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Unten in der Kanzlei, im Erdgeschoß, wuchs die Neugierde mit jedem Augenblick. Die Erwartung wurde immer lebhafter. Man sprach wenig über die Angelegenheit, aber alle erhoben rasch den Kopf, so oft die Tür ging. Den Direktor fragten sie nicht, der aber sprach aus eigenem Antrieb kein Wort.
Dieser Zustand dauerte einige Tage. Eva kannten sie schon, denn sie ging an den Nachmittagen mit dem Direktor aus. Freilich grüßten sie höflich und Eva nahm ihren Gruß mit Anmut, sehr gnädig, entgegen. Und jetzt vermuteten sie schon, eine Vorstellung im größeren Stile würde beim Ritter stattfinden, sonst hätte er sie ja schon längst mit der Frau bekannt gemacht.
Am dritten oder vierten Vormittag blieb Richter, der soeben vom Direktor kam, mitten in der Kanzlei stehen.
»Wir sind geladen,« sagte er mit der Miene eines sozialistischen Parteiführers, der verkündet, ein Erzherzog käme in die Versammlung.
Bajtzar fand die nächste Frage: »Wohin?«
»Zu der Gnädigen!« sagte höhnisch der kleine Richter, beinahe erbost darüber, den Boten abzugeben. »Soeben hat mir der Ritter gesagt, daß er uns alle noch heute einladen würde …«
Darauf hatten sie keine Entgegnung. Bajtzar drehte seinen Schnurrbart, dann zeichnete er weiter. Toganow schaute in die Luft. Ganz gleichgültig blieb nur Wurm, der einzige Jude hier, der Rechnungsführer. Er stand an dem hohen Pult und kritzelte Zahlen und Buchstaben in ungeheuer große Bücher.
Noch bevor die Mittagsglocke erklang, kam der Direktor herunter und lud sie ein. Er bemerkte, die Gnädige sei bisher unwohl gewesen, jetzt sei sie aber hergestellt und sähe die Herren nach dem Abendmahl gerne beim Tee. Die Herren bedankten sich höflich. Wunderlicherweise sprach mittags beim Tisch niemand darüber. Abends erschienen sie bei der Tafel schwarz angekleidet, dann gingen sie zusammen, ein wenig aufgeregt, die Speisen rasch hinterschluckend, ohne geraucht zu haben, nach dem Hause des Direktors.
Beim Aufstieg wunderten sie sich über den weißbehandschuhten, livrierten Diener. Bisher hatte es hier einen solchen nicht gegeben. Von drinnen hörte man Klaviertöne und das Geräusch von Stimmen. Die Familie des Staatsbeamten war schon anwesend. Während die Herren im Vorzimmer die Mäntel ablegten, verstummte das Klavierspiel. Sie drängten Bajtzar vor, jeder war plötzlich bescheiden und linkisch geworden. Bajtzar klopfte an und darauf betraten sie das Zimmer. Damit kein Aufenthalt vorkäme, eilte die Frau ihnen entgegen und reichte ihnen lächelnd die Hand, als nähme sie jetzt erst Kenntnis davon, daß auch die Herren auf der Welt seien. Der Ritter stand unzufrieden neben der Frau und nannte die einzelnen Namen:
»Herr Bajtzar.«
Der Betreffende wiederholte seinen Namen.
»Bajtzar.«
»Herr Wurm.«
»Wurm.«
Sie reichten sich die Hände und standen beiseite. Zuletzt blieb Richter.
»Und Herr Richter,« stellte ihn der Ritter vor.
»Ich heiße Richter.«
»Freut mich,« sagte Eva leicht lächelnd, und als der Ingenieur auf den Beamten zuging, flüsterte sie dem Direktor zu:
»Ist das der Bräutigam?«
»Er ist es.«
Der Bergbeamte saß mit seinem Franz Josefs-Rock in einem sehr tiefen Fauteuil und fühlte sich in dieser Pose äußerst unbequem. Er freute sich, als ein Teil der jungen Leute sich zu ihm gesellte und von Bergwerksangelegenheiten zu sprechen anfing. Neben der Frau blieb bloß Bajtzar und Vertes, der Ritter spracht mit der Frau des Staatsbeamten, Jolan saß am Klavier und unterhielt sich flüsternd mit Richter.
