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Siebzehntes Kapitel

Charlotte Corday

Sonntag, den 7. Juli 1793 hatte man auf dem ungeheuren grünen Teppich der Wiese von Caen den Generalmarsch geschlagen und die Freiwilligen zusammenberufen, die nach Paris in den »Krieg gegen Marat« zogen [ * ] Nach dem Ausschluß der Girondisten aus dem Konvent am 2. Juni 1793 begaben sich viele Girondistenführer in die Bretagne und die Normandie, um das Volk zur Erhebung gegen die radikalen Parteien des Konvents zu bringen. Marat war besonders verhaßt. Ihm gab man die Schuld, daß die Revolution so außerordentlich blutig geworden war. Die Girondisten hatten jedoch in den Provinzen wenig Erfolg. Einige hundert Menschen kamen zusammen, erlitten im Gefecht bei Vernon eine Niederlage, und damit war die ganze Bewegung »gegen die Anarchie« gescheitert. R. K. . Dreißig Mann kamen. Die schönen Damen, die sich mit den Abgeordneten einfanden, waren über die kleine Zahl überrascht und wenig erbaut. Besonders ein junges Mädchen erschien tief betrübt; es war Fräulein Marie Charlotte Corday d'Armont, eine junge schöne Person, Republikanerin, aus einer verarmten adeligen Familie; sie lebte in Caen mit ihrer Tante. Pétion, der sie ein paarmal gesehen hatte, vermutete, daß sie zweifellos einen Liebhaber besaß, dessen Abreise sie traurig machte. Er machte einen plumpen Witz darüber und sagte: »Sie würden wohl noch trauriger sein, wenn sie nicht abreisten, nicht wahr?«

Der durch so viele Ereignisse abgestumpfte Girondist ahnte nicht das neue lebendige Gefühl, die heiße Flamme, die in diesem jungen Herzen lebte. Er wußte nicht, daß seine und seiner Freunde Reden, die in dem Munde erledigter Menschen eben nur Reden waren, in dem Herzen Fräulein Cordays Schicksal, Leben und Tod bedeuteten. Auf der Wiese von Caen, die hunderttausend Menschen faßte und auf der nur dreißig zusammengekommen waren, hatte sie etwas gesehen, was niemand sah: das verlassene Vaterland.

Da die Männer so wenig taten, so faßte in ihr der Gedanke Raum, daß es der Hand einer Frau bedürfe.

Fräulein Corday war von adeligster Herkunft; sie war die nahe Verwandte der Heroinen Corneilles, einer Chimene, Pauline und der Schwester des Horatius. Sie war die Urgroßnichte des Dichters des »Cinna«. Das Erhabene war ihrer Natur gemäß.

Im letzten Briefe vor ihrem Tode sprach sie vernehmlich genug aus, was in ihrem Geiste herrschte: in einem Worte, das sie unaufhörlich wiederholt, faßt sie alles zusammen: »Friede! Friede!«

