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Herzog Goethe

Der liebereiche Goethe hat bekanntlich mindestens einmal gesagt, wahrhaft geliebt habe er unter all den Frauen und Mädchen nur Lili Schönemann. Zur Blütezeit dieser Liebe, auf der Schweizerreise von 1775, kam Goethe in das Kloster Einsiedeln; in der Schatzkammer des Klosters fiel ihm eine kleine Zackenkrone von kunstreicher Arbeit auf. »Er erbat sich die Erlaubnis, das Krönchen hervorzunehmen; und während er es in die Höhe hielt, kam ihm mit visionärer Bestimmtheit der Gedanke, er müsste es Lili auf die hellen, glänzenden Locken drücken … Ist das nicht ein grossartiges Symbol für die Zukunft, der Goethe mit Lili hätte entgegengehen können? Glorreiche Perspektiven glühten vor ihm auf, wenn er ihr treu blieb. Diese Bankiersfamilie hätte ihm das mächtigste materielle Fundament gegeben, die grosse diplomatische Karriere stand ihm offen, und er wäre bei der andauernd konservativen Zeit der unabhängigste Mensch gewesen, mit einer fürstlichen Frau an der Seite, die seine Familie in eine Hofhaltung verwandelt hätte. Die Krone von Einsiedeln lässt an Napoleon denken, der seine Gemahlin in Notre Dame eigenhändig krönte. Dieser Mann erreichte es. Im Dom von Frankfurt hat Goethe als Junge einen Kaiser krönen sehen – es wäre ein Traum, goldener denn alles, was Menschenseelen bisher ahnten, wenn Goethe in seinem heimatlichen Dom die Herzogin-Gemahlin Lili mit dem Kronreif geschmückt hätte. Hätte Goethe Lili geheiratet, so wäre es nicht unmöglich gewesen, dass er Herzog von Frankfurt ward. Napoleon und die grosse Revolution hätten ihn auf den Thron gehoben. Eine Dynastie Goethe am Rhein war keine Unmöglichkeit. Dieser Traum ist zu schön, um nicht einmal geträumt zu werden.«

Diese absonderliche Phantasie konnte nur von einem Manne ausgehen, der Nietzsches »Willen zur Macht« auch im Leben der grossen Dichter suchte und darum fand. Der Schüler Nietzsches, der etwas verspätet die Verheiratung von Goethe mit Lili Schönemann als eine Notwendigkeit gefordert und den Bräutigam dafür mit dem Titel eines Herzogs honoris causa belohnt hat, ist Julius Zeitler, von dem wir ganz lesenswerte Bücher über Taines und Nietzsches Kunstphilosophie besitzen. In einem neuen Werk »Taten und Worte, ein Stück Literaturpsychologie« gibt er eigene und anempfundene Gedanken über das Verhältnis von Dichtern und Volkslenkern, von Wortmenschen und Tatmenschen. Das, was Goethe gelebt habe, sei tausendmal besser, als was er gedichtet habe; es sei zu untersuchen, was dieser Mensch mit den Möglichkeiten, die ihm zur Formung seines Lebens zur Verfügung standen, gemacht habe. Zeitler ist nicht ein gelehrter Philister, wie Dubois-Reymond einer war, als er bedauerte, dass Goethes Faust lieber ein Liebesglück mit Gretchen genoss, anstatt die kostbare Zeit durch Erfindung der Luftpumpe nützlich anzuwenden. Zeitler treibt in seiner Phantasie immerhin Geniekultus. Goethe wäre – so meint er – zum thüringischen Bismarck der Befreiungskriege prädestiniert gewesen; für seine realen Machtgelüste war das Herzogtum Weimar zu klein, zudem engten ihn Hof und Adel ein; die Erfüllung des Machtideals Hess in der Wirklichkeit zu wünschen übrig; es verwandelte sich in ein Dichtungsideal. »Damit begann die Metamorphose Goethes in den Theaterdirektor und Hofschauspieler – der blutigste Fall von Selbstironie, den die Geistesgeschichte kennt.«

