeigen Sie ihn. Jeder Backenstreich, den er von Ihnen bekommt, ist, als küßte man mich. Sprechen Sie mit ihm nicht; lassen Sie ihn nicht an sich heran … lassen Sie … lassen Sie es nicht zu, daß er verliebt wird.«

Und schon fing sie an zu weinen, so sehr fühlte sie, welch großen Unsinn sie sagte. Sie weinte lange, bitterliche wie die Sterbenden weinen, die es nicht wissen, aber fühlen, daß sie von allem Abschied nehmen müssen: von dem Licht, der Luft, von allem, was Leben ist. Das sind die furchtbarsten Tränen, die aus den Tiefen der Seele kommen.

Eva rückte näher.

»Sehen Sie, Jolanka,« sagte sie und löste ihre Hände vom Gesicht, »weinen Sie nicht und seien Sie klug. Hören Sie mich an. Ich verspreche Ihnen, daß ich ihn forttreiben, daß ich diesen Menschen hinausjagen werde. Ich verspreche es Ihnen. Ich ver–spre–che es! Verstehen Sie mich?«

Das Mädchen antwortete in bebendem, weinerlichen Tone:

»Ja.«

Eva erhob sich:

»Nun also.«

Sie hieß Jolan sich niederlegen, deckte sie zu und strich ihr über das Haar. Und dabei schaute sie ihr in die Augen, auf deren Grunde noch immer eine bange Frage schwebte, die Jolan nicht auszusprechen wagte. Dann zog sich die Frau an.

»Ich gehe jetzt weg, Jolika, und seien Sie gut. Wenn Sie etwas wünschen, lassen Sie mir's sagen, sofort bin ich dann wieder da. Und abends komme ich auch ohne Aufforderung. Gut?«

»Ja.«

»Und jetzt einen Kuß.«

Sie küßte Jolan auf den Mund, lange, still. Und in diesem langen Schweigen hörte man durch die Wand das Schluchzen der Tante Csenke aus dem Zimmer. Damit es das Mädchen nicht vernehme, ließ sie vom Küssen ab und fing an zu sprechen. Jolan aber schloß die Augen, und da konnte man sehen, daß unter ihren Augenwimpern Tränen rollten, langsam flossen, dann plötzlich seitlings auf den Schläfen niederfielen. Ihr Mund zuckte unmerklich, so komisch, daß es schon tödlich traurig war.

Eva küßte sie nochmals und ging hinaus. Gerade führte man Tante Csenke in ein anderes Zimmer, damit Jolan ihr Schluchzen nicht höre. Onkel Csenke aber begleitete Eva hinunter ins Erdgeschoß. Und der alte Staatsbeamte murmelte in einem fort:

»Was für ein Unglück! Was für ein großes Unglück!«

Eva aber schlich leise hinweg, wie einer, der fühlt, daß er die Schuld an allem trage, trotzdem er nichts dafür kann.


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