Eva trug ein Kleid, das man englisch nennt, nämlich ein Kleid, das wie mit Spitzen übergossen schien. Nichts überflüssiges, unten reicht es bis zur Erde, oben bis ans Kinn, auf den Armen fast bis zu den Fingern, doch trotzdem eine verräterische und reizvolle Kleiderform, über der Taille beinahe nichts anderes, als eine hellila Nacktheit. Das Haar trug sie über die Ohren gekämmt, ihr Antlitz bekam dadurch eine stilisierte, sehr verständliche Form.
Den Tee goß sie selbst ein, dann setzte sie sich dorthin, wo die meisten waren. Die Herren schlürften, baten um Zucker, das heißt, sie fragten, wo das Zuckerbehältnis sei. Ein feiner Zigarettenduft verbreitete sich in der Stube, er stieg von dem aus derselben Schachtel entnommenen ägyptischen Zigarettentabak auf. Der elegante Bajtzar plauderte köstlich und hatte eine sichtbare Freude daran, wie einer, der lange kein Rad gefahren, dann plötzlich dazu gelangt und feststellt: »Schau, es geht noch!« Auch um den Bergbeamten wurde das Fachgespräch lebhafter, die Leute hatten Mut gefaßt. Plötzlich rief die Frau hinüber:
»Lassen Sie doch die langweiligen Bergangelegenheiten!«
Darauf lächelten die zwei Bescheidenen, Wurm und Toganow, ließen Onkel Csenke sitzen und stellten sich mit den Tassen in den Händen hinter Bajtzar. Das Lügen fing nun ebenfalls an:
»Seht Ihr« – das sagte Bajtzar –, »jetzt habt Ihr es bekommen!«
Er wendete sich der Frau zu:
»Die Herren sprechen immerwährend über Steine.«
Die Frau lachte und ließ die beiden Fachleute neben sich niedersetzen. Diese fühlten sich auf dem Sofa ganz heimisch, nur Wurm blieb ein wenig linkisch, was nach der Kanzlei roch; passiv nahm er an allem teil: er lachte über die Witze, schrie jemand »Oho!«, dann stimmte auch er ein; vielleicht wenn alle gemordet hätten, wäre auch er nicht untätig geblieben. Doch aktiv beteiligte er sich an Nichts. Für sich konnte er nur einen Rechnungsführer abgeben.
»Ziehen Sie sich nicht so zurück!«
Das galt Fräulein Jolan und Richter. Der nichtsnutzige Richter hatte dafür kein Lächeln. Das Mädchen sagte auch an seiner statt:
»Hier sind wir!«
Und damit kamen sie näher.
Jetzt waren alle um Eva versammelt, sie plauderten und fühlten sich ausgezeichnet. Onkel Csenke gab Anekdoten zum Besten aus jener Zeit, wo er noch die Chemnitzer Akademie besucht hatte. Eva lachte darüber. Ihre Wangen röteten sich ein wenig, vielleicht von der Wärme oder der vielen Männer wegen. Mit einem Wort: sie war lebhaft, lieb, ihre Augen strahlten.
Gegen Mitternacht wurde in der Kanzlei eine kleine Kartenpartie zusammengestellt. Der Direktor und Onkel Csenke forcierten das Spiel und Herr Wurm hatte die Freundlichkeit, als dritter einzuspringen.
Eva setzte sich ans Klavier. Es war eigentlich kein Klavier, eher ein Pianino. Der Direktor pflegte bisweilen darauf zu spielen. Die Herren erachteten es für ihre Pflicht, mit furchtbar gespannter Erwartung das Ebenholzinstrument zu umstehen.
Die Frau nahm ein paar Akkorde und plötzlich erfaßte sie ein Gedanke. Ihr gefielen diese Menge Tölpel. Man muß ihnen etwas sehr Sentimentales vorspielen – dachte sie. Sie war neugierig, wie die Leute darauf reagieren würden. Für diesen Zweck hielt sie Massenet am geeignetsten. Und ein wenig tat diese weiche, traurige Musik auch ihrem Herzen wohl: Werther, voll tiefer Liebe und der aus jeder Melodie heraustönenden Seufzer, daß jemand die Frau eines andern geworden, nicht desjenigen, den sie liebte.
