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Zweites Kapitel

Heldenmut aus Mitleid. Eine Frau zerstört die Bastille

Das erste Auftreten der Frauen auf der Bahn des Heldenmutes (außerhalb des Kreises der Familie) wurde – dessen mußte man gewärtig sein – durch eine Regung glühenden Mitleids veranlaßt.

Dergleichen geschah zu allen Zeiten; aber was dem großen Jahrhundert der Humanität eigen ist, das Neue und Unvergleichliche daran, das ist die erstaunliche Zähigkeit bei einem unendlich gefährlichen, schwierigen und unwahrscheinlichen Werk, eine unerschrockene Menschlichkeit, die der Gefahr trotzte, jedes Hindernis überwand und selbst die Zeit bändigte.

Und all das für ein Wesen, das zu andern Zeiten vielleicht niemanden interessiert hätte, für das nichts weiter sprach, als daß es Mensch und sehr unglücklich war!

Keine Sage ist tragischer als die vom Gefangenen Latude; keine erhebender als die von seiner Befreierin, Madame Legros.

Ich werde weder die Geschichte der Bastille, noch die so bekannte Latudes erzählen. Es genügt die Bemerkung, daß, während alle Gefängnisse erträglicher wurden, die Bastille immer unerträglicher geworden war. In jedem Jahre steigerte man die Härten, man mauerte die Fenster zu und erhöhte sie, man machte noch mehr Gitter.

Es fügte sich, daß die alte schwachköpfige Tyrannei in diesem Latude ihren leibhaftigen Ankläger eingekerkert hatte, einen feurigen, schrecklichen Menschen, den nichts zähmen konnte, dessen Stimme die Mauern erschütterte, dessen Geist und Kühnheit unüberwindlich waren. Er besaß einen eisenstarken, unverwüstlichen Körper, an dem alle Gefängnisse zuschanden wurden, die Bastille, Vincennes, Charenton, zuletzt die Schrecken von Bicêtre, in denen jeder andere umgekommen wäre.

Was diese seine Anklage schwer und drückend macht und keine Berufung zuläßt, das ist der Umstand, daß dieser Mann, der zweimal entwichen war, sich zweimal aufs Geratewohl selbst auslieferte. Einmal schrieb er von seinem Zufluchtsort an Frau von Pompadour, und sie läßt ihn wieder greifen. Das zweitemal geht er nach Versailles und will den König sprechen, kommt in sein Vorzimmer – und sie läßt ihn wieder greifen! Wie? So ist nicht einmal das Gemach des Königs ein geweihter Ort!

Es ist unglücklicherweise meine Pflicht, zu sagen, daß es in dieser weichlichen, schwachen, morschen Gesellschaft viele Philanthropen, Minister, Beamte, Grandseigneurs gab, die über das Ereignis weinten; niemand tat etwas. Malesherbes weinte, Lamoignon, Rohan, alle weinten heiße Tränen.

Er saß auf seiner Strohschütte in Bicêtre, buchstäblich von Flöhen aufgefressen, in einem unterirdischen Verließ, oft vor Hunger heulend. Er hatte noch einmal mit Hilfe eines betrunkenen Aufsehers ein Gesuch an irgend einen Philanthropen gerichtet. Dieser verliert es glücklicherweise, eine Frau hebt es auf. Sie liest es, schaudert, sie weint nicht, aber sie handelt augenblicklich.

Frau Legros war eine arme kleine Kurzwarenhändlerin, die von ihrer Hände Arbeit lebte und in ihrem Laden nähte; ihr Gatte war Privatlehrer und gab Nachhilfestunden im Lateinischen. Sie ließ sich furchtlos in diese gräßliche Sache ein. Sie sah mit ihrem gesunden Menschenverstand, was die anderen nicht sahen oder wohl nicht sehen wollten: daß der Unglückliche nicht verrückt war, sondern das Opfer einer abscheulichen Zwangslage der Regierung, dazu bestimmt, die Ruchlosigkeit ihrer früheren Verfehlungen zu verbergen und fortzusetzen. Das sah sie und ließ sich nicht entmutigen oder erschrecken. Kein Heldenmut ist vollkommener: sie hatte die Kühnheit zu handeln, die Kraft zu beharren, den Starrsinn, sich täglich und stündlich zu opfern, den Mut, Drohungen zu verachten, zudem den Scharfsinn und alle heiligen Listen, mit denen man die falschen Beschuldigungen der Tyrannen abwendet und vereitelt.

