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XI.

Man mußte auf den Fahrstuhl warten. So eben bewegte sich die rostzerfressene, primitive kleine Eisenplatte, ringsum mit einem Drahtgitter versehen, aufwärts. Die Terminologie nennt sie Fahrstuhl und daher konnten sie auch die Grubenarbeiter nicht anders nennen. Eine kurze Zeit wartete Richter allein. Er hatte die Augen geschlossen, so sehr schmerzte ihn der Arm. Dieser heftige, beißende Schmerz fraß sich in sein Fleisch ein, so daß er nichts hörte. Er schreckte erst auf, als ihm plötzlich jemand mit einer tiefen Baßstimme zurief:

»Glück auf!«

Es war ein alter Bauer, der Pavlik. Ein alter Arbeiter. Er lüftete den Hut, dann stellte er sich ebenfalls hin und wartete. Gleich nach ihm kamen noch einige Leute. Schweigend und geduldig warteten sie auf den Fahrstuhl. Dann, als die Maschine angekommen war, stellten sie sich alle darauf, dem Ingenieur den Vortritt einräumend, und gaben das Glockenzeichen. Langsam, knarrend setzte sich in der Finsternis die Eisenplatte in Bewegung. Um nur etwas zu sagen, fragte Richter:

»Wie gehts Ihnen?«

Und staunend mußte er hören:

»Schlecht, sehr schlecht.«

Der alte Pavlik fing an sich über Vertes zu beklagen. Ueber den unbedeutenden Vertes, von dem man bisher nichts gehört hatte. Sie beklagten sich, daß er grob geworden sei und sich um sie nicht kümmere. Er vernachlässigte »die Bruderlade« – ihre Hilfskasse. Auch daraus wurde nichts. Er führe unachtsam die Evidenz und schicke die Kranken arbeiten.

Der alte Pavlik setzte noch hinzu, daß in diesen streikenden Zeiten nicht ratsam sei, mit den Arbeitern auf diese Weise zu verfahren. Der Mensch sei doch zuguterletzt kein Vieh. Und in dem Staatsbergwerk wären einige geheime Sozialisten, denen das Mundstück im Wirtshaus nicht stehen bliebe.

Langsam, vorsichtig bewegte sich die Platte aufwärts, und Richter fühlte, wie der Zorn gegen Vertes in ihm erwachte. Erst jetzt nahm er zur Kenntnis – bisher hatte er es nicht beachtet –, daß die Frau auch Vertes gefalle. Doch war Vertes eine sehr unbedeutende Figur.

Dann vergegenwärtigte er sich hier, auf dem bald erschlaffenden, bald munter werdenden Fahrstuhl, in der feuchten Finsternis der Gruben, die Frau. Er dachte an ihr schönes, rauschendes Kleid, an ihre biegsame Taille. Er hatte sich schon öfters vorgestellt, daß es ein wundersames Gefühl sein müßte, diese Schönste der Schönen zu berühren.

Er vergaß sogar den Schmerz seines Armes, während diese Gedanken seinen Sinn bewegten. Es war ganz natürlich, daß er dem alten Arbeiter nicht zuhörte. Der Alte redete noch immer, die anderen aber sogen an ihren Pfeifen und hörten zu. Zusammengepreßt standen die fünf in der Mitte der Eisenplatte, um das Gleichgewicht zu erhalten. Und als wieder einige klagende Worte sein Ohr trafen, dachte er nebenher, daß diese armen, schmutzigen Leute wie die vernachlässigten Kinder, deren Mutter einen Geliebten hält, Klage führten.

Man war in dem obersten Schacht angelangt. Von hier führt der Weg wagerecht hinaus ins Freie. Die Arbeiter sahen, daß der Ingenieur keine besondere Lust an der Unterhaltung verspüre. Sie gingen also gesondert hinter ihm.

Noch immer dachte er an sie. Und als er sich die wohltuende Reinlichkeit, den feinen Duft und die Pracht des gekämmten Haares vorstellte, befiel ihm ein Ekel vor dem groben Tabakrauch und Schwefeldunst, vor dem Kot, den schmierigen Bergleuten. Er eilte voraus und war überglücklich, als er bei einer Biegung in der Ferne den Ausgang erblickte. Dieses kleine graue Tor glänzte, wie das Stück von einem runden, mit Silberschimmer durchtränkten Saphirsteine. Es wurde immer größer, je mehr er sich der Oeffnung näherte. Dann war es wie ein Fenster aus lichtblauem Glas. Es ließ das Licht nicht durch, nur das Tor allein leuchtete in einem starken Glanze vor den an die tiefe Finsternis gewöhnten Augen. Und als ihn noch einige Schritte davon trennten, atmete er auf und hätte vor Freude beinahe aufgejauchzt. Draußen schüttete die Sonne verschwenderisch ihre Strahlen auf die Erde. Auf den zerstreuten Schneehaufen blitzte sie in weißer Glut. Sie gab reichlich das lebenerweckende Licht.