Erhaben und nachdenksam wie ihr Onkel, wie die Normannen so oft, folgerte sie so: Das Gesetz ist der Friede an sich. Wer hat das Gesetz am 2. Juni getötet? Marat vor allem [ * ] Marat gehörte zu den wenigen, die vom Beginn der Revolution an eine energische und konsequente Änderung des alten Zustandes verlangten, die Kompromissen mit den früheren Mächten durchaus abgeneigt waren. Er war es, der in seinem »Ami du peuple« den berühmt gewordenen Satz schrieb, man würde nichts ausrichten, wenn man nicht zuvor ein paar tausend Aristokratenköpfe abschlüge. Auch vertrat er eine Reihe radikaler Neuerungen auf sozialem Gebiete und sympathisierte mit den Kommunisten. Die bürgerlichen Girondisten haßten den »Anarchisten« glühend, und Marat vergalt ihren Haß reichlich. Ihm waren die Girondisten das große Hemmnis für den Fortschritt der Revolution. Er bekämpfte sie daher aus allen Kräften und betrieb mit allen Mitteln ihren Untergang, als er befürchtete, sie würden überhaupt die Bewegung zum Scheitern bringen. Als Dumouriez' Verrat bekannt wurde, kamen die Dinge ins Rollen. Kühn bezichtigte Marat die Girondisten im Konvent der Mittäterschaft und wäre beinahe in offener Sitzung totgeschlagen worden, wenn ihn nicht seine Kaltblütigkeit gerettet hätte. Die gleiche Bezichtigung enthielt eine Adresse der Jakobiner, die Marat als Vorsitzender unterzeichnete. Nun brachte die Gironde eine Anklage wegen Aufreizung gegen Marat ein. Der Konvent beschloß tatsächlich die Erhebung der Anklage. Da aber das Volk auf seiten Marats stand und eine drohende Haltung einnahm, so wurde Marat vor dem Revolutionstribunal freigesprochen und im Triumph auf den Schultern seiner Anhänger durch die Straßen in den Konvent getragen. Um die Gironde war es jetzt geschehen. Marat organisierte den Aufstand vom 31. Mai und 2. Juni und setzte in der Nacht vom 30. zum 31., trotzdem darauf die Todesstrafe stand, mit eigener Hand die Sturmglocke des Rathauses in Bewegung. Sie läutete zum Untergang der Gironde (s. Einl.). – Seit Beginn der Revolution war Wasser und Brot Marats Nahrung. Er ist niemals der Gefahr aus dem Wege gegangen, mußte sich oft versteckt halten und wiederholt nach England fliehen. Bei seiner Ermordung stellte man den Bestand seines Vermögens fest: eine Assignatennote zu 25 Franken. R. K. . Wenn der Mörder des Gesetzes tot ist, so wird der Friede wieder blühen. Der Tod eines einzigen wird das Leben aller bedeuten.

Das war ihr einziger Gesichtspunkt. Um ihr eigenes Leben, das sie hinopferte, sorgte sie sich wenig.

Ein ebenso enger wie hoher Gesichtspunkt. Alles sah sie in einem Menschen; mit dem Lebensfaden eines einzelnen glaubte sie den unserer Mißgeschicke rund und glatt abzuschneiden, wie sie als fleißiges Mädchen den Faden ihrer Spindel zerschnitt.

Man darf in Fräulein Corday kein wildes Mannweib erblicken wollen, dem es auf Blut nicht ankam. Ganz im Gegenteil: um Blutvergießen zu verhüten, entschloß sie sich, den Dolch zu führen. Sie glaubte, eine ganze Welt zu retten, wenn sie den Würger erwürgte. Sie hatte ein weibliches, ein zartes und mildes Herz. Die Tat, die sie unternahm, war eine Tat des Mitleids.

In dem einzigen Bilde, das von ihr vorhanden ist, und das man kurz vor ihrem Tode gemacht hat, spürt man ihre außerordentliche Sanftheit. Nichts paßt weniger zu der blutigen Erinnerung, die ihr Name wachruft. Sie hat die Gestalt einer jungen normannischen Dame: eine jungfräuliche Gestalt, zart und frisch wie ein blühender Apfelbaum, wenn man so sagen darf. Sie erscheint viel jünger als ihre fünfundzwanzig Jahre. Man glaubt, ihre ein wenig kindliche Stimme zu hören und sogar die Worte, die sie in einer die schleppende Aussprache der Normandie verratenden Orthographie an ihren Vater schrieb: »Wollet verzeihen, lieber Papa ...«

Auf diesem tragischen Bilde erscheint sie unendlich gescheit, vernünftig und ernst, wie es die Frauen ihres Landes zu sein pflegen. Nimmt sie ihr Schicksal leicht? Keineswegs; nichts ist darin von falschem Heroismus. Man muß bedenken, daß sie eine halbe Stunde vor ihrem furchtbar schweren Gang stand. Hat sie nicht ein bißchen von einem schmollenden Kinde? Ich möchte es glauben; wenn man genau zusieht, so bemerkt man mit Überraschung auf ihrer Lippe ein leichtes Zucken, es ist beinahe ein »Mäulchen«. Wie! So gelassen ist sie angesichts des Todes, angesichts des barbarischen Feindes, der dieses wundervolle Leben, dem noch so viel Liebe und Erlebnis beschieden sein könnte, vernichten will? Man ist erschüttert, wenn man sie so sanft sieht, das Herz geht einem über, die Augen verschleiern sich; man muß den Blick abwenden.

