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Henrik Ibsen

Henrik Ibsen lag tot und still auf seinem Totenbette. Beinahe langgestreckt. Im schwarzen Gehrock lag er da, recht feierlich und ganz schweigsam, wie zu der intimsten Ibsenfeier gerüstet. Am Fussende des Bettes standen die beiden Leichenbesorger, ein Literarhistoriker und ein Theaterdirektor. Sie redeten leise, lebhaft und wichtig von ihrem Leichenbesorgergeschäft. Sie sahen nicht den grauen, hageren Knopfgiesser, der dem Toten zu Häupten stand.

»Es ist Zeit,« sagte der Knopfgiesser, unhörbar für lebendige Leichenbesorger, »es ist Zeit, du stilles Menschenkind! komm, komm, bevor du ganz kalt geworden bist.«

Kerzengerade richtete Henrik Ibsen sich auf. Wie von fremder Kraft gehoben. Die beiden Leichenbesorger fassten ihn erschreckt an den Rockschössen. Er durfte noch nicht fort. Er musste erst ganz kalt werden. Er musste noch von allen vier Seiten photographiert werden, und auch von oben und von unten. Er musste beredet und besungen, beräuchert und berochen werden. Darum hielten die geübten Leichenbesorger ihren Henrik Ibsen an den Rockschössen fest.

Da flüsterte Henrik Ibsen unhörbar: »Knopfgiesser, sage mir ehrlich, ob ich es wirklich so nennen kann, dass ich diese Menschen los bin? Los bin die Arbeit für den Ruhm und den anderen Zeitungskram? Wissen möchte ich, mein Knopfgiesser, ob ich mich endlich verkriechen darf in mein wahrhaftiges Trollentum? Ob ich der Welt nicht mehr Modell zu stehen brauche? Ob ich endlich wirklich tot bin?«

»Du bist tot, mein liebes Menschenkind,« sagte der Knopfgiesser. »Wirklich und reichlich tot. Solltest du das Gelüste haben, so kannst du deinen Leichenbesorgern jetzt ungestraft auf den Nabel spucken.«

Die gekniffenen Lippen Henrik Ibsens zuckten fast lüstern, als wollten sie sich öffnen. Sie blieben geschlossen. Dann gab Ibsen sich den Ruck, scharf einmal nach rechts, scharf einmal nach links. Und jeder der beiden Leichenbesorger hielt einen abgerissenen Rockschoss Henrik Ibsens in den Händen.

Mit einem neuen Ruck warf der Tote sich aus der Welt hinaus.

* * *

»Knopfgiesser, fliegen wir aber auch ganz gewiss nach oben? Oder könnte man auch sagen, dass es nach unten gehe?«

»Wenn du so willst, du Menschenkind, so kannst du es immerhin aufwärts nennen.«

»Knopfgiesser, wohin führest du mich? Knopfgiesser, ich möchte zur blauen Maria! Mir ist noch irdisch bang. Führst du mich zur blauen Maria?«

»Ich trage dich zu einer, die dir die blaue Maria heissen mag.«

»Wir fliegen zu schnell. Oder wir stürzen zu schnell. Wir wollen ein wenig verschnaufen, mein liebster Knopfgiesser.«

Henrik Ibsen setzte sich bequem auf einen kleinen Planetoiden nieder. Aus der Tasche nahm er Schere und Nadel und Faden, kreuzte die Beinchen übereinander und machte sich daran, die Rockrisse gerade zu schneiden und sauber einzusäumen. Zufrieden zog er das Gewand wieder an. »Nun lässt es wie ein Frack.« Er knotete die weisse Halsbinde fester und schlug beide Klappen der Weste ein, wie festlich, über dem schimmernden Hemde. »Einen Hut braucht man da oben wohl am Ende nicht? Ich bleibe dabei, oben zu sagen.« Henrik Ibsen holte seine Orden hervor und reihte sie mit Sicherheitsnadeln an den Gehrock, der ein Frack geworden war. Er griff nach einem mächtigen Taschenkamm und gab der weissen Haarsträhne auf seinem Schädel die flammenhafte Linie. »Nun ja doch. Weil wir nun mal zu einer Dame gehen.«

»Du sollst dich was schämen, Menschenkind,« rief der Knopfgiesser.

