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Neunzehntes Kapitel

Das Palais-Royal im Jahre 1793. Die Salons.
Wie die Gironde erschlaffte

Die allzu heftigen Aufregungen, die gewaltsamen Wechselfälle, die Stürze und Umstürze hatten nicht nur den moralischen Nerv zerbrochen; sie hatten, scheint's, bei vielen Menschen das Gefühl abgestumpft, das alle anderen überdauert: das Lebensgefühl; man hätte es für sehr stark halten sollen bei diesen Menschen, die sich so blindlings in Vergnügungen stürzten; oft war das Gegenteil der Fall. Viele wählten, gelangweilt, angewidert und sehr wenig erwartend vom Leben, als ihre Art des Selbstmordes das Vergnügen. Das konnte man vom Beginn der Revolution an beobachten. In dem Maße, wie eine politische Partei schwächer wurde, erkrankte und abstarb, dachten die Männer, die sie gebildet hatten, nur noch daran zu genießen: so ging es Mirabeau, Chapelier, Talleyrand, Clermont-Tannerre und dem Klub von 1789, der bei dem ersten Restaurateur des Palais-Royal, neben den Spielsälen, seinen Versammlungsort hatte: die glänzende Sippschaft war nur noch eine Gesellschaft von Spielern. Ebenso besuchten die Häupter der gesetzgebenden Versammlung und des Konvents, so viele Männer, die der Lauf des Verhängnisses zu Fall gebracht hatte, diese Lasterhöhlen, um sich zu trösten und zu vergessen. So lebendig war dieses Palais Royal, so völlig in blendendes Licht, in Luxus und Gold getaucht, so voll von schönen Frauen, die die Männer ansprachen und sie baten, glücklich zu sein und das Leben zu genießen! Und doch, was war es in Wirklichkeit anders als ein Haus des Todes?

Der war da, in allen Gestalten und mit den schnellsten Wirkungen. Auf der Freitreppe waren die Geldmakler und auf den Holzgalerien die Mädchen. Die ersteren hockten bei den Weinhändlern und in den kleinen Cafés und boten wohlfeil die Mittel an, mit denen man sich ruinieren konnte. Von dem Inhalt der Brieftasche, der auf der Stelle in gangbare Münze umgesetzt wurde, blieb ein großer Teil auf der Freitreppe, ein anderer in den Cafés, ein dritter in den Spielsälen der ersten Etage, der Rest in der zweiten. Oben saß man auf dem Trocknen; alles war verpufft.

Man lebte nicht mehr in den ersten Zeiten des Palais-Royal [ * ] Der Besitzer des Palais-Royal war der Herzog von Orléans, Philipp Égalité. Seine Vergnügungen und seine Politik verschlangen ungeheures Geld. So vermietete er das Palais und die Gärten an Kaufleute, Cafétiers und Unternehmer aller, auch der zweifelhaftesten Art, und zog sehr hohe Zinsen daraus. R. K. , wo seine Cafés die Kirchen der beginnenden Revolution waren, wo Camille im Café de Foy den Kreuzzug predigte. Es waren nicht mehr die Kinderjahre der Revolution, wo der gute Fauchet im Zirkus die Lehre der »Freunde« verkündete und die philanthropische Gesellschaft des »Zirkels der Wahrheit« ihre große Rolle spielte. Die Cafés, die Restaurationen waren sehr besucht, aber düster. Einige dieser berühmten Buden sollten Grabstätten werden. Der Restaurateur Février sah in seinem Hause, wie Saint-Fargeau getötet wurde. Ganz in der Nähe, im Café Corraza, wurde der Untergang der Gironde angezettelt.

Leben, Tod, schnelles, übermäßiges, gezwungenes Vergnügen, würgendes Vergnügen, das ist das Palais-Royal vom Jahre 1793.

Spiele mußten sein, man mußte sich selbst auf einer einzigen Karte ganz verspielen, sich mit einem Schlage zugrunde richten können.

Mädchen mußten sein, doch nicht die armseligen Strichgängerinnen, die man in den Straßen sieht, und die dazu angetan sind, die Männer in der Enthaltsamkeit zu bestärken. Die Mädchen, die man damals ausführte, waren gewählt, wie man auf den normannischen Weiden die größten Tiere auswählt, wenn man so sagen soll, blühend von Fleisch und Leben, wie man sie auf dem Karneval zeigt. Mitten im Winter mit nacktem Busen, mit nackten Schultern und Armen, auf den Kopf riesige Blumensträuße getürmt, ragten sie über die ganze Menge der Menschen hinweg. Die Greise erinnern sich, daß sie in der Zeit zwischen der Schreckensherrschaft und dem Konsulat vier kolossale, ungeheure Blondinen gesehen haben, wahre Riesinnen der Prostitution, die mehr als jeder andere die Last der revolutionären Orgie auf ihren Schultern getragen haben. Mit welcher Verachtung sahen sie auf das Hin und Her des Schwarmes der Modedämchen in den Holzgalerien, deren witziger Gesichtsausdruck und pikantes Liebäugeln nur geringen Ersatz bot für ihre Magerkeit!

So sah es in den sichtbaren Teilen des Palais-Royal aus. Wer aber die beiden Täler von Gomorrha durcheilt wäre, die rings herumgingen, oder die neun Stockwerke der Passage Radziwill, einen wahren Turm von Sodom, erstiegen hätte, der hätte noch ganz andere Dinge gefunden. Viele zogen diese dunklen Höhlen vor, die finstern Löcher, kleinen Spelunken, Kammern, Sackgassen, die Keller, die tagsüber durch Lampen erleuchtet waren und die der dumpfe Geruch alter Häuser völlig durchzog, der sogar in allem Prunke von Versailles schon unten an der Treppe in die Nase drang. Als man die alte Herzogin von D., die im Jahre 18l4 in die Tuilerien zurückkehrte, beglückwünschte und ihr zeigte, wie nun die gute alte Zeit gänzlich zurückgekommen sei, erwiderte sie betrübt: »Ja, aber hier herrscht nicht der Duft von Versailles.«

Das ist die schmutzige, faule, dunkle Welt lasterhaften Genusses, in die sich eine Menge Männer geflüchtet hatten, Gegenrevolutionäre die einen, die anderen überhaupt parteilos, Angewiderte, Gelangweilte, durch die Ereignisse Zerbrochene, die weder Kopf noch Herz mehr hatten. Jene waren darauf angewiesen, sich bei Spiel und Weibern ein Alibi zu schaffen in den Stürmen der Zeit. Sie kapselten sich da ein, fest entschlossen, nicht mehr zu denken. Das Volk starb vor Hunger und die Armee vor Kälte; was kümmerte es sie? Feinde der Revolution, die Opfer von ihnen verlangte, schienen sie sagen zu wollen: »Wir sind in deinen Vorratskellern; du kannst uns nacheinander auffressen, morgen mich, heute den. Einverstanden! Aber uns zu Männern zu machen, unser Herz aufzuwecken, uns edelmütig und für die unendlichen Leiden der Welt empfänglich zu machen, das raten wir dir bleiben zu lassen.«

Nun sind wir in die tiefsten Tiefen des Egoismus getaucht, haben den Pfuhl geöffnet und in die Kloake geblickt. Genug! Wenden wir den Blick ab! Und merken wir uns wohl, daß wir dennoch nicht zu Ende sind. Wenn wir höher hinaufsteigen, so geschieht es in unmerklichen Übergängen. Zwischen den Freudenhäusern und den damals zahllosen Spielhöllen besteht wenig Unterschied, da die Spielbänke meistens von zweideutigen Damen gehalten werden. Dann kommen die Salons der Schauspielerinnen und dem Range nach gleich daneben die der Schriftstellerinnen und politischen Intrigantinnen. Eine traurige Stufenleiter, wo ein Höher kein Besser bedeutet. Die niedrigste Stufe ist vielleicht noch die ungefährlichste. Die Freudenmädchen: das bedeutet Vertierung und die Straße zum Tode. Die Damen hier: das bedeutet meistens eine andere und schlimmere Art des Todes, ein Sterben des Glaubens und der Grundsätze, ein Erschlaffen der Meinungen, eine verhängnisvolle, verweichlichende Kunst, eine Verderbnis der Charaktere.

Man stelle sich Menschen vor, die den Boden von Paris nicht kennen und in eine solche Welt versetzt werden, wo alles darin einig ist, sie schwach zu machen und zu entwerten, ihnen den Nerv des Bürgertums, die Begeisterung und die Härte, auszureißen. Die Mehrzahl der Girondisten verlor unter diesem Einfluß zwar nicht die Kampfesfreudigkeit, den Mut und die Kraft zu sterben, sondern vor allem die des Sieges, den festen und starken Entschluß, ihn um jeden Preis zu erringen. Sie wurden sanftmütig und hatten nicht mehr »die Herbe im Blut, mit der man Schlachten gewinnt«. Da das Vergnügen der Philosophie an die Seite trat, so entsagten sie. Und sobald ein Politiker entsagt, ist er verloren.

Diese zum großen Teil sehr jungen Leute, die bis dahin in der Verborgenheit der Provinzen vergraben gewesen waren, sahen sich plötzlich in helles Licht gerückt, einem ihnen ganz neuen Luxus gegenüber, in Schmeicheleien und Verhätschelungen der eleganten Welt eingewickelt. Diese Schmeicheleien und Verhätschelungen waren um so wirksamer, als sie oft aufrichtig waren; man bewunderte ihre Energie und man brauchte sie so nötig! Besonders die Frauen, die besten Frauen haben in solchen Fällen einen gefährlichen Einfluß, dem niemand widersteht. Sie wirken durch ihre Anmut, oft noch mehr durch das rührende Interesse, das sie einflößen, durch ihre Furcht, die man beruhigen will, durch das Glück, sich bei einem Menschen sicher zu fühlen, das sie tatsächlich empfinden. Ein solcher Mann kam wohl behütet an, gewappnet und gepanzert, fest gegen jede Verführung; nichts hatte Schönheit allein dagegen ausgerichtet. Aber was soll man tun, wenn eine Frau Furcht hat und es ausspricht, wenn sie uns bei der Hand nimmt und sich an uns schmiegt: »Ach, mein Herr! Ach, lieber Freund! Sie können uns noch retten. Sprechen Sie für uns, ich bitte Sie; beruhigen Sie mich, tun Sie den und den Schritt für mich, halten Sie die und die Rede. Für andere würden Sie das nicht tun, das weiß ich; aber für mich werden Sie es tun. Hören Sie, wie mein Herz schlägt!«

Diese Damen waren sehr geschickt. Sie hüteten sich im Anfang wohl, ihren Hintergedanken zu zeigen. Am ersten Tage sah der junge Mann nur gute, gemäßigte, anständige Republikaner in ihren Salons. Schon am zweiten stellte man ihm Feuillantiner und Anhänger Lafayettes vor. Dann lüftete man für einige Zeit den Schleier nicht weiter. Dann, wenn man seiner Macht sicher war, wenn man das schwache Herz gewonnen und die Augen und Ohren an die feinen Unterschiede in diesen wenig republikanischen Gesellschaften gewöhnt hatte, zeigte man das wahre Gesicht, und die alten royalistischen Freunde kamen zum Vorschein, für die man gearbeitet hatte. Und der arme junge Mann, der so ganz rein nach Paris gekommen war, konnte sich glücklich schätzen, wenn er nicht, ohne es zu ahnen, unter die adeligen Spione, unter die Intriganten von Coblenz geraten war.

Die Gironde fiel so beinahe ganz in die Netze der pariser Gesellschaft. Man verlangte von den Girondisten nicht, daß sie Royalisten wurden, sondern man wurde selbst Girondist. Diese Partei wurde allmählich das Asyl des Royalismus, die schützende Maske, unter der sich die Gegenrevolution im Angesicht der Revolution selbst in Paris halten konnte. Die Geldleute und Bankiers hatten sich geteilt, die einen waren Girondisten, die anderen Jakobiner. Indessen schien ihnen der Übergang von ihren früheren, allzubekannten, zu den republikanischen Ansichten von der Gironde aus leichter. Besonders waren die Salons der Künstler und der Modedamen ein neutraler Boden, auf dem wie durch Zufall Bankiers und Politiker zusammentrafen, miteinander plauderten, sich besprachen und schließlich ohne weitere Vorstellung in Verbindung traten.

Aber die reinsten Beziehungen, die von Intrige am weitesten entfernt waren, die der wahren Liebe, trugen ebenfalls dazu bei, die Kraft der Gironde zu brechen. Die Liebe Fräulein Candeilles stand in engem Zusammenhang mit dem Verderben Vergniauds. Die Befangenheit des Herzens vermehrte seine Unentschiedenheit, seine natürliche Trägheit. Man sagte, daß seine Seele oft anderswo umherzuirren schien. Das war nicht unbegründet. Diese Seele wohnte in einer Zeit, wo das Vaterland sie völlig in Anspruch hätte nehmen müssen, in einer anderen Seele. Das süße, schwache Herz einer Frau hielt das löwenkühne Herz Vergniauds gleichsam fest umfaßt. Die Stimme und die Harfe Fräulein Candeilles, der schönen, guten, anbetungswürdigen, hatten ihn bezaubert. Obwohl er arm war, wurde er von derjenigen geliebt und vorgezogen, die bei der Menge in hoher Gunst stand. Die Eitelkeit hatte bei beiden keinen Teil daran, weder die Erfolge des Redners noch die der jungen Dichterin, von der ein Stück hundertfünfzig Aufführungen erlebte.

Diese hinreißend schöne Frau, voll von sittsamer Anmut, rührend durch ihr Talent, durch ihre inneren Tugenden, durch ihre zärtliche Kinderliebe, hatte sich um dieses faule Genie, dessen hohe Gaben schliefen, gemüht und es geliebt; sie, der die Menge anhing, hatte alles verlassen, um ihm zu folgen. Vergniaud hatte sich lieben lassen; er hatte sein Leben in dieser Liebe eingehüllt und träumte in ihrem Schutze weiter. Doch er war all zu scharfsichtig, um nicht zu sehen, daß sie beide am Rande eines Abgrunds entlang gingen, in den sie zweifellos stürzen mußten. Traurig war es auch, daß er diese vollkommene Frau, die sich ihm hingegeben hatte, nicht schützen konnte. Ach! sie gehörte dem Publikum; ihr Mitleid, die Notwendigkeit, ihre Eltern zu unterstützen, hatten sie zur Bühne geführt und den Zufällen einer so bewegten Welt ausgesetzt. Sie, die nur einem einzigen gefallen wollte, mußte allen gefallen, mußte unter diese sensationslüsterne, freche, unmoralische Menge den Schatz ihrer Schönheit verteilen, auf den nur einer Anspruch hatte. Das war demütigend und schmerzlich! Und furchtbar war es auch, angesichts der Parteiungen davor zittern zu müssen, daß die Hinopferung eines Weibes jeden Augenblick ein grausames Spiel der Faktionen, ein barbarisches Vergnügen werden konnte.

Da hatte der große Redner seine wunde Stelle. Da hatte er Furcht, der sonst nichts fürchtete. Da schützte weder Panzer noch Rock noch sonst etwas sein Herz.

Diese Zeit liebte die Gefahr. Mitten während des Prozesses gegen Ludwig XVI., unter den mörderischen Blicken der Parteien, die sich für den Tod aussprachen, enthüllten sie der Allgemeinheit die Stelle, an der sie zu packen war. Vergniaud hatte gerade den größten seiner Triumphe erlebt, den Triumph der Menschlichkeit. Fräulein Candeille selbst hatte auf der Bühne ihr eigenes Stuck gespielt: »Die schöne Pächterin.« Sie riß das entzückte Publikum mit fort, weit weg von allen Ereignissen, in eine milde und friedliche Welt, wo man alles vergaß, selbst die Gefahr des Vaterlandes.

Der Versuch gelang. »Die schöne Pächterin« hatte ungeheuren Erfolg; die Jakobiner selbst verschonten diese reizende Frau, die allen das Opium der Liebe, den Trank aus Lethe einflößte. Der Eindruck war nichtsdestoweniger für die Gironde wenig günstig. Das Stück der Freundin Vergniauds enthüllte allzusehr, daß seine Partei eher die der Menschlichkeit und der Natur, als die des Vaterlandes war, daß sie den Besiegten Schutz gewähren würde, und daß schließlich diese Partei nicht die unbeugsame Härte besaß, dessen die Zeit bedurfte.


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