Der Maler hat den Menschen ein Bild ewiger Sehnsucht geschaffen. Keiner kann sie ansehen, ohne im Herzen zu sprechen: »Ach, warum bin ich so spät geboren! ... Ach, wie hätte ich sie geliebt!«

Sie hat aschblondes, mildglänzendes Haar und trägt eine weiße Haube und ein weißes Kleid. Soll es ein Zeichen ihrer Unschuld und eine sichtbare Rechtfertigung sein? Ich weiß es nicht. Ihr Blick drückt Zweifel und Trauer aus. Ich glaube nicht, daß sie traurig ist über ihr Schicksal; vielleicht aber über ihre Tat. Der Standhafteste, der einen solchen Streich führt, sieht oft, wie stark auch sein Glaube sei, im letzten Augenblick sonderbare Zweifel in sich wachsen.

Wenn man recht in ihre traurigen, sanften Augen blickt, spürt man noch etwas anderes, was vielleicht ihr ganzes Geschick erklärt: sie war immer allein gewesen.

Ja, das ist das einzige Beunruhigende, das man bei ihr findet. In diesem reizenden, guten Wesen lebte eine dunkle Gewalt; der Dämon der Einsamkeit.

Zunächst hatte sie keine Mutter. Die starb frühzeitig; sie kannte nicht die Liebkosungen einer Mutter; ihr war in ihren ersten Jahren die süße Muttermilch versagt, für die es keinen Ersatz gibt.

Und, die Wahrheit zu sagen, sie hatte auch keinen Vater. Der, ein armer Landjunker, war ein utopischer und romantischer Kopf; er schrieb gegen die Mißstände, in denen der Adel lebte, und beschäftigte sich viel mit seinen Büchern und wenig mit seinen Kindern.

Man kann sogar sagen, daß sie keinen Bruder hatte. Wenigstens standen die beiden, die sie besaß, im Jahre 1792 den Ansichten ihrer Schwester so vollkommen fern, daß sie in das Heer von Condé [ * ] Gemeint ist die Festung Condé an der Ostgrenze. Diese hatten die Österreicher als Garantie von Dumouriez verlangt, daß er Belgien ohne Kampf räume und auf Paris marschiere, um dort die konstitutionelle Monarchie wieder herzustellen (März 1793). R. K. eintraten.

Und war sie nicht noch immer allein, als sie mit dreizehn Jahren in das Kloster Abbaye-aux-Dames in Caen getan wurde, wo man die Töchter des armen Adels aufnahm? Man darf es annehmen, wenn man weiß, wie sehr in diesen religiösen Anstalten, die Heiligtümer christlicher Gleichheit sein müßten, die Reichen die Armen verachten. Kein Ort erscheint geeigneter, die Traditionen des Hochmutes zu erhalten, als die Abbaye-aux-Dames. Von Mathilde, der Gattin Wilhelms des Eroberers, gegründet, beherrscht sie die Stadt und trägt in der Strenge ihrer hohen, übereinandergeschichteten romanischen Bogen noch heute das Gepräge feudalen Übermutes.

Die Seele der jungen Charlotte suchte zuerst Zuflucht in der Frömmigkeit, in den zarten Klosterfreundschaften. Sie liebte besonders zwei Fräulein, adelig und arm wie sie. Sie erhielt auch flüchtige Kenntnis von den Dingen der Welt. Eine sehr weltliche Gesellschaft junger Adeliger hatte zu dem Empfangszimmer des Klosters und den Salons der Äbtissin Zutritt. Ihre Seichtheit mußte dazu beitragen, das männlich feste Herz des jungen Mädchens in seiner Weltflucht und Einsamkeitsfreude zu bestärken.

