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Am nächsten Mittag sagte der Gastwirt im Kasino, nachdem er die Suppe aus den Tisch gestellt hatte, verdrießlich:
»Belieben zu sehen, auch heute fehlen eine Menge Herren.«
Der kleine dicke Wirt übertrieb ein wenig. Die »Menge Herren« bestand nur aus Toganow und Richter. Er war aber gezwungen zu übertreiben, denn das gab eine vortreffliche Pointe zu seinen früheren Klagen. Vor Tisch, hatte er sich in das Gespräch der Herren eingemischt und erzählte ihnen, daß sich sein Einkommen, seitdem die gnädige Frau hier sei, verringere. Die Speisen blieben ihm auf dem Hals. Man kann doch die Herren nicht zwingen zu abonnieren, da man sie oft fortschicke … in ein anderes Dorf, nach Szelakna, Schemnitz, auch nach Pest – mit einem Wort, das war für ihn sehr traurig. Er holte auch seine Bücher hervor:
»Bitte,« sagte er mit der dünnen Fistelstimme der dicken Leute, »ich kann es ziffernmäßig beweisen. Belieben zu sehen. Am Dienstag waren bloß zwei Herren bei Tisch. Seitdem fehlte die ganze Woche hindurch der eine oder der andere …«
Seine Frau stand auf der Schwelle und fügte hinzu:
»Unsere Regie ist nicht so gering, um das ertragen zu können … Wenn mir ein Huhn zurückbleibt, ist es gleich ein Schaden.«
Die Herren hörten gleichgültig den Klagen der beiden hierhergewehten Leute zu. Bisher hatten sie sich mit ihnen kaum eingelassen. Jetzt auf einmal sahen diese Leute sehr komisch aus, wie sie in der Türe standen, sich beklagten und ihre schmierigen Büchlein zeigten.
»Lassen Sie das Fleisch kommen,« sagte Bajtzar.
Darauf steckte der Wirt das Buch in die Tasche.
»Sofort,« antwortete er, immer noch im klagenden Tone. Weiterhin sprach er kein Wort mehr.
Herr Timko, der Doktor, fing zuerst an von den Abwesenden zu sprechen:
»Wo kann Toganow sein?«
»Er hatte die ganze Nacht hindurch kein Auge zugemacht,« sagte Wurm.
»Er ist verliebt,« setzte Bajtzar hinzu.
»Und Richter?«
Abermals war es Bajtzar, der die Enthüllung machte:
»Er ebenfalls.«
»Doch nicht in das Frauenzimmer?«
»Man kann nicht wissen.«
Sie aßen eifrig und mit Appetit. Vertes sagte leise, damit der Wirt es nicht höre:
»Toganow speist vielleicht bei der Frau.«
Der kleine Wurm fügte mit einem Hoffnungsschimmer in den Augen hinzu:
»Vielleicht auch Richter?«
»Das wäre unehrlich von Richter,« bemerkte Bajtzar.
Die Türe ging und Richter trat ein.
»Guten Tag. Kann ich noch etwas Suppe bekommen?«
Damit setzte er sich an den Tisch. Die Herren schwiegen, die letzte Bemerkung Bajtzars hatte ihnen die Lust am Sprechen benommen. Sie waren neugierig, was daraus entstehen würde. Bajtzar war schon einmal mit Richter in Streit geraten. In der tiefen Stille lehnte sich Bajtzar ein wenig erregt in seinem Sessel und sagte, indem er den Gleichgültigen spielte:
»Herr Richter, wir haben Sie gescholten. Nämlich ich habe es getan, aber bloß in bedingungsweiser Form.«
Richter schien nicht bei guter Laune zu sein. Die Stimmung war überdies gespannt.
»Was haben Sie gesagt?«
Der vornehme Bajtzar mochte nicht Schlechtes hinter dem Rücken eines andern gesagt haben.
»Ich habe erklärt, sagte er lächelnd, »daß es nicht schön von Ihnen wäre, wenn Sie bei der Frau speisen würden. Ich habe bemerkt, daß es unehrlich von Ihnen wäre.«
Richter legte seinen Löffel nieder; er schaute auf, fast verwundert, aber erregt. Dann wandte er plötzlich den Blick nach der Tür, denn eben war jemand in die Stube eingetreten.
Es war Toganow. Er sah blaß, übernächtig und ernst aus. Er brummte etwas wie einen Gruß vor sich hin und setzte sich nieder.
»Das haben Sie gesagt?« fragte Richter.
»Ja.«
»Wenn Sie noch ein einziges Mal etwas der artiges von mir sagen, Herr Kollege, stopfe ich Ihnen den Mund zu. Verstehen Sie?«
Er erhob sich von seinem Stuhle, als wollte er seine Drohung sofort ausführen. Bajtzar nahm seinen Mantel und Hut und machte sich auf den Weg.
»Adieu, meine Herren!«
»Wünschen Sie keine Mehlspeise?« rief ihm der Wirt nach.