Er löschte die Lampe aus und murmelte lächelnd vor sich hin:

»Die Sonne, die Sonne.«

Vielleicht wäre er in diesem Augenblick, an der Hoffnungsschwelle seiner neuen Liebe, sehr glücklich gewesen, hätte ihm sein Arm nicht so heftige Schmerzen verursacht. Bis zur Schulter hinauf fühle er nichts, als eine schmerzhafte, pochende, drückende Last. Er bog links ein, um hinunter zum Doktor zu eilen.

Da hörte er Wagengerassel hinter sich, und er konnte es nicht lassen, sich umzudrehen. Ein Herr in einem weiten Pelz saß in dem Wagen. »Wer kann das sein?« fragte er sich, indem er zur Seite auswich. Auf dem Bock spreizten sich zwei kleine Koffer. Der arme Kutscher hatte die Beine darauf ausgestreckt, er saß dort wie in einem Schraubstock. Richter war nun neugierig geworden, und als der Wagen an ihm vorüberfuhr, trat er vor.

Der Insasse des Wagens stieß den Kutscher an:

»Halt!«

Jetzt sah Richter, daß der Herr in dem großen Pelz Toganow war. Den Kopf hatte er bis zu den Ohren in eine große Pelzmütze gesteckt, die er hier vordem niemals getragen hatte.

Richter verstand die Sache nicht. Toganow auf dem Wagen und – mit Koffern?

Er setzte sich zu ihm hinauf und der Bauernwagen rollte weiter. Erstaunt fragte er:

»Wohin fahren Sie, Toganow?«

Dieser antwortete still:

»Nach Hause.«

»Wohin nach Hause?«

»Nach Rußland.«

Zuerst wunderte er sich so sehr über diese Antwort, daß er nicht wagte, weiter zu fragen. Weder Anzeige, noch Abschied, gar nichts. Was sollte das bedeuten?

So saßen sie dort ein Stück Weges, dann faßte er frischen Mut und fragte:

»Was ist denn mit Ihnen geschehen? Sind Sie verrückt geworden?«

»Ja.«

Einen Augenblick glaubte er es sogar. Er blickte Toganow fest in die Augen:

»Halten Sie Ihren Großvater zum Narren, Toganow! Lassen Sie mich doch nicht so da sitzen! Wohin gehen Sie?«

»Zu meinem Vater«, sagte der Russe.

Dieses Wort hörte sich hier, auf dem holpernden Wagen, nicht so an, wie in dem stillen Zimmer der Frau. Er fügte hinzu:

»Ich fahre fort, weil ich sehr verliebt bin. Gott segne auch Sie, Herr Richter.«

Tränen standen ihm in den Augen.

Richter schwieg. Das übte auf ihn eine starke Wirkung aus. Der Russe, der die große Frage in seiner ehrlichen, unbeholfenen Weise löste, dauerte ihn von Herzen. Er sprach auch nicht weiter. In den zwei Jahren hatte er Toganow sehr lieb gewonnen und jetzt fiel ihm diese plötzliche Scheidung schwer. Gegen die Frau fühlte er ein wenig Bitterkeit. Auch empfand er, daß die kleine Gesellschaft sich nun auflösen werde. Es tat ihm wirklich weh, daß der Russe wegging.

Sie waren in der Nähe der Doktorwohnung angekommen.

»Na, ich muß hier absteigen«, sagte der Ingenieur, »behüte Sie der liebe Gott, Toganow.«

Dieser warme Gruß, diese höhere Variation von dem »Behüt' Gott« rührte auch ihn fast zu Tränen.

»Fahren Sie mit bis Schemnitz«, lud ihn der Russe ein.

Richter deutete auf das Blut an seinem Rock:

»Es geht nicht. Ich habe einen tüchtigen Schlag auf den Arm bekommen, ich glaube gar, er ist gebrochen.«

»Dann Adieu!«

Rasch umarmte und küßte er den Ingenieur. Der Wagen holperte weiter und Richter stand mit beklommenem Herzen auf der Straße und schaute ihm nach. Der Schmerz zuckte ihm wieder durch den Arm, und er fühlte, wie von dem großen Blutverlust ihn die Kräfte verließen.


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