Ihre wahren Freunde waren die Bücher. Die Philosophie des Jahrhunderts drang in die Klöster. Zufällige und wenig gewählte Lektüre: Raynal und Rousseau in bunter Mischung. »Ihr Kopf,« sagt ein Journalist, »war erhitzt von Lektüre aller Art.«

Sie gehörte zu denen, die ungestraft Bücher und Meinungen in sich aufnehmen können, ohne daß ihre Reinheit daran Schaden nimmt. Sie bewahrte in der Kenntnis des Guten und des Bösen eine sonderbare Gabe moralischer und gleichsam kindlicher Jungfräulichkeit. Das trat besonders in dem Klang ihrer Stimme zutage, welche fast wie die eines Kindes war, und aus deren metallischer Färbung man vollkommen den ganzen Menschen spürte, den noch nichts gebrochen hatte. Man konnte vielleicht die Züge Fräulein Cordays vergessen, aber niemals ihre Stimme. Jemand, der sie einmal bei einer belanglosen Gelegenheit in Caen hörte, hatte noch zehn Jahre später den Klang dieser einzigartigen Stimme im Ohr und hätte sie in Noten setzen können.

Diese verlängerte Kindheit war eine Eigenart Jeanne d'Arcs, die immer ein Mädchen blieb und niemals ein Weib wurde.

Was mehr als alles andere Fräulein Corday auffällig und unvergeßlich machte, war, daß diese kindliche Stimme einer ernsten Schönheit gehörte, die durch ihren Ausdruck männlich, obgleich in ihren Zügen zart war. Dieser Gegensatz hatte die doppelte Wirkung, zu verführen und Achtung einzuflößen. Man sah sie an, man näherte sich ihr; doch irgend etwas in dieser Menschenblume machte die Kühnen schüchtern, etwas, das nicht aus der Zeit stammte, sondern aus der Unsterblichkeit. Dahin ging sie und die wollte sie. Sie lebte schon unter den Helden in Plutarchs Elysium, unter denen, die ihr Leben hingaben, um ewig zu leben.

Die Girondisten hatten keinerlei Einfluß auf sie. Die meisten waren, wie wir gesehen haben, nicht mehr sie selbst. Zweimal sah sie Barbaroux [ * ] Die romantischen Geschichtsforscher entlassen ihre Heldin niemals, ohne den Nachweis zu versuchen, daß sie verliebt gewesen sein muß. Charlotte Corday, meinen Sie, hat wahrscheinlich Barbaroux geliebt. Andere sind auf die Aussage einer alten Magd hin auf einen gewissen Franquelin geraten, einen jungen, empfänglichen und begabten Menschen, der der hohen Ehre teilhaftig geworden sei, daß Fräulein Corday ihn geliebt und um seinetwillen Tränen vergossen habe. Das heißt die menschliche Natur schlecht kennen. Solche Taten bedingen eine strenge Jungfräulichkeit des Herzens. Die Priesterin von Tauris konnte nur darum das Messer in das Herz ihrer Opfer stoßen, weil keine Menschenliebe ihr eigenes Herz erweicht hatte. – Das tollste von allem leistet Wimpfen, der sie anfänglich zur Royalistin, zur Geliebten des Royalisten Belzunce gemacht! Der Haß Wimpfens gegen die Girondisten, die seine Vorschläge, den Engländer herbeizurufen, zurückwiesen, scheint seinen Geist verwirrt zu haben. Er versteigt sich zu der Behauptung, daß der arme, halbtote Pétion, der nur noch einen Gedanken, nämlich seine Kinder, hatte ... (man denke!) Caen anzünden wollte, um dieses Verbrechen dann der Montagne zur Last zu legen. Alles übrige steht auf der gleichen Höhe. als Abgeordneten der Provence und empfing einen Brief von ihm in den Angelegenheiten einer ihrer Freundinnen aus einer provenzalischen Familie.

Sie hatte auch Fauchet, den Bischof von Calvados, gesehen; als Priester, und zwar als unmoralischen Priester, liebte und achtete sie ihn wenig. Überflüssig zu sagen, daß Fräulein Corday keinerlei Beziehung zu einem Priester hatte und niemals beichtete.

Nach der Aufhebung der Klöster suchte sie, da ihr Vater wieder verheiratet war, Zuflucht bei einer alten Tante, Madame Breteville in Caen. Und dort faßte sie ihren Entschluß.

