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Die grosse Neugier

Die Neugier wird allgemein für etwas gehalten, was einen leichteren oder strengeren Tadel verdient; für eine kleine, menschliche, besonders weibliche Schwäche, ja sogar für einen hässlichen Fehler. Selbst der skeptische, freie Montaigne kam zu dem Verdammungsurteil: »La curiosité est vicieuse partout.« (Und war doch selbst so neugierig wie eine Geiss.) Ich stelle den Antrag, die Neugier zum Range einer Tugend aufrücken zu lassen, in der Neugier einen der wichtigsten Vorzüge des Menschen zu erblicken. Es wäre denn, dass man die niederen Tiere und die Pflanzen gerade darum höher einschätzen wollte, weil sie niemals eine Spur von Neugier verraten. Der Mensch ist das neugierige Tier; einige wenige Tiere haben sich übrigens im Umgang mit Menschen die Neugier angewöhnt. Und die Affen wären nicht so menschenähnlich, wenn sie nicht neugierig wären.

Insbesondere die Zeitungsleute sollten die Neugier als eine Tugend zu schätzen wissen. Eine Zeitung ohne Leser wäre wie eine Violine ohne Resonanzboden. Die Leser aber bilden eine Menschenklasse, die sich von anderen Klassen nur durch die Neugier unterscheidet. Der Leser will von einer Sache, die ihn interessiert, oder deren Bedeutung ihm suggeriert worden ist, immer dreierlei wissen: wie sie ist, wie sie geworden ist und wie sie sich entwickeln wird. Einerlei, ob es sich um weltbewegende Dinge handelt, oder um den Einsturz eines Gerüstes, der beste wie der schlechteste Leser will zunächst erfahren, wie der Vorgang ausgesehen hat. Der beste wie der schlechteste Leser möchte ferner gerne hören, welche Folgen die letzte Schlacht oder der Einsturz für den kriegführenden Staat oder für den verantwortlichen Baumeister haben wird. Es kommt gar nicht darauf an, dass die richtigen Folgen vorausgesagt werden; man will nur irgend etwas schwatzen hören, um etwas darüber schwatzen zu können. Auf diesem niederen Standpunkt fragt die Neugier nur danach, wie die Sache war und wie sie sich entwickeln wird. Mit der Frage, wie die Sache geworden ist, nähert sich die Neugier des Stammtisches schon der Wissbegier. Der »Fachmann« nimmt das Wort, in der Zeitung wie am Stammtisch. Der gute Journalist ist ein hochgradig neugieriger Mensch im Dienste der allgemeinen Neugier; oder ein guter armer Teufel, der in diesem Dienste höchst neugierig sich anzustellen gelernt hat.

Theaterstücke und Romane werden gewöhnlich dem Gebiete der Kunst zugerechnet; doch auch der ernsthafte Künstler unter den Dramatikern und Erzählern findet kein Publikum, wenn er die gemeine Neugier nicht zu befriedigen versteht, die da wissen will, wie die Geschichte ist, wie sie war und wie sie werden wird. Als vor etwa achtzig Jahren die sogenannten Zeitungsromane aufkamen und Eugen Sue die Riesenhonorare (jener Zeit) für seine schrecklich-schönen Fortsetzungsromane bekam, da hatte die Zeitung ein Mittel gefunden, die Neugier auch in den Pausen zwischen Kriegsgreueln und Moritaten wach zu erhalten. Die Zeitung hat im Laufe der Jahrzehnte auch die stolzesten Dichter in ihr Feuilleton hineingelockt mit den gleichen Mitteln, mit denen heute das Kino die besten Namen anwirbt; aber der ideale Zeitungsroman ist immer noch der, in welchem die Neugier auf die Folter gespannt wird. Auf eine Folter, die einige Wollust gewährt, wie die Masochisten das gern haben. Die wunderschöne, aber grundschlechte Jungfrau teilt zum Beispiel ihr Schlafzimmer mit einer abenteuerlichen, niemals noch von einem Zoologen erblickten Schlange; durch fünfzehn Fortsetzungen erwartet die lesende Nähmamsell zitternd den Moment, wo die Schlange der Jungfrau, zum Heile des Liebespaares, den letzten Tropfen Blutes aussaugen wird. (Ich erfinde nicht.) Der Leser von verwöhntem Geschmack, der in den Ferien an einem Regentage zufällig einmal eine solche »Fortsetzung« überflogen hat, zittert nicht; aber auch er erwartet, nicht ohne Selbstironie, dennoch mit einiger Ungeduld die nächste Nummer.