Und sie begann. Eine große Stille trat ein. Die Akkorde erklangen leise in dem Zimmer, die Melodie trug die Leute in die Vergangenheit zurück und suchte die verborgensten Seufzer des Herzens. Das Zimmer füllte sich mit der Traurigkeit des Liedes und jeder lauschte, sogar die Spielkarten in der Kanzlei ruhten. Die Musik hatte gefangen genommen, nur das Frauenzimmer schien den Melodien zu befehlen. Die Augen halb geschlossen, sah sie reizend aus.
Allgemach nahm die alte Poesie Besitz von den Stuben, diejenige, über die wir hier in der Stadt hinweg sind. Eine solche Dichtkunst lebt nur in der Provinz lange, in dem Reiche der ruhigen Erwägungen und der großen, dauernden Lieben und der sehr tiefen Geheimnisse. Dorthin gehört diese Musik. So würden beispielsweise diese Herren einen Sezessionisten, dem Werther nicht gefällt, getötet haben.
Sehr schön, urteilten sie, als das Lied zu Ende war und Eva fühlte, daß sie heute nicht weiter spielen dürfe. Diese Leute mußten mit diesem Liede einschlafen. Sie ließ auch das Klavier stehen. Richter jedoch rief:
»Hören wir Vertes.«
Vertes setzte sich, doch zuvor erklärte er, daß er nie gelernt, schon lange nicht gespielt habe usw. Das gehört dazu. Er spielte polnische Weisen und Walzer. Darauf fing man drin an, die Karten auf den Tisch zu schlagen, die Gesellschaft löste sich ein wenig auf, die Lebhaftigkeit und der Rauch wurden größer. Vertes betonte den Rhythmus und vielleicht gab das den Anlaß, daß der stets vornehme und ritterliche Bajtzar sich vor Eva verbeugte.
»Darf ich bitten?«
»Es ist ja kein Platz,« meinte Eva, worauf die anderen Herren sich über die Stühle und Tische hermachten, und in der Hoffnung, selbst tanzen zu können, hatten sie in dem Augenblick alles weggeräumt. Bajtzar aber begann auf elegante Pester Art zu walzen, nicht hüpfend, sondern schrittweise, mit einer seltsamen, fast lächerlichen Schulterbiegung. Toganow forderte Fräulein Jolan auf, Richter aber tanzte mit Tante Csenke. Es wurde ein wahres Kränzchen. Vertes schlug die Tasten immer kräftiger, die Spieler drin brüllten beinahe und das Gesicht Evas glühte.
Dann wechselten die Paare, der Tanz ließ sich wie eine prächtige, kleine Unterhaltung an. Jetzt tanzte auch Richter mit Eva. Sie aber machte mit ihm nur eine Tour. Darauf sagte sie ihm leise:
»Genug. Sie dürfen nicht mehr.«
In der Tat beobachtete Jolan sie schon. Eva saß tief atmend auf einem Sessel und gab Bajtzar einen Korb. Sie tanze nicht, sie müsse sich ausruhen. Man fächelte sie und ergötzte sich an dem rosigen Gesicht, an den schon in tiefer Glut schimmernden, verheißenden Augen, sogar die Lackstiefelchen auf ihren Füßen erregten die Aufmerksamkeit. Allen gefiel sie. Schon fühlte man sich beherrscht von ihr. Schon brachte der eine Wasser, der andere einen Fächer und Vertes schlug noch immer auf die Tasten, trotzdem es eine Hitze wie in einem Backofen war.
Draußen, unten auf der Straße, zogen um Mitternacht die Leute der nächtlichen Schicht dem Bergwerk zu. Die fahren um Mitternacht ein und arbeiten bis sechs Uhr früh. Dort unten ist es einerlei, ob nun Tag oder Nacht ist. Mit ihren gelblich flackernden Lampen schwärmten und strichen sie um die Einfahrt herum, auf das Gebet wartend. Verwundert schauten sie auf die vier erhellten Fenster im Stockwerk, welche der heiße Atem so vieler Menschen erhitzt hatte. Das Haus schien eine fieberhafte Lebhaftigkeit und Hitze auszuströmen, die Klaviertöne hörten sich an wie der Puls dieses warmen, erregten Lebens, und unten sahen schläfrige, vor Kälte zitternde, arme Menschen herauf wie auf eine Miniaturhölle, die hinter den Fenstern glüht, flammt und tobt. Endlich waren sie vollzählig und die Lämpchen verschmolzen in einem Haufen vor der Einfahrt. Auch ihr Gebet rauschte dahin neben dem Rhythmus eines Polkas, in die sich jetzt schon Juchzer mischten, da nach dem vielen Kognak auch die Kartenspieler angefangen hatten zu tanzen. Onkel Csenke war so lustig, wie ein Bergschüler auf Ferien.