Faßte sie ihn ohne Schwanken? Nein; einen Augenblick lang wurde sie von dem Gedanken an ihre Tante zurückgehalten, diese gute alte Dame, die sie aufnahm, und die sie zum Danke dafür den größten Unannehmlichkeiten auszusetzen im Begriff war. Ihre Tante überraschte sie eines Tages, als sie eine Träne in den Augen hatte. »Ich weine,« sagte sie, »über Frankreich, über meine Eltern und über Sie. Wer ist, so lange Marat lebt, seines Lebens sicher?«

Sie verschenkte ihre Bücher mit Ausnahme eines Bandes Plutarch, den sie mit sich nahm. Auf dem Hofe begegnete sie dem Kinde eines im Hause wohnenden Arbeiters; sie schenkte ihm ihre Zeichenmappe, gab ihm einen Kuß und ließ noch eine Träne auf seine Wange fallen. Zwei Tränen! Damit hatte sie der Natur genug getan.

Charlotte Corday glaubte, nicht aus dem Leben scheiden zu sollen, bevor sie ihren Vater noch einmal gesehen hatte. Sie besuchte ihn in Argentan und empfing seinen Segen. Von da reiste sie in einem öffentlichen Fuhrwerk nach Paris, in Gesellschaft einiger Montagnards, große Bewunderer Marats, die sich sofort in sie verliebten und um ihre Hand baten. Sie stellte sich schlafend, lächelte und spielte mit einem Kinde.

Sie kam Donnerstag, den elften, mittags in Paris an und stieg im Hotel de la Providence, rue des Vieux Augustins Nr. 17, ab. Sie ging um fünf Uhr nachmittags zu Bett und schlief, müde wie sie war, bis zum folgenden Morgen den Schlaf der Jugend und eines friedlichen Gewissens. Ihr Opfer war vollbracht, ihre Tat in Gedanken ausgeführt; sie empfand weder Unruhe noch Zweifel.

Ihr Plan stand so fest, daß sie kein Bedürfnis fühlte, die Ausführung zu beschleunigen. Ganz ruhig ging sie zunächst an die Erfüllung einer Freundschaftspflicht, die als Vorwand für ihre Reise nach Paris gedient hatte. Sie hatte in Caen von Barbaroux einen Brief erhalten an dessen Kollegen Duperret, da sie, wie sie erzählte, durch seine Vermittlung aus dem Ministerium des Inneren Akten zurückziehen wollte, die ihrer emigrierten Freundin, Fräulein Forbin, nützlich werden konnten.

Am Morgen fand sie Duperret nicht; er war im Konvent. Sie kehrte nach Hause zurück und verbrachte den Tag in ruhiger Lektüre der »Lebensläufte« Plutarchs, dieser Bibel der Starken. Abends ging sie wieder zu dem Abgeordneten und fand ihn mit seiner Familie bei Tisch; seine Töchter waren beunruhigt. Er versprach ihr fest, sie am folgenden Tage zu begleiten. Sie war bewegt, als sie die Familie sah, die sie bloßstellen wollte, und sagte mit fast flehender Stimme zu Duperret: »Glauben Sie mir; reisen Sie nach Caen; fliehen Sie vor morgen abend!« In derselben Nacht und vielleicht schon, als Charlotte mit ihm sprach, wurde Duperret geächtet, oder wurde es doch beinahe. Nichtsdestoweniger hielt er sein Versprechen und führte sie am folgenden Morgen zum Minister, der sie nicht vorließ und ihnen schließlich zu verstehen gab, sie seien beide verdächtig und könnten dem emigrierten Fräulein nichts nützen.

Sie ging nur heim, um Duperret, der sie begleitete, in höflicher Weise zu verabschieden; dann ging sie sogleich wieder fort und ließ sich das Palais Royal zeigen. In diesem sonnigen, von einer fröhlichen Menge belebten Garten, unter den Augen der Kinder, suchte und fand sie einen Messerhändler und kaufte für vierzig Sous ein frisch geschliffenes Messer mit Ebenholzgriff, das sie in ihrem Brusttuch verbarg.