Um ein Stockwerk höher, meinetwegen um einige Stockwerke höher steht die Neugier, welche langsam im Gange der Jahrtausende zur Entfaltung der Wissenschaften geführt hat. Der Zusammenhang mit der gemeinen Neugier ist just für die Romanleser leicht herzustellen. Heutzutage will auch die gemeine Neugier von einem beliebten Erzähler wissen: wie er aussieht, wie seine Frau aussieht, wie seine Kinder aussehen. Hat eine gründlichere Neugier nach endlosen Mühen herausgebracht, wie Goethes Grosseltern väterlicher- und mütterlicherseits aussahen, und was er an dem Tage zu Mittag gegessen hatte, als er … und so weiter …, so gehört das schon als reizendes Zubehör zu der Wissenschaft der Literaturgeschichte.

Um die feierlichere Wissenschaft der Geschichte steht es nicht viel anders. Wie das geworden war mit Napoleon, wie das geworden war mit Bismarck, das kann man die edelste Wissbegier nennen; aber eigentlich ist es Neugier, die die Zeugnisse sammelt, Neugier, die die Zeugnisse liest. Wie sich solche Weltgeschichten dann weiter entwickeln würden, darüber weiss die zeitgenössische Wissenschaft freilich nichts zu sagen; sie überlässt das Prophezeien dem politischen Kannegiesser.

Jedoch der Natur gegenüber stellt auch die Wissenschaft stets nur die alten Neugierfragen: Wie ist die Sache? Wie ist sie geworden? Was wird weiter geschehen? In irgendwelchen Urzeiten haben Männer von der grossen Neugier, von der genialen Neugier die Bemerkung gemacht, dass die Sonne nicht jeden Tag an dem gleichen Punkte des Horizonts aufgeht, dass der Aufgangspunkt sich hin und her schiebt, dass die Länge des Tages in einem Verhältnisse steht zu der Verschiebung; sie haben danach die regelmässige Wiederkehr des Jahreslaufs als eine Tatsache festgestellt, die sie gleich ein Gesetz nannten. Dann haben schon im grauen Altertum Männer von noch scharfsinnigerer Neugier nach den Gründen dieser Regelmässigkeit gefragt, immer wieder und immer wieder emsiger, bis Kopernikus, Kepler, Newton und Kant die gegenwärtige Antwort auf die alten Neugierfragen gefunden und unsere Astronomie aufgerichtet hatten.

Gewiss noch früher hat die lebendige Natur die Neugier nachdenklicher Menschen erregt: wie die Pflanzen und Tiere einander bald sehr ähnlich sind, bald ganz unähnlich. Um dies beschreiben zu können, ordnete man das Pflanzenreich und das Tierreich. Die Ordnung half aber nur bei der Neugierfrage: wie die Sache ist. Die weitere Frage, wie die Ordnung zustande gekommen war, trotzte lange allen Beantwortungsversuchen, bis Darwin seine Hypothese fand, eine Hypothese, die von der leicht befriedigten Neugier für eine Antwort gehalten wurde.

Es ist ein Unglück für die Wissenschaft, wenn die letzten Hypothesen einander widersprechen. Bei der Beantwortung der dritten Frage (Wie die Sache sich in Zukunft entwickeln wird?) gehen leider Astronomie und Deszendenzlehre auseinander. Die Deszendenzlehre prophezeit gern einen Fortschritt zu Ueberlebewesen, zu Uebermenschen und zu Uebernachtigallen; die Astronomen dagegen sind ihrer Mehrzahl nach gezwungen, dereinstige Vereisung oder Verbrennung (man weiss es wirklich nicht ganz genau) unseres Sonnensystems mitsamt der Erde vorauszusagen. Die grosse Neugier stellt zuerst und stellt am liebsten Fragen, die überhaupt nicht beantwortet werden können.

Man muss nicht gleich böse darüber werden, dass ich das Motiv der besten Menschheitslehrer »Neugier« genannt habe. Man könnte ja ebenso das Leitmotiv eines Napoleon Zorn oder Unzufriedenheit nennen, und müsste doch zugeben, dass es ein anderes ist, die Königreiche Europas aus Zorn umeinanderzuschmeissen, und wieder ein anderes, einem harten Bauern aus Zorn seine Scheune anzuzünden.