Die anregenden Ausführungen Zeitlers haben kaum ein anderes Verdienst, als dass sie auf gelegentliche Stimmungen Goethes mit Nachdruck hinweisen und gegenüber dem Byzantinismus der Goethe-Philologie die Fehler des Kunstwerkes nicht verschweigen, als das uns Goethes Leben immer wieder dargestellt wird. Eine Debatte über die Frage, ob Goethe seine Lili Schönemann hätte heiraten sollen oder nicht, ist ohne groteske Komik im Ernste nicht zu führen. Und die Literaturpsychologie, die uns einen Herzog Goethe schaffen möchte, könnte leicht auf die Bahnen Dubois-Reymonds geraten. Wenn ich den schönen Traum Zeitlers zu Ende träumen soll, den Traum von einer Dynastie Goethe am Rhein, so sehe ich die wenig imponierenden Gestalten der Enkel Goethes vor mir. Deutschland hat Serenissimi genug. Es braucht nicht auch noch Serenissimi aus dem Hause Seiner Hoheit des Herzogs Goethe. Goethe war als Minister des kleinen Weimar ein tüchtiger, arbeitsamer Mann; solcher Minister gibt es viele. Von Geburt, von Beruf war Goethe weder Herzog noch Minister, sondern nach einer weitverbreiteten Ueberzeugung Dichter. Die Verehrer Goethes sind geneigt, nicht nur seine ministerielle Tätigkeit, sondern sogar manche wissenschaftliche Liebhaberei zu beklagen, die ihn vom Hauptgeschäfte seines Lebens abzog. Die Hofhaltung hätte den Herzog Goethe noch mehr abgezogen. Wir wollen uns aus Goethe keinen Herzog machen lassen. Wir haben in Deutschland und anderswo sehr viele Herzoge, die nichts zu sagen haben; wir haben in der ganzen Weltliteratur nur einen Goethe, der den »Faust« zu sagen hatte.

Die posthume Forderung eines Herzogtitels für Goethe ist dennoch beachtenswert, weil sie charakteristisch ist für unsere Zeit. Hofhaltung! Das ist ungefähr seit dem grossen Kriege und den Milliardenjahren das allzu menschliche Ideal, das unseren grossen und kleinen Talenten, unseren Künstlern und unseren Theaterschreibern mehr und mehr als Ziel vorschwebt, weil sie sich alle für Genies halten und ein jeder mit seiner eigenen lieben Person einen Geniekultus treibt. Die Herren scheinen sich nicht wohl zu fühlen, wenn sie nicht mit Millionären wetteifern können, der eine im ganzen Zuschnitt des Hauses, der andere meinetwegen nur in irgendeinem künstlerischen Luxus, der dritte gar vielleicht schüchtern in kostbaren Halsbinden. Jeder möchte Herzog spielen und wär's auch nur durch Schlipse. Dabei möchte ich gesteigerte Ansprüche in der Freude an den drei W, Wein, Weiber und Würfel, nicht einmal streng beurteilen, weil da ein altes Gewohnheitsrecht der Künstler und Poeten, weil da das Zigeunerblut mitspricht. Aber die Hofhaltung! Wenn man an die bescheidene Lebensführung von Lessing und Schiller, von Mozart und Beethoven, von Kant und Schopenhauer denkt, wenn man die Nahrungssorgen oder doch die knappen Verhältnisse (auch Schopenhauer war gerade nur unabhängig gestellt) dieser Helden mit ihren Leistungen vergleicht, dann fragt man wohl mit grimmigem Lachen: was berechtigt die mittelmässigen oder guten Musikanten, die sich selber die Herzogskrone des Genies aufgesetzt haben, zu ihren masslosen Ansprüchen ans Leben?