Nun ist sie im Besitz ihrer Waffe; wie wird sie sie gebrauchen? Sie wollte der Vollstreckung des Urteils, das sie über Marat gefällt hatte, eine große Feierlichkeit verleihen. Ihr erster Gedanke, den sie schon in Caen hatte, den sie sorgsam hegte und mit nach Paris brachte, war eine ergreifende dramatische Szene. Sie wollte ihn auf dem Marsfeld niederstoßen vor allem Volke, im Angesicht des Himmels; bei der Feier des 14. Juli, am Jahrestage des Untergangs des Königtums wollte sie diesen König der Anarchie strafen. Sie hätte als wahre Nichte Corneilles buchstäblich die berühmten Verse Cinnas befolgt:

»Er opfert morgen auf dem Kapitol. Er selber
Soll Opfer sein; so rächen wir an diesem Ort
Im Angesicht der Götter eine Welt an ihm.«

Da das Fest vertagt wurde, so änderte sie ihr Vorhaben, Marat an der Stätte seines Verbrechens zu strafen, an dem Ort, wo er, das Ansehen der Volksvertretung mit Füßen stampfend, den Spruch des Konvents diktiert und die einen zum Leben, die anderen zum Tode bestimmt hatte. Sie hätte ihn im Herzen der Montagne getroffen. Aber Marat war krank, er ging nicht mehr in die Versammlung.

Sie mußte also in seine Wohnung gehen, ihn an seinem Herde aufsuchen und trotz der Wachsamkeit seiner beunruhigten Umgebung einzudringen suchen; sie mußte, eine peinliche Sache, mit ihm in Verbindung treten und ihn täuschen. Nur das allein wurde ihr schwer, verursachte ihr Skrupel und Gewissensbisse.

Dag erste Briefchen, das sie an Marat schrieb, blieb unbeantwortet. Da schrieb sie noch ein zweites, in dem sich eine gewisse Ungeduld, eine Steigerung der Leidenschaft bemerkbar macht.

Sie erkühnt sich zu dem Satz, »daß sie ihm Geheimnisse enthüllen will, daß sie verfolgt wird, daß sie unglücklich ist«, und treibt unbedenklich Mißbrauch mit dem Mitleid, um den Mann zu täuschen, den sie wegen seiner Unbarmherzigkeit, weil er aller Menschlichkeit feind war, zum Tode verurteilte.

Sie brauchte übrigens diesen Fehltritt nicht zu tun; sie gab den Brief gar nicht ab.

Am Abend des 13. Juli ging sie um sieben Uhr von Hause fort, nahm ein öffentliches Fuhrwerk zum Platz des Victoires, fuhr über den Pont Neuf und stieg an der Türe Marats, rue des Cordeliers Nr. 20 (heute rue del' École-de-Médecine Nr. 18) ab. Es ist ein großes, düsteres Haus neben dem mit einem Türmchen versehenen Eckhaus.

Marat bewohnte das dunkelste Stockwerk in diesem dunklen Hause, die erste Etage, die bequemste für einen Journalisten und Volkstribunen, dessen Haus ebenso wie die Straße jedem offen steht, wo fortwährend Austräger und Zettelanschläger ein- und ausgehen, Korrekturbogen gebracht und geholt werden, wo ein beständiges Hin und Her von Menschen aller Art herrscht. Das Innere, die Möblierung, bot einen seltsam widerspruchsvollen Anblick, ein treues Abbild der Dissonanzen, die für Marat und sein Schicksal bezeichnend sind. In den sehr dunklen Zimmern, die auf den Hof hinausgingen, standen alte Möbel, schmutzige Tische, auf denen man die Zeitungen faltete; sie machten den Eindruck einer armseligen Arbeiterwohnung. Wenn man weiter hineinging, so wurde man überrascht von einem kleinen Salon, dessen Fenster auf die Straße wiesen; er hatte blau und weiße Damastmöbel, zarte und gefällige Farben, schöne Seidenvorhänge und Porzellanvasen, in denen gewöhnlich Blumen standen. Offenbar wurde er von einer Frau bewohnt, einer guten, aufmerksamen und zärtlichen Frau, die dem aufreibender Arbeit gewidmeten Manne sorgsam die Ruhestatt bereitete. Da steckt das Geheimnis in Marats Leben, das später von seiner Schwester enthüllt wurde: er war nicht zu Hause, er hatte kein »zu Hause« in dieser Welt. »Marat kam nicht auf seine Kosten (seine Schwester Albertine spricht); eine edle Frau, die seine Lage rührte, hatte den Freund des Volkes bei sich aufgenommen und verborgen, als er von Schlupfwinkel zu Schlupfwinkel floh; sie hatte ihm ihr Vermögen geopfert und ihre Ruhe für ihn hingegeben.«