Nun möchte ich aber in der Ehrenrettung der grossen Neugier noch einige Stufen höher schreiten. Vielleicht sollte ich sagen: tiefer. In dieser letzten Bewertung der Neugier hätte ich mich in einem Buche gewissenhaft auf einige Vorgänger zu berufen: auf den amerikanischen Philosophen James, der schon wusste, dass die Neugier auf die nächste Briefpost zu den lebenerhaltenden Prinzipien gehört; auf den prachtvollen Friedensprediger Popper-Lynkeus, der in seinem gar lesenswerten Buche »Das Individuum und die Bewertung menschlicher Existenzen« auf James und sogar auf den alten Buddha hingewiesen und die Bedeutung der Neugier für den Geschlechtstrieb und die Geschlechtswahl – meines Wissens zum ersten Male – klargelegt hat; insbesondere hätte ich mich zu berufen auf unseren Theodor Fontane, der es nach einer romantischen Jugend zu einem heimlich grimmigen Alter brachte und in diesem Alter das merkwürdige Gedicht schrieb, in welchem er jeden Wunsch des Weiterlebens auf eine Neugier auf die Zukunft zurückführte. Wie das mit Bismarck wohl noch werden möchte?

Höher oder tiefer als die grosse wissenschaftliche Neugier mag man diese starke Lebensneugier einschätzen. Schopenhauer freilich liebt diese alltägliche Neugier nicht; er erklärt sie aus den Leiden der Langweile und des Neides, ist übrigens so sehr Weiberhasser, dass er nur den Knaben die edle Wissbegier, den Mädchen die gemeine Neugier auf das Einzelne zuspricht. Wer aber zu lange gelebt hat, um sich der optischen Täuschung des Pessimismus nicht in trotziger Schwermut hinzugeben, der hat dennoch täglich und stündlich eine neue Freude durch die andere optische Täuschung, die ihn die Neugier auf die nächste Stunde, auf den nächsten Tag erwarten lässt. Es kommt freilich oft anders; die Erwartung ist fast immer schöner als das Erlebnis. Neugier und Erwartung lässt den müden Wanderer immer weiter steigen. Ich kann mir recht gut einen armen Kranken vorstellen, der weiss, dass er nur noch vierundzwanzig Stunden zu leben habe, und der dennoch die Briefpost und die Zeitung mit Ungeduld erwartet. Gesunde Menschen haben gewöhnlich etwas länger zu leben; mit der gleichen Ungeduld aber erwarten sie die Briefpost und die Zeitung. Ganz frei von so kleiner und törichter Neugier sind vor der Todesstunde eigentlich nur die Frommen, und diese sind nur darum so frei, sind nur darum nicht neugierig, weil sie die für sie wichtigste Zukunft im Jenseits so unglaublich genau zu wissen glauben oder ihre Neugier nur auf diesen Punkt gespannt haben.

Die Neugier auf die nächste Zukunft mag schon manchen vom Selbstmorde zurückgehalten haben. In hochentwickelten Kulturen mag die Kompliziertheit der Verhältnisse öfter als bei sogenannten Naturvölkern den Selbstmordgedanken nahelegen; dieselbe Kompliziertheit der Verhältnisse aber vermehrt auch die Interessen jedes Individuums, steigert also die Neugier auf die Zukunft, die freundliche Neugier, welche die Ausführung des Selbstmordes erschwert.

Ich habe hier überall Neugier und Wissbegier als Stimmungen betrachtet, die nicht wesentlich voneinander verschieden sind. Das Wesentliche an diesem Motiv, das die Lebensäusserungen des Menschen auszeichnet, ist ja eben, dass auch die Wissbegier sich immer nur ein unerreichbares Ideal vorstellt, nur eine Mühe ist ohne letztes Ziel, dass auch die Wissbegier immer eine Sehnsucht bleibt ohne Erfüllung. Was wir das »Wissen« nennen, das ist am letzten Ende stets nur ein Wissenwollen, ein Glauben, im Grunde ein Glaubenwollen, eine Gier ohne Befriedigung.

Legen wir aber den Ton beim Worte »Neugier« mit dem allgemeinen Sprachgebrauche auf den Wunsch, etwas Neues zu erfahren, so fehlt auch dieser Gier anspruchsvollerer Menschen die Befriedigung. Ewig in gleichem Kreise bewegt sich die Sonne und die Natur; die leidenschaftliche Neugier wartet vergebens auf das Wunderbare. Selbst die Kunst des Poeten erfindet nichts Neues, wiederholt ewig nur die alten Formen der Natur und die alten Gefühle der Menschen. Würde ein Menschensohn aber so alt wie Methusalem und hätte er alle Enttäuschungen einer normalen Lebenszeit zehnmal erlitten und schwer überwunden, er wird noch an seinem letzten Tage die Neugier auf die Zukunft nicht losgeworden sein und weiterleben wollen, um das Wunderbare zu erwarten.


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