Ein grosses Beispiel hat sie dazu scheinbar berechtigt, sicherlich verführt. Richard Wagner. Ueber den Einfluss Wagners auf die Musik unserer Zeit mitzusprechen, dazu habe ich kein Recht. Aber man müsste blind und taub sein, um den Einfluss nicht wahrzunehmen, den dieses gefährliche Beispiel auf die Lebensführung unserer Künstler und Kunsthandwerker seit vierzig Jahren im beschleunigten Tempo geübt hat. Es ist an der Zeit, diesem Galopp ein Halt zuzurufen. Denn der Taumel wird bald alle ergriffen haben, die von sich reden machen wollen, die eine Gemeinde um sich sehen wollen. Es ist, als ob die Zeit für immer vorüber wäre, wo ein schöpferischer Geist sein Werk ausreifen Hess, es dann stillschweigend den Mitlebenden schenkte, stolzbescheiden beiseite trat und der Wirkung wie aus der Ferne zusah. Ob er wirklich das Glück der Ruhe empfand, ob ihn Freude oder Kummer über die Stimmen der Zeit bis ins Mark erschütterten, ob ein Herzogstraum oder Todessehnsucht der innere Lohn der Arbeit war, das erfuhren die Zeitgenossen nicht. Aus Briefen hat man es nachher erfahren. Diese Zeit scheint vorüber. Was einst dem Greise allein beschieden war, einem Voltaire, einem Goethe, was den besten Männern versagt blieb, wenn sie kein hohes Alter erreichten, der Triumph inmitten eines jubelnden Volkes, das erstreben heute junge Leute nach den ersten Tageserfolgen. Das wird mit Theaterdekorationen künstlich hergestellt. So wird man bald den kleinsten Landesvätern Triumphpforten bauen, wenn sie von einer Jagd heimkehren.

Hofhaltung! Das ist das Symbol dieses Treibens, das der Kunst und dem Künstler gleich gefährlich ist. Und wenn meine Erfahrung mich nicht täuscht, so steckt bei Vorbild und Nachahmern immer eine Lady Macbeth dahinter; sie verführt, sie spornt, sie zieht herunter, indem sie hinanzuziehen vorgibt. Sie hat ja das grösste Interesse an einer Hofhaltung, und der verliebte Künstler denkt bei seinen Herzogsträumen zunächst an sie; ihr möchte er die kleine Zackenkrone auf die Locken setzen. Und die Leidenschaft für eine ehrgeizige Lady Macbeth ist bei der ganzen Geschichte oft noch der versöhnende Zug.

Hat so ein Genie – man weiss nicht, ob ein Genie für Tage, Wochen, Monate oder ein Dutzend Jahre – ein schönes oder nur ein erfolgreiches Theaterstück geschrieben, so soll gleich ein zweites Bayreuth für sein »Lebenswerk« erstehen. Auf einem Hügel. Aus Marmor. Auf öffentliche Kosten. Hat das Genie zwanzig hübsche Lieder komponiert, so soll auf der Stelle ein Denkmal errichtet werden, dreimal so gross als die Statuen Schuberts und Schumanns. Hat das Genie selbst eine Statue geschaffen, die sich sehen lassen kann, so genügt es nicht mehr, ihr einen guten Platz für beschauliche Betrachter anzuweisen; nein, einen eigenen Tempel soll man ihr errichten; und müssten grosse Museen darum abgetragen werden. Hat das Genie zehn Seiten mit wohlklingenden Versen gefüllt, so soll wieder ein Tempel errichtet werden, ein stilvoller Raum aus Gold und Elfenbein, Farben und Licht nach dem geheimen Sinne der Verse, damit der hohe Priester, Schauspieler und Tempeldiener zugleich, in stimmungsvoller Umwelt, vor einer stimmungsvoll gekleideten Gemeinde seine paar Verslein feierlich absinge. Goethes Lied »An den Mond« konnte man ohne stilvolle Kleidung lesen, in Hemdärmeln, ins Gras gelagert. Hat das Genie auch nur einen neuen Faltenwurf für den Frauenrock erfunden, so soll die übrige Welt auf den Kopf gestellt werden, damit der Rock bis übermorgen Mode werde und die Konkurrenz aller anderen Rockfalten ausgeschlossen sei. Hofhaltung, Hofhaltung im beschränktesten Kreise, Hofhaltung ohne Volk will man. Ist aber das Volk gar bereit, mitzutun, dann Hofhaltung so laut und so prächtig als möglich.

Das grosse Beispiel, Richard Wagners Hofhaltung, konnte anders beurteilt werden, solange der Komponist tätig war. Er könnte gar nicht arbeiten, sagte er einmal, wenn er nicht als Grandseigneur lebte. Wagner war fünfzig Jahre alt und hatte sein Lebenswerk nahezu vollendet, als der Zug nach äusserem Glanze, nach Hofhaltung (nicht nur nach sozusagen körperlichem Luxus) bei ihm ganz stark hervortrat. So hatte er doch vorausgezahlt, so hatte er doch nicht Kredit begehrt wie seine zahllosen Nachahmer, die gleich für die erste Skizze ein Bayreuth verlangen möchten. Es war Wagners persönlichste Angelegenheit, über die ich nicht zu Gerichte sitzen möchte, ob er seine Beziehungen zu russischen Fürstinnen und zu einem wahnsinnigen Könige als Abhängigkeit empfand oder nicht. Mochte ihn der König auch einmal bestimmen, die »Meistersinger« liegen zu lassen und den »Ring der Nibelungen« vorzunehmen; in der Hauptsache ging Wagner unbeirrt seinen eignen Weg. Der Einzelne ist nur selten ein unbequemer Mäzen; eine russische Fürstin, ein wahnsinniger König, die die leeren Taschen eines Künstlers füllen, haben sich doch von Begeisterung für diesen Künstler bestimmen lassen. Soll aber das Volk die Taschen füllen, soll das Volk die Hofhaltung bezahlen, dann wird das Volk zum unerträglichen Mäzen und zwingt den Künstler in eine beschämende Abhängigkeit hinein. Anstatt des geträumten Herzogtums erleben wir ein sehr reales Gründertum; die Nachahmer Wagners werden zu Gründern ihres eigenen Talents. Das ist die Gefahr einer Hofhaltung, die mit Millionären wetteifern will.

»Taten und Worte.« Der Schüler Nietzsches sieht in diesem Gegensatze da den Herzog, dort den Dichter. Der zu tiefst grübelnde Psychologe unserer Zeit, Henrik Ibsen, hat aus der Weisheitsfülle des Greises, wenn auch nicht mehr aus voller Gestaltungskraft, das Problem anders verstanden. In seinem letzten Werke, das er wie zum Abschied einen dramatischen Epilog nennt, hat er die furchtbare Bilanz eines Künstlerlebens gezogen. »Wenn wir Toten erwachen.« Wenn wir Künstler aus dem Tode erwachen, zu dem das Talent uns verurteilt hat, dann erfahren wir zu spät, dass wir kein Lebensglück genossen haben. So betrachtet, war alles Künstlerschaffen nur eine Illusion, gehörte zur Welt der trügerischen Maja; auch der höchste äussere Lohn, die Hofhaltung mit ihren Palästen und Villen, »die Herrlichkeit der Welt«, gehörte der trügerischen Maja. Das Glück des Friedens findet auch der geniale Mensch nur in der stillen Resignation, in der milden Verachtung geistiger und materieller Erfolge, in der heimlichen Liebe und Anerkennung seiner Friedensgöttin, seiner Irene. Und Irene braucht keine Zackenkrone auf ihren glänzenden Locken, um glücklich zu sein und glücklich zu machen. Bis die grosse Lawine kommt und beide verschlingt.


Dieses Werk wurde im Auftrage von Georg Müller Verlag in München in der Druckerei Von Mänicke und Jahn in Rudolstadt hergestellt.
50 Exemplare wurden auf Echt Van Gelder abgezogen und in der Presse numeriert.

 


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