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Daheim, in der reinlichen kleinen Beamtenwohnung ging Jolan erregt zu Bett. Schon seit Jahren, seitdem sie hier wohnte, war sie nicht ernstlich aufgeregt gewesen. Das größte, vielleicht einzige Ereignis in ihrem Leben, das ehrbare Verhältnis mit Richter, war so langsam, fast natürlich, in ihr Leben eingedrungen, daß es niemals von Schicksalsschlägen aufgerüttelt wurde. Das Leben der armen Jolan war überhaupt nicht auf Stöße und Aufregungen eingerichtet. Es gibt Leute, deren Leben ein unverschämtes Auflehnen gegen den Willen der Natur ist. Kinder, die in ihrer Jugend tödlichen Krankheiten entkommen sind, welche die Aerzte dem Grabe entrissen, ins Leben zurückgezwungen haben. Solche Leute haben kein Recht zu leben. So war auch dieses unbedeutende Fräulein. Und heute war sie aufgeregt.
Sie legte sich nieder und fing an zu beten, mehr aus Gewohnheit und Herkommen, als aus Ueberzeugung murmelte sie: »Die Sonne ging unter, die Nacht kam herauf …«
Die Frau, ihr schönes Kleid, die Stimme, das Gesicht, ihr Benehmen hatte Jolan Schmerz verursacht. Warum war sie hierhergekommen, eben jetzt vor der Verlobung, bevor noch etwas Positives geschehen war?
Richter besuchte sie anfangs aus Langeweile, dann befreundete er sich mit ihr. Sie hatte ihn liebgewonnen und ihre Liebe unterschied sich nicht sonderlich von der sehr zähen Freundschaft und der sehr warmen Neigung. Eines Nachmittags, als sie allein geblieben waren, hatte Richter ihre Hand geküßt und hierauf hatten beide lange geschwiegen. Das war ihr wahres Verlöbnis gewesen. Von da an fühlten sie sich wie verwandt. Auch den Beamten gefiel dieses Verhältnis – und dann wollte er vielleicht von dem blutarmen Fräulein befreit sein. –
Sie wandte sich der Wand da zu, wo das Kissen sich kälter anfühlte. Daraus – daß sie die Kälte suchte – zog sie den Schluß, sie habe Fieber. Sie dachte weiter und fand, daß dieses Fieber die Frau verursacht habe. Das Weib war sehr schön.
Richter war seit dem Tage des Verlöbnisses ein täglicher Gast am unteren Ende. Die Kolonie billigte die Partie. Es war ein ehrbares, anständiges, ruhig verlaufendes Verhältnis und dazu beruflich verwandt, was sie für äußerst wichtig hielten. Mit gutheißender Neutralität sahen sie dem ganzen zu. Ja, es gefiel ihnen sogar Richter, der kleine, grimmige Sozialist, der so sanft und aufmerksam Fräulein Jolan gegenüber sein konnte. Später mengten sie sich in die Angelegenheit, aber nur in den technischen Teil; sie besprachen die Art und Weise der Verlobungsfeier, forderten, daß sie im Kasino stattfinde, da in der Staatswohnung kein Platz sei. Sie waren gute Kameraden und hatten einander sehr lieb. Richter, den kleinen Wilden, verzogen sie. Er gefiel ihnen. Gegen Mitternacht fühlte das Mädchen im Halbschlummer, daß es jetzt einschlafen werde. Und gerade in diesem Augenblick kam ihr der Gedanke, Eva denke jetzt an sie. Sie fand es jetzt seltsam, daß sie, die gewohnt war, von niemand beachtet zu werden, jetzt mit einer solchen Sicherheit empfände, daß ein Menschengehirn mit ihrem Bilde beschäftigt sei. Dann schlummerte sie ein, mit einem sehr geringen unruhigen Gefühl.
Die Frau steckte ihr Haar fest, ehe sie zu Bett ging. Sie plante einen kleinen Teeabend für sämtliche Herren, wo sie dann bekannt werden würden. Man muß auch die Familie des Staatsbeamten einladen – dachte sie, und da fiel ihr auch wieder das Mädchen ein. Wie sie vor dem Spiegel saß und ihr schönes, braunes Haar durch die Finger gleiten ließ, durchfuhr auf einen Augenblick der Gedanke ihrer Seele, was geschehen würde, wenn sich hier im Gebirge, weitab von der Welt, jemand in sie verliebte. Ein kleiner Roman in der Mitte des Fichtenwaldes. Ein Roman, vielleicht ein Drama. Sie dachte an das Mädchen. Frauen spüren meilenweit voneinander entfernt, daß sie etwas miteinander zu schaffen haben. Vielleicht taten es die Romane, aber sie mußte an den Zukünftigen des Mädchens denken. Dennoch beschäftigte sie sich nicht mehr lange mit dieser Idee, sondern legte sich ruhig nieder und schlummerte ein.
Ungefähr um diese Zeit gingen die Herren aus dem Kasino nach Hause und bemerkten das Licht in ihrem Fenster. Bajtzar behauptete, dieses Fenster sei jetzt der Mittelpunkt der Welt, Toganow, der Russe, erklärte, daß er zwar auf nichts reflektiere, daß es aber von dem Direktor nicht schön sei, sie dem Frauenzimmer zuliebe stehen zu lassen, und daß er sie nicht vorgestellt habe – worunter er zweifelsohne das Mittagsmahl verstand. Von der Frau hatten sie schon so vieles geredet, daß diese Erklärungen spurlos in der Finsternis verklangen, und die Herren gingen heimwärts, indem sie sich über einen anderen Gegenstand ausließen.
Auch heute schlief schon das Dorf, wie gestern um diese Stunde, und nur in einem einzigen Hause brannte Licht. Aber nicht im Kasino, sondern im Direktionsgebäude. Das Fenster der Frau leuchtete in einem sanften Schimmer; ein reizendes Geheimnis, eine liebe Ueberraschung in der unseligen Nacht – ein Fenster, hinter dem man die Sorgfalt einer Frau fühlte. Ja, diese vielen, bisher einsamen Männer fühlten vielleicht auch ein wenig das Weibchen. Erwartung, die Hoffnung auf eine angenehme Lösung, verbarg sich in diesem Geheimnis, bis der Schimmer aufflackernd erlosch und das Fenster sich verfinsterte.