Drei Jahre nacheinander verfolgte sie ihr Ziel mit einer im guten unerhörten Hartnäckigkeit und setzte, Recht und Gerechtigkeit zu erlangen, jene sonderbare Verbissenheit des Jägers oder des Spielers daran, die wir sonst nur an unsere schlimmen Leidenschaften zu setzen pflegen.

Trotz allen Unglücks auf dem Leidenswege läßt sie nicht locker. Ihr Vater stirbt, ihre Mutter stirbt; sie verliert ihren kleinen Handel, sie wird von ihren Verwandten getadelt und häßlich verdächtigt. Man fragt sie, ob sie die Liebste des Gefangenen sei, für den sie sich so sehr interessiere. Die Liebste dieses Schattens, dieses von Krätze und Ungeziefer verzehrten Kadavers!

Und dann der Versuchungen schwerste, der Gipfel, die äußerste Spitze des Kalvarienberges: die Klagen, die Ungerechtigkeiten, das Mißtrauen desjenigen, für den sie sich verbraucht und opfert!

Ein hohes Schauspiel: diese arme, schlecht gekleidete Frau, wie sie von Tür zu Tür geht und mit den Bedienten schön tut, um die Häuser betreten zu können, ihre Sache vor den Großen zu führen und sie um Unterstützung zu bitten.

Die Polizei knirscht, entrüstet sich. Frau Legros kann in jedem Augenblick verhaftet, eingekerkert werden, für immer verloren sein. Jedermann warnt sie davor. Der Polizeileutnant läßt sie kommen, droht ihr. Sie bleibt standhaft, fest; schließlich macht sie ihn zittern.

Glücklicherweise verschafft man ihr die Unterstützung der Madame Duchesne, Kammerfrau der Prinzessinnen. Sie reist nach Versailles, zu Fuß, mitten im Winter; sie war im siebenten Monat schwanger. Die Beschützerin ist abwesend; sie eilt ihr nach, verstaucht sich den Fuß und eilt nichtsdestoweniger. Madame Duchesne weint sehr, aber ach! was kann sie tun? Eine Kammerfrau gegen zwei oder drei Minister, das ist ein ungleiches Spiel! Sie hält die Bittschrift in der Hand, ein Abbé vom Hof, der zufällig dasteht, nimmt sie ihr ab und sagt ihr, es handele sich um einen verächtlichen Irren und man solle sich nicht hineinmischen.

Ein ähnliches Wort genügt, um Marie Antoinette, der man von ihm erzählt hatte, zu erkälten. Sie hatte Tränen im Auge. Man machte einen Scherz. Und die Sache war vorbei.

Der beste Mann in Frankreich war der König. Schließlich ging man zu ihm. Der Kardinal Rohan, ein Zotenreißer, aber im übrigen ein wohlwollender Mensch, sprach dreimal mit Ludwig XVI., und dreimal lehnte der ab. Ludwig XVI. war zu gutmütig, um Herrn de Sartines, dem früheren Polizeileutnant, keinen Glauben zu schenken. Er war nicht mehr im Amt, aber das war kein Grund, ihn herabzuwürdigen und seinen Feinden auszuliefern. Von Sartines abgesehen, ist zu sagen, daß Ludwig XVI. die Bastille liebte, er wollte ihr nicht unrecht tun, ihren guten Ruf nicht gefährden.

Der König war sehr human. Er hatte die tiefen Zellen des Châtelet abgeschafft, er hatte Vincennes abgeschafft und la Force errichtet, um die Schuldgefangenen hineinzusetzen und sie von den Dieben zu trennen.

Aber die Bastille! die Bastille! Das war ein alter Diener, den die alte Monarchie nicht ohne weiteres schlecht behandeln konnte. Das war ein Mysterium des Schreckens, das war, wie Tacitus sagt, instrumentum regni.