Dann fuhren sie in den Schacht ein, langsam verschlang der schwarze Schlund die kleinen Lichtpunkte. Auch der letzte Schimmer verschwand, und draußen wurde es wieder still. Die Arbeiter vom Abend kamen aus dem Lillischacht herausgefahren. Und einsam blieben die vier glühenden Fenster, jetzt leuchteten sie allein in der Nacht, in dem ruhigen, tief schlummernden Dorf, unter dem mächtigen Fichtenwald, wie eine bösartige rote Wunde auf dem gesunden Körper, die allein brennt und die allein ihr Fieber hat.
Niemand hätte gedacht, daß der Teeabend so schön verlaufen werde. Man hatte sehr viel Kognak und schwedischen Likör genossen, und das große Tor wurde um sieben Uhr früh, bei Tagesanbruch aufgesperrt. Zuerst eilte Fräulein Jolan hinaus, in riesige Tücher eingewickelt, hinter ihr Richter und die Csenkes. Hierauf mit aufgestülptem Mantelkragen die Herren.
»Wir könnten noch irgendwo hingehen,« meinte Bajtzar unter dem lauten und herzhaften Lachen der andern. Sie erinnerten sich dieser Aufforderung von den Unterhaltungen in der Stadt her.
»Gehen wir ins Kasino frühstücken!«
Das fand Beifall. Alle begaben sich ins Kasino. Die Familie des Bergbeamten war aber schon weit voraus und Fräulein Jolan hatte sich in den Arm Richters gehängt. Ein wenig traurig, furchtsam drückte sie den Arm des jungen Mannes an sich, als wollte sie feststellen, daß er neben ihr sei, sie nach Hause begleite, kurzum, der ihrige sei.
Aber ihre Seele zitterte schon, sie ahnte Aufregungen in der Zukunft. Onkel Csenke war in der besten Laune. Er sang Lieder und duldet die Zurechtweisungen seiner Frau. Mein Gott, wie lange schon war er nicht angeheitert gewesen! Richter legte behutsam den zarten Arm des Mädchens in den seinen. Ein wenig summte ihm noch Werther in den Ohren. Und ein Duft stieg ihm in die Nase, irgendein spitzbübischer, warmer Flieder, welcher um so mehr in seinem Geruchsinn haften blieb, je lebhafter er sich daran erinnern wollte. Es war ein neuer Duft, der Duft der Frau, den er gezwungen war, mitzunehmen.
Auf den Dächern der sich gegenseitig stützenden kleinen Häuser spielte rosenfarben der jungferliche Schnee. Die Sonne hatte schon ihre ersten Strahlen zur Erde gesandt und der Himmel wurde immer durchsichtiger. Der frische Hauch des Wintermorgens berührte ihre Wangen, blies den Rauch, den heißen Atem aus ihren Lungen; Jolan hustete auch ein wenig.
»Hülle Dich gut ein, mein Kind,« sagte Tante Csenke. »Herr Richter, geben Sie Acht, das Mädchen wird sich noch erkälten.«
Sie blieben stehen und Richter wickelte das Tuch enger um den Busen des Mädchens. Er kreuzte die beiden Enden um ihre Taille und tat sie zum Knüpfen in die Hände der hinter dem Mädchen stehenden Tante. Und während die Tante an den Enden zerrte und den Knüpf machte, sagte das so verhätschelte, von dem engen Knüpf fast umsinkende Fräulein Jolan mit einem Lächeln auf den Lippen:
»Herr Richter, wie parfümiert sind Sie doch …«
»Ja,« sagte Richter, »diese Pester Dame hat ein gutes Parfüm. Ich habe zweimal mit ihr getanzt und bin schon voll mit ihrem Duft.«
Dann eilten sie wortlos, ohne auch den Gruß der magern, dürren Bauernmädchen zu erwidern, die fröstelnd um den in Stroh gehüllten Brunnen standen, während die eine den Ziehschwengel handhabte. Erstaunt grüßten sie: