Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierter Teil

Das Ende

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Die Göttin der Vernunft (10. November 1793)

Ich habe im Jahre 1816 Fräulein Dorothea gekannt, die bei den Festen von 1793 in irgendeiner Stadt die Vernunft dargestellt hatte. Sie war eine ernste Frau und führte ein immer vorbildliches Leben. Man hatte sie ihrer großen Gestalt und ihres guten Rufes wegen gewählt. Sie war niemals schön gewesen, und außerdem schielte sie.

Die Begründer des neuen Gottesdienstes, die durchaus nicht daran dachten, ihn verächtlich zu machen, empfehlen in ihren Zeitungen denen, die das Fest in anderen Städten feiern wollten, ausdrücklich, »für eine so erhabene Rolle Leute zu wählen, deren Sittenstrenge und reine Blicke die Zudringlichkeit zurückweist und die Herzen mit anständigen, ehrbaren Gefühlen erfüllt«. In der Hauptsache mußten Mädchen aus geachteten Familien willig oder gezwungen die Vernunft darstellen.

In Saint Sulpice wurde die Vernunft von der Frau eines der ersten Beamten von Paris dargestellt, in Notre Dame von einer berühmten, beliebten und geachteten Künstlerin, Fräulein Maillard. Es ist bekannt, ein wie arbeitsames und ernstes Leben solche Damen schon infolge ihrer Kunst führen müssen. Die göttliche Gabe ist ihnen um den Preis einer großen Enthaltsamkeit von den meisten Vergnügungen zuteil geworden. Wer würde an dem Tage, wo die weiser gewordene Welt das Priestertum wieder den Frauen überträgt, wie sie es im Altertum besaßen, erstaunt sein, an der Spitze nationaler Weihefeste die gute, liebreiche, die heilige Garcia Viardot zu sehen?

Noch drei Tage vor dem Feste wollte man, daß das Sinnbild, welches die Vernunft darstellen sollte, eine Statue war. Dagegen wand man ein, daß ein festes Standbild an die heilige Jungfrau erinnern und einen neuen Götzendienst hervorrufen könne. Man zog ein bewegliches, beseeltes, lebendes Bild vor, das, bei jedem Feste ein anderes, kein Gegenstand des Aberglaubens werden könnte.

Das geschah in dem Augenblick, als Chaumette [ * ] Chaumette, der Prokurator der Kommune, gehörte der Partei seines Substituten, des »tollen« Hébert, an, die im Volke breiten Boden hatte. Sie stand dem Kommunismus der Jacques Roux usw. nahe, hielt es aber zunächst einmal für richtig, die öffentliche Gewalt in die Hände zu bekommen, bevor sie ihr soziales Programm in die Praxis umzusetzen begann. Der Wohlfahrtsausschuß entledigte sich ihrer und richtete die Führer im März 1794 hin. Die wahren Gründe für die Verhaftungen sind unbekannt. – Chaumette insbesondere, der erst im April hingerichtet wurde, war der Irreligiosität beschuldigt. Er hatte ausgedehnte Propaganda gemacht für den Kultus der Vernunft und den Katholizismus energisch befehdet. Er war es, der mit Clootz den Bischof von Paris zur Niederlegung seiner geistlichen Funktionen bestimmte. Die Anklage wegen Irreligiosität wurde erst möglich, als der Konvent Robespierres sehr katholikenfreundliches Dekret über die »Freiheit der Kulte« angenommen hatte. – Chaumette war sehr gutmütig, er lebte ärmlich und war der Liebling der Armen. R. K. , der berühmte Prokurator der Gemeinde, sich zu seinem Kollegen Hébert in Widerspruch gesetzt und verlangt hatte, daß die eigensinnige Tyrannei der kleinen Revolutionskomités überwacht und durch die Beaufsichtigung des obersten Rates beschränkt würde. Unter diesem Banner von Mäßigung und nachsichtiger Gerechtigkeit hielt die neue Religion am 10. November ihren Einzug. Gossec hatte die Melodien gemacht, Chénier die Worte dazu geschrieben. Man hatte, so gut es ging, in zwei Tagen in dem sehr engen Chor von Notre Dame einen Tempel der Philosophie gebaut, den die Bildnisse der Weisen, der Väter der Revolution, schmückten. Ein Berg trug diesen Tempel; auf einem Felsen brannte die Fackel der Wahrheit. Die Behörden hatten ihren Sitz unter den Säulen. Nirgendwo sah man Waffen oder Soldaten. Zwei Reihen junger Mädchen, noch Kinder, bildeten den ganzen Schmuck des Festes; sie trugen weiße Kleider und waren mit Eichenlaub bekränzt und nicht, wie man behauptet hat, mit Rosen.

Die Vernunft, in weißem Kleide und himmelblauem Mantel, tritt aus dem Tempel der Philosophie hervor und nimmt auf einem einfachen Rasensitz Platz. Die jungen Mädchen singen ihr ihre Hymne; sie geht am Fuße des Berges vorbei und begrüßt die Anwesenden mit einem sanften Blick, einem sanften Lächeln. Sie kehrt zurück, und man singt noch einmal ... Man wartet ... Das war alles.

Eine keusche, triste, trockene, langweilige Zeremonie [ * ] Muß man versichern, daß dieser Kultus keineswegs der wahre Kultus der Revolution war? Sie war schon alt und müde, zu alt, um noch Neues in die Welt zu setzen. Dieser frostige Versuch vom Jahre 1793 stammt nicht aus ihrem heißen Busen, sondern aus den Denkerschulen der Zeit der Enzyklopädie.– Nein, dieses negative, Gott fremde Bild, mag es auch noch so edel und hoch sein, ist nicht das, was die Herzen und die Not der Zeiten verlangten. Den Helden und Märtyrern in ihren Mühen beizustehen brauchte man einen andern Gott als den der Geometrie. Der mächtige Gott der Natur selbst, Gott Vater und Schöpfer, (der vom Mittelalter verkannt wurde: vgl. die Monumente Didrons) hätte nicht genügt; die Offenbarung Newtons und Lavoisiers reichte nicht aus. Der Gott, der der Seele nottat, war der Gott heroischer Gerechtigkeit, durch den Frankreich, ein Priester in Waffen in Europa, die schlafenden Völker aus dem Grabe rufen sollte. Obwohl dieser Gott noch nicht genannt und in unseren Tempeln noch nicht angebetet wurde, folgten ihm unsere Väter nichtsdestoweniger in ihrem Kreuzzug für die Befreiung der Welt. Was würden wir heute ohne ihn sein? Mögen die Trümmer gehäuft, der Herd verloschen und zerstört sein, mag der Boden unter unseren Füßen weichen: auf ihm ruhen unerschütterlich unser Herz und unsere Hoffnung. .

Von Notre Dame ging die Vernunft zum Konvent; sie betrat ihn mit ihrem Geleit von unschuldigen Kleinen, weißgekleideten Mädchen; – die Vernunft, die Menschlichkeit und Chaumette, der sie führte als Lohn für den Mut, mit dem er am Abend vorher zur Gerechtigkeit aufgefordert hatte, stimmten völlig überein mit dem Empfinden der Versammlung.

Eine sehr freimütige Brüderlichkeit begann zwischen Gemeinde, Konvent und Volk. Der Präsident hieß die Vernunft neben sich Platz nehmen und gab ihr im Namen der Versammlung den Bruderkuß, und alle, einen Augenblick lang einig unter ihrem sanften Blick, hofften auf bessere Tage.

Eine fahle Nachmittagssonne, die im Brumaire so selten ist, drang in den dunklen Saal und erleuchtete die Schatten ein wenig. Die Anhänger Dantons verlangten, daß die Versammlung ihr Wort hielte, zur Notre Dame ginge und den Besuch der Vernunft erwiderte. Man erhob sich mit frischem Eifer.

Das Wetter war wunderbar schön, kalt und klar, wie schöne Wintertage zu sein pflegen. Der Konvent setzte sich in Bewegung, glücklich über dieses Licht der Einigkeit, das einen Augenblick lang zwischen so viel Zwietracht erschienen war. Viele nahmen mit vollem Herzen am Fest teil und meinten in gutem Glauben, die wahre Erfüllung der Zeiten darin zu erblicken.

Ihren Gedanken spricht ein Wort von Cloots in treffender Weise aus: »Der Hader weckende Föderalismus der Sekten schwand dahin in die Einheit und Unteilbarkeit der Vernunft.« [ * ] In dem Monat des Festes der Vernunft führte der Konvent auch den republikanischen Kalender ein, dessen Einteilung von Romme, und dessen Namen von Fabre d'Églantine herrührten: Vendémiaire, Brumaire und Frimaire (Weinmonat, Nebelmonat und Reifmonat) für den Herbst, vom 22. September bis 20. Dezember; Nivôse, Pluviôse und Ventôse (Schneemonat, Regenmonat und Windmonat) für den Winter, vom 21. Dezember bis 20. März; Germinal, Floréal und Prairial (Keimmonat, Blühmonat, Wiesenmonat) für das Frühjahr, vom 21. März bis 18. Juni; Messidor, Thermidor und Fructidor (Erntemonat, Hitzmonat und Fruchtmonat) für den Sommer, vom 19. Juni bis 16. September. Es folgten fünf »Sansculottentage« vom 17. bis 21. September. Jeder Monat war in drei Dekaden eingeteilt, die Tage hießen Primidi, Duodi, Tridi usw., der zehnte Tag, Decadi, war Feiertag. Er eröffnete eine neue Ära mit dem Tage der Verkündung der Republik in Frankreich, dem 22. September 1792. R. K.


 << zurück weiter >>