Als der Graf von Artois und die Königin den »Figaro« [ * ] »Figaros Hochzeit« von Beaumarchais erschien 1779 und wurde fünf Jahre später, als der Widerstand des Königs endlich überwunden war, im Odéon in Paris mit ungeheurem Erfolge aufgeführt. Das Stück: wie der listige Figaro die Versuche des Grafen Almaviva, seine reizende Suzanne zu verführen, zu vereiteln weiß, ist eine verwegene Satire gegen die höfischen Sitten und gegen die Rechtspflege der Zeit. – Der »Figaro« ist die Fortsetzung des »Barbier von Sevilla«. Beide Stücke hat Mozart zu seinen gleichnamigen Opern verwendet. – Eine zweite Fortsetzung des »Barbier von Sevilla«: » La Mère coupable« blieb fast unbeachtet. R. K. spielen lassen wollten und dem König das Stück vorlasen, sagte er nur als Einwurf, auf den keine Antwort erwartet wurde: »Dann müßte man also die Bastille abschaffen!« Als im Juli 1789 die Revolution in Paris ausbrach, erschien der König ganz sorglos, um seinen Entschluß zu fassen. Als man ihm aber sagte, daß der Pariser Gemeinderat die Zerstörung der Bastille befohlen hatte, wirkte das auf ihn wie ein Schlag vor die Brust: »Ah!« sagte er. »Das ist ein starkes Stück!«

Er konnte nicht wohl im Jahre 1781 eine Bittschrift entgegennehmen, welche die Bastille bloßstellte. Er wies die zurück, welche Rohan ihm für Latude vorlegte. Frauen von hohem Rang drangen in ihn. Da machte er sich gewissenhaft an das Studium der Sache und las alle Papiere; es waren aber nur Polizeiakten vorhanden, Schriftstücke von Leuten, die ein Interesse daran hatten, das Opfer bis zum Tode im Gefängnis zu behalten. Er gab den endgültigen Bescheid, daß das ein gefährlicher Mensch sei, dem er niemals die Freiheit zurückgeben könne.

Niemals! Jeder andere hätte die Partie verloren gegeben. Nicht so Madame Legros. Sie blieb hartnäckig. Was sich nicht durch den König machen läßt, wird sich trotz des Königs machen lassen. Sie wird von den ewig unzufriedenen und murrenden Condés empfangen, vom jungen Herzog von Orléans, von seiner empfindsamen Gemahlin, der Tochter des guten Penthièvre; sie wird von den Philosophen empfangen, vom Marquis de Condorcet, dem ständigen Sekretär der Akademie der Wissenschaften, von Dupaty, von Villette, dem quasi Schwiegersohn Voltaires usw. usw.

Die öffentliche Meinung murrt dumpf; die Flut, die Flut steigt. Necker hatte Sartines verjagt; sein Freund und Nachfolger Lenoir war seinerseits gestürzt ... Bald wird die Beharrlichkeit den Sieg davontragen! Latude bleibt hartnäckig am Leben, und Madame Legros bleibt hartnäckig dabei, Latude zu befreien.

Der Mann der Königin, Breteuil, kommt im Jahre 1783; er hätte sie am liebsten anbeten lassen. Er erlaubt der Akademie, den Tugendpreis der Madame Legros zu verleihen, sie zu krönen, mit der sonderbaren Bedingung, daß man die Krone nicht begründe.

Dann, 1784, entlockte man Ludwig XVI. die Befreiung Latudes. Und einige Wochen darauf kam der sonderbare und bizarre Befehl, welcher den Intendanten vorschreibt, auf Verlangen der Angehörigen niemanden mehr einzuschließen, es sei denn aus wohlbegründeter Ursache, die Dauer der geforderten Haft genau anzugeben usw.; das bedeutete, daß man die Tiefe des monströsen Abgrundes der Willkür enthüllte, worin man Frankreich gehalten hatte. Das Land wußte schon viel davon, aber die Regierung bekannte noch mehr.

Madame Legros sah die Zerstörung der Bastille nicht mehr. Sie starb kurz vorher. Aber gleichwohl trägt sie den Ruhm, sie zerstört zu haben. Denn sie empfand zuerst die volkstümliche Vorstellung von Haß und Abscheu für das Gefängnis des gnädigsten Willens, das so viele Märtyrer des Glaubens und des Gedankens eingeschlossen hatte. Die schwache Hand einer armen, alleinstehenden Frau zerbrach in Wahrheit das stolze Bollwerk, riß die starken Steine, die massiven Eisengitter auseinander und schleifte die Türme. [ * ] Die wunderbaren Briefe Latudes sind noch nicht herausgegeben, mit Ausnahme des Wenigen, das Delort zitiert hat. Sie widerlegen nur allzu sehr die nichtige Polemik von 1787.


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