»Nein.«
Er ging hinaus. Es wurde still, nur hinter der Glastür hörte man das Brummen des Wirtes, wie er zu seiner Ehehälfte auf deutsch sagte, die Herren, wären alle verrückt geworden. Diese wagten nicht zu sprechen. Der Gedanke des ersten Zweikampfes in dieser friedlichen, kleinen Siedelung stieg in ihrer Seele auf, und weder Toganow, noch Wurm sprachen, auch Vertes schwieg, sogar dem Doktor war die Lust an der Unterhaltung vergangen. Er sah sich schon in der Eigenschaft eines assistierenden Arztes beim Duell. Richter fühlte, er müsse sprechen. Er hub also an:
»Was will dieser Mensch von mir? Ich habe in meinem Leben noch niemandem ein Leid angetan. Dieser Laffe aber rempelt mich schon zum zweitenmal an. Ich kann ihm einmal unversehens einen Hieb versetzen, daß er nicht mehr aufstehen wird.«
»Schrecklich, schrecklich,« ließ sich der kleine Wurm vernehmen, »so was ist früher nie vorgekommen.«
Richter fuhr fort:
»Ich habe auch mein Kreuz, was fängt noch der mit mir an. Die Jolan ist krank, ich bin soeben von ihr gekommen und hier redet man allerlei dummes Zeug.«
Wurm schwieg. Er hatte genug, daß Jolan krank sei. Das tat seinem Herzen wirklich wehe. Wie die hoffnungslos Liebenden der alten Zeit, wünschte er dem Mädchen aus der Ferne Gutes zu tun, liebte er an sie zu denken und für sie zu sorgen, ohne daß sie davon wußte.
»Ich wäre auch nicht hierhergekommen, denn seit seiner vormaligen Rüpelei kann ich ihm nicht ins Gesicht schauen. Ich wollte nur dem Doktor sagen, er möchte nach dem Essen hinuntergehen.«
»Ja, das werde ich tun,« sagte der Doktor.
Vertes erhob sich, grüßte und ging hinaus. Der Doktor trank noch seinen schwarzen Kaffee aus, dann entfernte auch er sich und eilte zu seiner jüngsten Patientin.
Toganow schwieg noch immer. Er hatte etwas vor. Richter sog nachdenklich an seiner Zigarre. Um Wurm kümmerte sich keiner. Der Arme war wirklich traurig, tief betrübt. Bald machte auch er sich auf, denn er wollte mit dem Doktor wie aus Zufall zusammentreffen, wenn dieser sich von den Csenkes nach Hause begab.
So blieben die beiden allein. Sie schwiegen fast eine Viertelstunde lang, ohne in ihren Gedanken voneinander Kenntnis zu nehmen. Plötzlich tat Richter, wie wenn er einen Entschluß gefaßt hatte, einen herzhaften Zug und rief dem Russen zu:
»Was ist, Toganow?«
Darauf seufzte Toganow tief aus, erhob sich und sagte:
»Nichts.«
Dann verließ er das Zimmer. Richter blieb allein zurück.
Der Russe ging auf der sonnigen Seite der Straße dem Bergamte zu. Er hatte sich entschlossen, hinauf zu der Frau zu gehen und sich ihr zu erklären. Er schritt an der Tür des Amtes vorbei, die Stufen hinauf, hartnäckig, fast wild, auf alles gefaßt. Der Direktor war den ganzen Tag über nicht zu Hause. So wird es noch leichter gehen, mit der Frau zu sprechen.
»Herr Toganow wünscht mit der gnädigen Frau zu sprechen,« meldete der Diener.
»Lassen Sie ihn eintreten!«
Eva saß am Fenster und stickte.
Der Russe hatte sich schon seit Tagen auf diesen Besuch vorbereitet. Er wußte, daß ihn bei den ersten Worten ein Lampenfieber befallen würde, dennoch vertraute er darauf, daß es bald vergehen würde. Es mußte gehandelt werden, das war sicher. Die Frau wies auf einen Stuhl neben dem Fenster und Toganow nahm Platz. Draußen schien die Sonne, die warmen Strahlen einer nachmittägigen Wintersonne glänzten auf den Dächern und auf der Straße.
»Gnädige Frau,« begann der Russe ein wenig formell, »ich bin im Begriffe, Ihnen etwas Sonderbares zu sagen. Zürnen Sie mir aber deshalb nicht. Schauen Sie, ich habe hier niemanden. Das nächste Lebewesen, das mir nahe steht, wohnt zwei Länder weit von hier, in einem kleinen Dorf. Mein Vater …«
Lieblich, heimisch, warm war dieses Wort erklungen: mein Vater. Der kleine alte Russe, der Gewürze verkauft in einem schneebedeckten russischen Dörflein. In irgend einem alten, finsteren Gewölbe. Hinten brennt eine Petroleumlampe.
Die Frau legte die Stickerei nieder und hörte mit aufrichtiger Sympathie diesen großen Russen mit den kohlschwarzen Haaren an. Diesen unbeholfenen Burschen, der bei der Erwähnung seines Vaters plötzlich zum Kind geworden war.