Man fand in den Papieren Marats ein Heiratsversprechen für Catherine Évrard. Er hatte sie schon zu seiner Gattin gemacht »im Antlitz der Sonne und der Natur«.

Dieses unglückliche, vor der Zeit gealterte Geschöpf verzehrte sich in Unruhe. Sie spürte den Tod um Marat, sie wachte an den Türen, sie hielt jedes verdächtige Gesicht auf der Schwelle zurück.

Fräulein Corday sah völlig unverdächtig aus; ihre sittsame Tracht eines Fräuleins aus der Provinz nahm für sie ein. In jener Zeit, wo alle Dinge übertrieben wurden, wo die Kleidung der Frauen entweder nachlässig oder schamlos war, erschien das junge Mädchen wie von gutem alten, normannischen Schlage; sie trieb keinen Mißbrauch mit ihrer Schönheit, ihr prächtiges Haar hatte sie unter der bekannten Haube der Frauen von Calvados mit einem grünen Bande zusammengerafft, ihre Haartracht war bescheiden, weniger prunkend als die der Damen von Caux. Gegen den Brauch der Zeit war ihr Busen, trotz der Julihitze, streng verhüllt mit einem seidenen Tuche, das hinten an der Taille solide verknotet war. Sie trug ein weißes Kleid, keinen anderen Luxus als den, der die Frau wohlgefällig macht, die Bänder der Haube flatterten um ihre Wangen. Übrigens war sie keineswegs blaß, ihre Wangen waren rosig, ihre Stimme sicher, ohne jedes Zeichen von Erregung.

Sie ging festen Schrittes durch die erste Schranke, ohne auf den Zuruf der Türhüterin stehen zu bleiben, die sie vergeblich zurückrief. Sie hielt die wenig wohlwollende Prüfung Katherinens aus, die auf das Geräusch hin die Türe halb geöffnet hatte und sie am Eintritt hindern wollte. Marat hörte den Wortwechsel, und der Klang dieser vibrierenden, metallenen Stimme drang zu ihm. Er hatte durchaus keine Angst vor Frauen, und obwohl er im Bade war, befahl er gebieterisch, man solle sie eintreten lassen.

Das Zimmer war klein und dunkel. Da Marat im Bade saß, mit einem schmutzigen Tuche bedeckt war und vor sich ein Brett hatte, auf welchem er schrieb, so waren nur der Kopf, die Schultern und der rechte Arm frei. Seine fettigen Haare, die mit einem Taschentuch oder einem Handtuch umwunden waren, seine gelbe Haut und seine dünnen Glieder, sein großer Froschmund gaben nur eine schwache Vorstellung davon, daß dieses Wesen ein Mensch war. Übrigens kann man wohl annehmen, daß das junge Mädchen nicht darauf achtete. Sie hatte Nachrichten aus der Normandie versprochen, er ersuchte sie darum und fragte besonders nach den Namen der nach Caen geflohenen Abgeordneten; sie nannte diese, und er schrieb sie entsprechend auf. Als er zu Ende war, sagte er: »Es ist gut! In acht Tagen kommen sie auf die Guillotine!«

Charlotte, die bei diesen Worten ihre Kraft wachsen fühlte und ein Recht zuzustoßen, zog das Messer aus ihrem Busen und trieb es ganz bis ans Heft in Marats Herz. Der Stoß, der so von oben geführt wurde und mit außergewöhnlicher Sicherheit traf, drang nahe beim Schlüsselbein ein, durchschnitt die ganze Lunge, öffnete die Hauptschlagadern und entfesselte einen mächtigen Strom von Blut.

»Rasch her zu mir, liebe Freundin!« Das war alles, was er sagen konnte; dann starb er.


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