Da reckte der kleine Henrik Ibsen sich auf, dass er wie ein Riesenzwerg auf seinem Planetoiden stand. Festen Fusses.

»Ich mich schämen? Vor einem Knopfgiesser? Und sollen gar noch? Ich soll nicht. Ich kann gar nicht sollen. Ich verstehe das nicht. Ich will. Und ich will nicht sollen. In Dreidingsdanamen …«

»Jetzt habe ich dich, du Knirps!« Der Knopfgiesser dehnte sich ins Ungemessene. Formlos, in immer neuen Formen umquoll er den Planetoiden, suchte den tapferen kleinen Henrik hinunterzuwerfen und in den Schmelzlöffel zu kriegen. Der kleine Henrik Ibsen sagte ganz leise: »Mit Ihrer gütigen Erlaubnis werde ich Sie jetzt bei der Gurgel packen und Ihnen die Hinterhand ausdrehen.« Und der kleine tapfere Henrik packte den ungeheuren Knopfgiesser wahrhaftig bei der Gurgel und drehte ihm die Hinterhand aus. Immer neue Verwandlungen versuchte der Knopfgiesser. Er wurde ein Goldberg und sagte: »Sei gescheit.« Er wurde ein Kaiser und sagte: »Gehorch.« Er wurde ein Arbeiter und sagte: »Einer für alle.« Er wurde ein Volksmann und sagte: »Alle für einen.« Er wurde noch vielerlei.

Der tapfere kleine Henrik presste ihm die Gurgel noch fester zusammen. Da wurde der Knopfgiesser zu einem Lufthauche, und als ein unanständiges Geräusch entschlüpfte er sich selbst.

* * *

Henrik Ibsen setzte sich wieder auf seinen Planetoiden; er dachte: »Jetzt geht's also zur blauen Maria.« Er zog den grossen Kamm aus der Tasche und gab der weissen Haarsträhne die Flammenlinie wieder, die beim Ringen in Unordnung geraten war.

Das Gestirnchen schoss weiter durch den Weltraum. Vor einer Schneewolke blieb es stehen; von jenseits der Schneewolkenmauer schüttete rosiges Licht herüber. Durch die Wolke hindurch führte dunkeltiefblau ein gewölbter Weg.

Henrik Ibsen wollte den gewölbten Weg betreten; da kamen aus dem dunkeltiefblauen Dunkel zwei freundliche Männer ihm entgegen.

»Wollen Sie nicht lieber umkehren, Herr Ibsen! Sie gehören ja doch zu uns. Zur freien Schar der flammenschwarzen Maria. Nicht zum Hofstaate der blauen. Als Ihre beiden Warner stehen wir hier.«

»So gibt es auch hier oben lokale Verhältnisse«, sagte Henrik Ibsen schmunzelnd. »Und ich soll eingefangen werden. Ich will Ihnen aber kein Recht geben, meine unbekannten Herren, sich in meine Angelegenheiten einzumischen.«

»Sie werden meine Werke kennen, Herr Ibsen; ich heisse Voltaire.«

»So so, ei, ei, einiges Weniges. Quantum satis.«

»Ich heisse Swift.«

»So so, ei, ei, eigentlich fast nur dem Namen nach. Ja … Aber … immerhin sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Am Ende Herausgeber einer Zeitschrift da oben? Sie zählen beide jedesfalls zu den Prosaschriftstellern von internationalem Ruf.«

»Mister Voltaire, der nennt Sie einen Prosaschriftsteller.«

»Monsieur Swift, sich selbst hält er für einen Poeten.«

»Mister Voltaire, er spricht gönnerhaft mit uns.«

»Monsieur Swift, il dit de la prose sans le savoir, ganz wie Molière's Bourgeois gentilhomme. Und ich glaube mich zu erinnern, Monsieur Swift, dass wir in einer ganz ähnlichen Seelenverfassung hier heraufgekommen sind.«

»Meine Herren,« flüsterte Henrik Ibsen ärgerlich, »wenn Sie demnach also hier eine Zeitschrift herausgeben oder solches Zeug, so stehe ich nicht an, Sie für diesen Fall meiner Hochachtung zu versichern, meiner Verehrung, meiner Freundschaft. Obgleich man auch dem Knopfgiesser nur einen Tod schuldig ist und ich meine irdischen Freundschaften noch nicht völlig verdaut habe. Also gut. Ich habe Freundschaft gesagt. Sie dürfen es also so nennen. Aber Sie dürfen mir diese Höflichkeitsflausen nicht noch schwerer machen. Sie müssen Distanz halten lernen. Sie sind doch nur Schriftsteller, allerdings von internationaler Geltung. Ich aber bin ein Dichter von internationaler Geltung. Ueberhaupt der erste internationale Dichter. Fast ohne Muttersprache. Also der grösste, der je gelebt hat. Hören Sie nur zu. Bis herauf schallt das Geschrei der ganzen Erde. Der grösste aller Dichter! Und so will ich hier oben meine Rosenkrönung durch die blaue Maria.«

»Sind Sie denn wieder gläubig geworden, Herr Ibsen?«

»Ich will zu Maria.«

»Krummer Christ,« fauchte Voltaire und hatte Lust, sich mit den Fingern zu schnäuzen.

»Ein Yahoo mit Menschengestank!« schrie Swift und expektorierte.

Voltaire blickte schon wieder mitleidig. »Nein, Monsieur Swift, er ist kein krummer Christ, kein gemeiner Yahoo. Nur ganz kalt ist er noch nicht. Er hat noch Lebenswärme in den Adern. Da hat er sein kleines Sehnen und nennt es: Maria. Lassen wir ihn die Erfahrung machen. Er wird schon kalt werden. Herr Ibsen, wir erwarten Ihre Rückkehr hier am Ausgang des Tunnels. Der Hofstaat der blauen Maria und Ihre Poesie vertragen einander schlecht. Sie werden bald herausgerollt werden, als ob Sie auch nur ein Prosaschriftsteller wären.«

Sich spreizend, mit gerümpfter Nase, selbstgerecht und selbstbewusst, betrat Henrik Ibsen den gewölbten Weg, der durch die Schneewolke zur allerheimlichsten Wiese führte. So geht der Gutsherr Sonntags in seine Kirche.

* * *

Als er ins Freie trat, unter Lorbeerbüsche, war er zuerst geblendet von der Fülle rosigen Lichts. Er stand hinter dem Lorbeer wie hinter einer Theaterkulisse. Er lauschte. »Ich habe freilich zwar das Lauschen so ziemlich abgeschafft, ebenso wie die Selbstgespräche. Und jetzt lausche ich dennoch.« So sprach er zu sich selber.

Wenige Schritte vor ihm, auf granitnen Trümmern, die von einem dichten Heidekrautteppich bedeckt dalagen, sass blau gekleidet ein wunderhübsches junges Weib. Drei lustige Buben, zum Schreien schön, flegelten sich im Heidekraut um sie her. Vor ihr standen fünf Männer, heldisch und gross.

»Maria,« sprach der älteste von ihnen, »der Vater sendet uns. Ob es dich wohl erfreuen würde, mit uns zu kommen. Zum Sternengesang.«

»Ach so, ihr lieben Herren, ach nein. Der Vater erweist mir immer zuviel Ehre. Sternengesang ist kaum was für mich. Zu Weihnachten etwa. Heute nicht. Saget dem Vater, ich bleibe lieber hier und spiele mich mit meinen süssen Buben.«

Die drei Buben erhoben ein Indianergeheul, als wie zum Danke. Der Raffael, der Wolferl Amadé und der Wolfgang. Die blaue Maria stand jetzt aufrecht, die nackten Füsse im zärtlichen Heidekraut geborgen.

»Grüsset den Vater. Ich gebe euch Urlaub, nehmt euern Abschied mit dem Stirnkuss.«

Der älteste der heldischen Männer, den sie Michelangelo nannten, beugte sich tief hinab und küsste das junge Weib auf die reinste Stirn. So hatte der Vater es geordnet. Der zweite, den sie Miguel Cervantes nannten, schlug das Zeichen des Kreuzes und küsste das junge Weib innig auf beide Augen. Der dritte, den sie William Shakespeare nannten, nahm das Köpfchen des jungen Weibes zwischen zwei starke Hände und drückte einen seligen Kuss auf ein wunderbar weiches braunes Haar. Der vierte, den sie Ludwig van Beethoven nannten, kniete nieder, drückte seine glühenden Lippen auf die Finger des jungen Weibes und legte dann ihre rechte Hand auf seine Stirn, dass unsichtbar Funken stoben aus seinem zerzausten Haar zu den kühlenden Fingerspitzen. Der fünfte, den sie Dante Alighieri nannten, stürzte nieder auf das Heidekraut und küsste mit zuckender Inbrunst die nackten Füsse des jungen Weibes.

Die blaue Maria drohte lächelnd mit Hand und Augen. »Den Stirnkuss, hat der Vater ihn etwa so geordnet?«

Die fünf heldischen Männer schritten von dannen. Ihre Tritte klangen wie ein Auftakt zum Sternengesang. Die drei süssen Buben und Henrik Ibsen horchten still. Da rief die blaue Maria: »Schnecken! Ist doch alles zu hoch für mich. Wir wollen uns spielen. ›Wer ist grösser‹ wollen wir spielen.«

Juchhei und hussa! Hintereinander hockten die Buben auf allen vieren. Der letzte sprang über die beiden ersten und purzelte und fiel und stand und hockte wieder. Und wer eben sprang, war immer der grössere. Die Augen flammten, der Atem flog.

»Den Wolferl Amadé hat sie aber doch am liebsten,« raunte fast eifersüchtig der Raffaelbub zum Wolfgangbuben. »Sie redet schon ganz so wie er. Weisst du, so gewiss lieb.«

»Ach was,« sagte der Wolfgangbub. »Bleibt immer genug für uns zwei. Mutti Maria! Ewiglich so. Dich sehen! Magst dem Vater sagen, dass ich ihm danke für meine Augen und dafür, was sie sehen und gesehen haben.«

Und wieder sprang Wolferl Amadé. Sprang und purzelte wie ungeschickt in Marias Schoss, dass sie ihn erschreckt auffangen wollte. Lachend bäumte sich Wolferl Amadé auf ihrem Schoss. »Und du bist noch schöner, und ich hab' dich noch lieber als die Kaiserin Maria Theresia. Und justament.« Und da hatte der Wolferl Amadé die blaue Maria um den Hals gefasst und ihr einen dicken Kuss mitten auf die guten Lippen gedrückt. Und unten war er und freute sich wie ein Dieb.

»Lausbub frecher!« rief Maria, rot bis an die Haarwurzeln. »Du einbilderischer Ding übereinand. Und justament sollen die beiden anderen jetzt auch ihr Busserl haben!«

Juchhei und hussa! Der Raffaelbub und der Wolfgangbub kriegten ihren Kuss. Von weither klang es wie jubelnder Sternengesang. Maria hörte nicht.

Henrik Ibsen konnte sich nicht länger zurückhalten. Er gab seiner Stirnhaarsträhne rasch einen Kammstrich, trat mit kurzen Schritten vor, legte sein rechtes Händchen fast zierlich auf das tapfer klopfende Herz und sprach: »Ich bin also auch da, gnädige Frau. Ohne Kompliment. Ich möchte recht gern in Ihrer Nähe bleiben. Henrik Ibsen.«

Altklug stellten sich die drei süssen Buben vor ihn hin.

»Ein tüchtiger Mann mit guten Intentionen,« rief Wolfgang.

»Scharfe, kluge, harte Augen,« rief Raffael.

»Aber seine Stimme hat keine Melodie, Mutterl, er kann nicht singen,« rief Wolferl Amadé.

»Ach so,« sagte Maria bescheidentlich. »Sie möchten wohl gern zum Stirnkuss? Ach Gott, da müssen Sie aber den Vater fragen. Ich weiss ja gar nichts.«

»Ich will mehr als den Stirnkuss, gnädigste Frau. Alles oder nichts. Als ein Bruder dieser drei verzogenen jungen Herren … Bei ihnen … Hier … Lachen, spielen …«

Die drei süssen Buben machten grosse Augen.

»Alter Herr,« sagte Wolferl Amadé, »du bist ganz gewiss niemals in deinem Leben so jung gewesen wie wir noch nach dem Sterben.«

»Darum eben will ich jung werden, nachdem ich endlich tot und erwacht bin. Ich kann alles, was ich will. Ich kann auch jung sein, wenn ich will. ›Wer ist grösser‹ will ich mit euch spielen, gerade mit euch.«

Die Buben blickten vorsichtig nach Maria. Der flog ein Schelm um Mund und Augen. Juchhei und hussa! »Wer ist grösser!« Voran hockte der alte kleine tote Mann. Auf allen vieren, wie er's von den süssen Buben gesehen hatte. Hochauf sprang Wolfgang über Raffael, über Amadé und über Ibsen; hochauf sprang Raffael über Amadé, über Ibsen und über Wolfgang; hochauf, in der Luft sich überschlagend, sprang Wolferl Amadé über Ibsen, Wolfgang und Raffael. Jetzt war die Reihe an Ibsen. Fest und gelenkig nahm er seinen Anlauf. Wie er aber über Wolfgang setzen wollte, schnellte der Bub zu siebenfacher Grösse auf und warf den erstaunten alten Herrn wie einen Ball in die Höhe. So fiel Ibsen auf den Raffaelbuben. Auch der richtete sich plötzlich mächtig auf und prellte den alten Herrn hoch durch die Luft auf Amadé. Der fing ihn vorsichtig auf und klappte und rollte ihn sanft zusammen.

»Nicht, nicht,« rief Maria, »der Vater wird schelten; ist vielleicht gar einer von den heldischen Männern.«

Aber schon tanzte wieder der Schelm um Marias Mund und Augen. Lachen musste sie und die lieben Händchen ärgerlich lustig zusammenschlagen, wie jetzt der Wolferl Amadé, der Unband, ihr allersüssester Bub, den zusammengeklappten Henrik Ibsen hinrollte über den Heidekrautteppich der allerheimlichsten Wiese. Hinein in das dunkeltiefblaue Wolkengewölbe, hinaus aus der Gemeinschaft der blauen Maria.

* * *

Henrik Ibsen rollte hilflos weiter, bis Voltaire und Swift ihn aufhielten, die beiden freundlichen Warner. Sie falteten ihm vorsichtig die zusammengewickelten Glieder auseinander, plätteten ihn mit den Händen und stellten ihn auf seine Beine. »Die Satansbuben!« murmelte Voltaire und versuchte, ernst zu bleiben.

Henrik Ibsen hatte sich bald erholt. Würdevoll sagte er: »Ich habe mich wohl im Namen der Person geirrt, die ich die blaue Maria nannte. Oder in der Bedeutung des Namens. Eine waschblaue Maria. Eine ganz unbedeutende Frau. Eine Puppe in der Puppenstube. Gottes Puppe meinetwegen. Und in kindischer Gesellschaft. Einen Mann meiner Art haben sie geprellt und gerollt, die Satansbuben. Ich bitte, meine Herren, mich jetzt zur flammenschwarzen Maria zu geleiten, wie Sie zuerst vorschlugen. Ich will jetzt zur flammenschwarzen Maria, und wäre sie des Teufels Grossmutter. Einen Kranz will ich von Frauenhand, und wären es Belladonnakirschen anstatt Rosenknospen.«

Voltaire grinste. »Krumme Christen nennen sie wirklich des Teufels Grossmutter.«

»Schlimm, schlimm,« sagte Ibsen. »Also alt und hässlich?«

»Eine Hexe gewiss,« antwortete Swift mit sinnendem Ausdruck.

»Dann will ich doch lieber vorher einmal mit dem Knopfgiesser reden. Ob er mich nicht junggiessen kann, zum Buben umgiessen. Denn des Teufels Grossmutter …«

Ein fahler Blitz. Die Hagelwolkenwand zur Rechten riss auseinander. Henrik Ibsen stand vor der flammenschwarzen Maria. Kaum fünfzig Schritte vor ihm sass sie auf einem Lavatrümmerstück. Von herrlich herrlichen nackten Schultern floss ein Mantel herab. Schwarzer Sammet. Von weicher schwarzer Seide der Rock. Von brandrotem Sammet das Leibchen. Belladonna. Die Augen, die Augen! Berückend schön. Vor tausend Jahren, auf einer Wikingerfahrt, oder gestern, in Fonterossa, hatte Henrik Ibsen ein edles Weib erblickt. So sah Maria aus, die flammenschwarze.

Das Lavatrümmerstück stand erstarrt in fast noch flüssiger Lava. Kleine Flämmchen zuckten unaufhörlich aus dem Feuerboden. Aber unerhörte Blumen deckten und verschlangen die kleinen Flämmchen. Orchideen in wilden Farben. Ungestalten.

Swift und Voltaire nahmen den ängstlich Zögernden in die Mitte. So schritten sie über die fast noch flüssige Lava dem Sitze der Maria zu, der flammenschwarzen, die bei den Christen des Teufels Grossmutter heisst. Feierlich schritten sie und doch zwanglos. Feierlich sangen sie und doch klang es wie Märchengeplauder. Gottlose Priester erzählten aus dem Märchenbuche der Wahrheit.

»Hier ist nicht Spiel. Der Vater selbst, mit ihr wird er nicht spielen.«

»Hier ist nicht Ernst. Was irdische Menschen ernste Dinge nennen, das wird zu Kinderspiel vor diesen Augen.«

»Sie sieht und sie sammelt die einsamen Tränen der grossen Lacher.«

»Sie weckt und sie sieht dem ewigen Vater sein stilles Lächeln.«

* * *

Sie standen vor der flammenschwarzen Maria. Ibsen hatte vergessen, den Kamm aus der Tasche zu ziehen; nur mit den Fingern konnte er noch durch die Stirnsträhne fahren. Jetzt bedauerte er, dass die Handschuhe, schwarz oder rot, in einem der Rockschösse bei den Leichenbesorgern geblieben waren.

Voltaire neigte leise den greisen Kopf. »Wir bringen ihn, den du so lebhaft gewünscht hast. Wenn du ihn jetzt noch haben willst. Die Buben haben ihn geprellt und gerollt.«

»Ueberlege es dir,« sagte Swift. »Zuerst hat ihm vor dir gegraust.«

Die schwarze Maria reichte Ibsen gross die Hand, dass ihm vor Sehnsucht die Tränen über die Wimpern traten. »Und dennoch willkommen. Voltaire, Swift, wollt ihr leugnen, dass auch ihr gerollt worden seid? Damals. Von süssen Buben.«

»Aber der Narr ist ihm noch nicht geschnitten. Der schwere kleine Narr der grossen Weisen. Bildet sich ein, er sei der erste im Kampfe gegen die Lüge. Weiss nichts. Weiss nicht einmal, dass er nur noch die Arbeit vorfand, die wir ihm übriggelassen hatten, Monsieur Swift und ich. Das bisschen Reinemachen im eigenen Hause.«

»Schicke ihn lieber wieder fort,« brummte Swift. »Er erinnert sich nicht, dass er die kompakte Majorität nur verhöhnt hat, um der ebenso kompakten Minorität zu schmeicheln; erinnert sich nicht, dass er sich sogar bei Lebzeiten von Theaterdirektoren …«

»Selbst einer gewesen!« rief Voltaire dazwischen.

»… überreden liess, die ehrliche Nora wieder zu ihrem ekelhaften Manne umkehren zu lassen; dass er die Maiensonne eines kurzen Septembertags erbärmlich bat, doch um des lieben Friedens willen gefälligst vor der Kalenderzeit unterzugehen.«

»Königliche Hoheit,« flüsterte Ibsen energisch.

»Sie hat keinen Orden zu vergeben,« brummte Swift.

»Königliche Hoheit, ich bin ein Mensch gewesen, Ein Mensch, ein Mensch! Stirn und Brust hab' ich zerschlagen, stärker und heimlicher als irgendeiner, für diese schuldlose Schuld. Und habe es schöner gesagt, ich, der Dichter, als diese beiden bösen alten Männer: niemals habe ich so hoch steigen können, wie ich gebaut habe.«

Ein Gelächter. Zu den Füssen der schwarzen Maria öffnete sich ein kleiner Krater. Der spie rauchend Flammen; dann entwand sich ihm ein kleiner schwarzer Junge, der Teufel, der ewigen flammenschwarzen Maria ewiger Enkel.

»Und überhaupt, Mima,« rief der Bengel, »das ist ein ewiges Gestänker unter deinen Leuten. J'en ai soupé. Als ob der biedere Herr Voltaire nicht Speichelleckerei getrieben hätte bei Königen und Kaiserinnen, bei Französinnen und Juden, solange er warm war, mit elenden Lügen. Nebenbei, neben dem, was er ganz gut gemacht hat. Als ob der biedere Herr Swift mit seiner politischen Ueberzeugung nicht auf den grossen Hurenmarkt gegangen wäre.«

Tausend Flämmchen zischten aus der fast noch flüssigen Lava, und ein unsichtbarer unterirdischer Chor bat flehentlich: »Nicht die ganze Wahrheit sagen! Schweigen lernen, kleiner Teufel! Offiziöse Gelehrsamkeit treiben! Die ganze Wahrheit ist nicht für Menschenohren, ist nicht für Menschennasen.«

In titanischem Zorn hatte sich Swift auf den Boden geworfen und mit beiden Fäusten in die Flämmchen geschlagen, zwischen die wilden Orchideen hinein. Von Brandwunden waren die Hände bald bedeckt, und Dunst verbrannten Fleisches zog sich hin zwischen den Blumen.

»Mima, Mima, wie übel riecht es in deinem Heldensaal.«

Swift richtete sich auf, sein Antlitz so zermartert, dass Voltaire selbst erschrak. Dass Ibsen zu sich selber sagte: »Ich glaube, diesen Mann habe ich nicht gekannt.« Und Swift schrie: »Sagen Sie's nur, Prinz, sagen Sie nur, dass es stinkt. Weil auch wir Besten, Reinsten nicht als Götter und nicht als Blumen auf die Welt kommen und nicht als sprachlose Tiere, sondern nur als Yahoos, als krüppelhafte, stinkende Menschen. Aehx, dreimal ähx und pfui über meinen Leichnam! Und nicht einmal als Könige kommen wir zur Welt. Nein, prostituiert in einem Gewerbe. Im Dichtergewerbe, im Künstlergewerbe, im Denkergewerbe. Reisst wenigstens die Nase aus meinem Leichnam, dass ich ihn nicht riechen muss. Alt und weiss und dumm werden in der Prostitution des Denkergewerbes! Im Bordell der Literatur. Und es wäre doch so himmlisch schön, wenn's nicht Prostitution gewesen wäre. So ist's! Und wer sich nicht prostituieren will, wer stolz gerecht ist auf seine Jungferschaft, der bleibt dennoch im Bordell, eine Jungfer im Bordell, die viel umworbene Jungfer im Bordell, die feinste Erpresserin.«

Swift schluchzte, und der unterirdische Chor weinte leise mit. Voltaire war bleicher geworden als bleich; er räusperte sich und sagte: »Es wundert mich nur, Prinz, dass Sie so viel an uns zu tadeln wissen; wir sind doch alle nach dem Ebenbilde des Vaters geschaffen, wir alle. Auch Sie, Prinz, auch dero schöne Grossmama. Sollte am Ende der Vater selbst menschliche Züge tragen?«

Der kleine Teufel setzte sich auf sein Kraterloch und liess die Nase hängen. »Mima, Mima, was für eine Gesellschaft bringst du mir da zusammen!«

»Und sie sind doch die besten, du kleiner Teufel. Für unsern Kampf. Den Kampf gegen die Lüge. Arme Menschen. Stückweise nur haben sie die Wahrheit, stückweise nur steht ihnen die Lüge gegenüber. Niemals hatten sie die ganze Wahrheit, niemals töten sie die ganze Lüge. Weil ihnen der Vater auch die Waffe nur in Stücken gegeben hat.«

»Mag sein, Mima, mag alles so richtig sein; aber diese deine Dichter und Denker sind lauter alte hässliche Leute.«

Die flammenschwarze Maria lächelte traurig. »Nicht wahr, ihr Herren, er versteht es nicht besser. Der kleine Teufel ist noch ein bisschen vieux jeu. Er weiss nicht, dass ihr den Menschen eine ganz neue Aesthetik geschenkt habt, die flammenschwarze lachende Poesie der Hölle und der Wahrheit.«

»Prinz,« sagte Ibsen belehrend, »Poesie heisst Gerichtstag halten, Gerichtstag über sich selbst.«

»Gerichtstag! Gerichtstag! Wo ist da Freude dabei? Nicht beim Angeklagten, nicht bei Ankläger oder Verteidiger, nicht beim Richter. Und bei den Zuhörern Neugier und Brutalität. O Mima, o Mima! Wie Schmetterlinge zwischen Wiesenblumen dachte ich mir die Poeten. Jetzt sind sie zwischen Lasterblumen wie kuppelnde Hummeln und sammelnde Apotheker.«

»Er hat es nicht böse gemeint,« sagte die schwarze Maria, als Ibsen das letzte Wort übelnehmen wollte. Dann fuhr sie fort in der Höllensprache, so dass nur der kleine Teufel sie verstand: »Es sind die Besten, glaub's nur. Es sind die Besten seit Jahrhunderten. Und ich werbe sie alle für unseren letzten Kampf, für den Kampf um die Sonne, um die Wahrheit, um die Welt des Vaters. Einst wird kommen der Tag, da wird das Heer dieser Führer gross genug sein, und wir werden den letzten Kampf beginnen. Erobern die allerheimlichste Wiese! Blutig hinaustreiben die blaue Tante mit ihren süssen Buben!«

Die Augen des kleinen Teufels blitzten. »Erobern! Hinaustreiben! Und mich wühlend ausstrecken im Heidekraut der allerheimlichsten Wiese.« Dann liess er das Köpfchen wieder hängen und murmelte der Grossmama zu: »Es ist zu dumm. Meine Sehnsucht nach der Wiese ist furchtbar gross. Aber doch nur, weil ich dort mit den süssen Buben ein bisschen balgen und mich spielen will. Pardon, Mima, spielen, ich weiss. Und wenn die Buben erst hinausgetrieben sind, und nun gar blutig, dann macht mir die ganze Wiese keinen Spass mehr. Du bist anders, Mima. Du hast was gegen die süssen Buben und gegen die blaue Tante.«

* * *

»Lustig, Lustig!« rief die schwarze Maria mit ihrer traurigen Stimme.

»Na also meinetwegen lustig,« sagte der kleine Teufel; er lockte Flämmchen aus der fast noch flüssigen Lava, immer dicht an den Beinen von Voltaire und Swift; so trieb er die beiden Männer weit und weiter über den Höllenberg.

Die flammenschwarze Maria und Henrik Ibsen waren allein.

»Sehnsüchtig«, sagte sie schwer, »habe ich Ihre Ankunft erwartet. Ich schätze Sie höher als alle andern Männer.«

Henrik Ibsen drückte sein rechtes Händchen auf sein Herz.

»Königliche Hoheit, Sie sind die Mitternachtssonne meines herbstlichen Maulwurfslebens. Königliche Hoheit, Sie sind tausendmal schöner als die blaue. Königliche Hoheit, Wenn wir nur beide recht wollten, so könnten wir uns einigen, in Schönheit, Bosheit und Freiwilligkeit uns einigen, dieses mein Gefühl da Liebe und so weiter zu nennen.«

»So liebe ich dich, Henrik Ibsen.« Kaum sie selbst nahm den trennenden Schauder wahr, der sie überhauchte. »Hoch, hoch steht dein Werk über dem spielerigen Treiben der süssen Buben. Wie ich selbst stehe, hoch über der unbedeutenden Frau da drüben.«

»Das alles liegt tief, tief unter uns, Königliche Hoheit.«

Stumm blieben sie lange Hand in Hand. Ihm stand die blaue Maria vor den inneren Augen, ihr die süssen Buben. Und die flammenschwarze Maria und Henrik Ibsen, beide blickten sehnsüchtig nach oben. Sie hatten vergessen, beide, dass das alles tief, tief unter ihnen lag.

* * *

Ganz unten aber trieben die Leichenbesorger ihr Leichenbesorgergeschäft mit den Rockschössen Henrik Ibsens.


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