»Mein Vater,« sagte er, »ist ein sehr kluger Mann. Er würde mir gewiß raten können, sofern ich mich an ihn wendete, aber ich fürchte ihn zu erschrecken.«
Jetzt war Evas Interesse schon gespannt.
»Also, was ist es denn, lieber Toganow, wovon ist die Rede?«
Toganow blickte zur Erde.
»Es ist davon die Rede,« sagte er leise, kaum hörbar, »ich bin verliebt. Ich bin sehr verliebt.«
Es fiel ihm ein, die Frau hätte das vielleicht schon von anderen gehört. Er fügte also hinzu:
»Nicht nur ich allein.«
Eine Zeitlang herrschte Schweigen. Die Frau schaute hinaus auf die lieblichen Sonnenstrahlen. Sie dachten in diesem Augenblick an vieles. Und Toganow verlor das Lampenfieber.
»Ich bin in Sie verliebt,« sagte er, »weiß aber, aussichtslos. Ich bin auch nur gekommen, Ihren Rat einzuholen. Ich werde das tun, was Sie mir anraten.«
Eva dauerte der vereinsamte Russe, und wie sie sein gesenktes Haupt anblickte, gewahrte sie darauf die frühzeitigen weißen Haare der sehr schwarzen Männer.
Ein greiser Mann – dachte sie – und so verlassen, so unbeholfen, so verliebt.
Außer einem geringen Bedauern empfand sie nichts für ihn.
»Raten Sie mir,« sagte der Russe.
Eva schaute ihm in die Augen mit jenem Blick der guten, klugen Frauen, welcher es belohnt, daß dieser Mensch für sie sterben könnte.
»Reisen Sie.«
Und das klang, als hätte sie es in ihrem Leben schon vielen gesagt. Wie wenn der Arzt anordnet: »Bleiben Sie im Bett.«
»Wohin?«
»In die Heimat. Reisen Sie zu Ihrem Vater und sagen Sie ihm, daß ein unglückliches Weib ihm von weitem die Hand küssen ließe, weil er so einen braven, ehrlichen Sohn hat.«
Und schon hatte sie den klugen, alten, kleinen Russen in ihr Herz geschlossen. Sie sah ihn auch, wie er im Pelz, mit über den Ohren gezogener Mütze vor der Geschäftstür steht und seine Pfeife raucht. Nur ein schöner weißer Bart ist zu sehen. Die Nachbarsleute kommen und fragen: »Was macht Ihr Sohn?« Und der Alte zeigt ihnen einen Brief und sagt: »Mein Sohn ist ein Chemiker.«
Toganow erhob sich.
»Ich reise also fort,« sagte er und reichte der Frau die Hand.
Die Frau schüttelte sie kräftig:
»Küssen Sie meine Hand.«
Sie standen so eine Zeitlang. Der Russe preßte die feine, warme Damenhand an seine Lippen. Und an seinem Kuß fühlte man, das sei ihm zu wenig. Die Frau schaute ihn fast traurig an. Dann sagte sie leise:
»Sehen Sie, Toganow, Sie sind der einzige, den ich lieb habe. So nach meiner Art. Sie hätten mein Freund sein können. Mein Kamerad. Und sind verliebt. Wirklich schade …«
Der Russe wandte sich ab. Weinte er vielleicht? Er ging still und resigniert hinaus. Er schritt die Stufen hinab und kam auf den kleinen Platz. Der Zugführer saß in der Sonne und rauchte seine Pfeife. Der Maschinist war wirklich zu beneiden. Toganow schaute noch ein letztesmal in die Höhe. Eva saß an dem Stickrahmen und stickte nicht. Das freute ihn. Eine gelinde, fast wohltuende Traurigkeit überkam ihn, als er über den Platz ging und seine Schritte gegen den andern Schacht lenkte. So gebrechlich ist ein russischer Chemiker – dachte er.
Der Doktor kam ihm mit Wurm entgegen. Ohne, daß Toganow eine Frage an sie gerichtet hätte, sagten sie:
»Es geht ihr schlecht, sehr schlecht.«
»Wem?«
»Wem? Nun, der Jolan. Sie hat Fieber. Auch das hat dieses Frauenzimmer verursacht.«
Wurm war ganz blaß. Der Russe dachte an das schöne, feine, duftende Weib.
»Ihr Bräutigam schaut gar nicht hin,« sagte Wurm. Der Doktor aber fügte hinzu:
»Auch der ist vernarrt.«
Dann trennten sie sich. Die Sonne schien prachtvoll, der Duft der schmelzenden Natur strich um sie. Der Atem des in weiter Ferne keimenden Frühlings wehte schon in der lauen Luft. Der Russe schritt abwärts, die anderen gingen still hinauf. Und der Doktor mußte daran denken, daß, wenn Eva nicht hierhergekommen wäre, der Chemiker jetzt im Laboratorium säße, Wurm die Bücher führte, er aber zu Hause seine Zeitung läse, mit der Pfeife im Mund.
Die Frau war aber in das Dorf gekommen.