Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Ich wollte ein Buch schreiben, und kein ganz dünnes, über die schlimmste und allgemeinste Kulturbarbarei unserer Zeit, über die Uniformität oder Gleichmacherei auf allen geistigen Gebieten. Je weiter sich meine Vorarbeiten ausdehnten, und je lieber mir die Ideen meines künftigen Buches wurden, desto mehr lockte es mich, für meine Ketzereien möglichst viele Leser zu gewinnen; und so ist aus dem dicken Buche ein kleines Feuilleton geworden. Vorläufig wenigstens. Trotzdem: keine Rechte vorbehalten.
Natürlich habe ich nicht die Absicht, mich gegen die Uniform (»Gleichtracht« übersetzte vor hundert Jahren der gute Campe das Fremdwort) und gegen den uniformen, gegen den gleichförmigen Drill beim Militär zu wenden. Im Gegenteil; das Heer ist eine ungeheure Maschine, die ihrem Zwecke nur entsprechen kann, wenn das einzelne Glied der Maschine millionenfach auf ein Wort gleichmässig arbeitet, so wie viele tausend Spindeln einer Spinnmaschine auf einen einzigen Hebeldruck. Dass übrigens die Soldaten zufällig individuelle Menschen sind, mit menschlicher Vernunft und menschlichem Wissen begabt, dieser Umstand wird ja immer mehr zur Verbesserung der Heeresmaschine ausgenützt. Der Hauptmann und sogar der Feldwebel nimmt es nicht übel, wenn in der Schlacht ein Zug abbiegt, anstatt in gerader Richtung einen verwundeten Kameraden niederzutrampeln.
Wo immer es sich um Einrichtungen handelt, gleichförmige Gegenstände gleichmässig zu bearbeiten, da sind unsere Maschinen recht an ihrem Platze; eine Holzverkleinerungsmaschine darf die Holzklötze, eine Mähmaschine darf die Grashalme und die Wiesenblumen nicht als Individuen behandeln wollen.
Aber leider sind die Einrichtungen, durch welche die vier Fakultäten die abendländischen Völker zu beglücken beauftragt sind, auch nur solche Maschinen geworden, die ungefähr wie die Mähmaschinen arbeiten und sich um die Ungleichförmigkeit der menschlichen Individuen nicht kümmern. So grausam gleichförmig haut und schneidet Juristerei und Medizin, Schulmeisterei und leider auch Theologie. In allen Grossbetrieben der vier Fakultäten kommt es den Höchstkommandierenden nur auf eine scheinbar günstige Statistik an; die grossen Zahlen stimmen auch immer wirklich. Der Staat, insofern er ein Polizeistaat ist, rühmt sich noch, wie wir's so herrlich weit gebracht haben. Kultur wird mit Polizei verwechselt; auch auf den Gebieten der Juristerei und Medizin, der Schulmeisterei und der Theologie. Für den einfachen Bürger ist eine Uniform nicht vorgeschrieben; wollte aber einer wesentlich anders gekleidet gehen, als es Sitte ist, zum Beispiel unbekleidet, die Polizei würde ihn beim Kragen packen. Und schon zu diesem Zweck hat jedermann, auch wenn er sonst nackt wäre, wenigstens einen Kragen zu tragen. Und wollte einer eine neue Religion gründen, und hiesse man ihn einen neuen Heiland, die Polizei würde es verhindern.
Die Gleichmacherei in der Medizin und im Recht scheint nicht ganz so gefährlich zu sein wie die Uniformitäten der Schule und der Religion; um so schlimmer dafür die Folgen für das unglückliche Menschenkind, das krank geworden ist oder einen der viel zu vielen Paragraphen des Strafrechts verletzt hat und das nachher unter die Mähmaschine eines medizinischen oder strafrechtlichen Fabrikbetriebes gerät. Freilich, bedeutende Professoren werden nicht müde, eine individuelle Behandlung des Kranken und des Verbrechers zu predigen und sogar wissenschaftlich zu begründen. Nur dass es nachher in den Massenheilanstalten zu der individuellen Behandlung gar nicht kommt.
Der junge Arzt in einer grossen Klinik hat nicht Erfahrung genug und hat nicht Zeit genug, sich wie der Leibarzt eines hohen Herrn um den einzelnen Patienten zu kümmern. Er hat bis zum Examen das Arsenal des Todes kennen gelernt, die Waffengattungen, mit denen der Tod auf die armen Menschen herankommt aus Feuer, Wasser, Luft und Erde; wenn der junge Arzt fleissig war, so hat er auch gelernt, die Waffengattung der vorliegenden Krankheit zu bestimmen und ihr das in diesem Jahre moderne Mittel entgegenzusetzen. Die Besonderheiten des Falles mag nachher die Sektion ergeben; im Grossbetrieb, wo just für den strebsamen Arzt die Kranken leicht zum blossen Krankenmaterial der Forschung werden, wäre ein Eingehen auf jeden besonderen Fall eine unliebsame Störung der Maschine.
Ganz ähnlich liegt die Sache bei dem Grossbetriebe der Rechtsprechung und noch schlimmer bei dem Fabrikbetriebe des Strafvollzugs. Der Richter, der im Jahre tausend kleine Diebe abzuurteilen hat, würde zu einem Märtyrer, wollte er den Lebenslauf und die Lebensumstände jedes armen Teufels so genau untersuchen, wie das bei sensationellen Mordprozessen die Zeit gestattet und der Staatssäckel duldet; doch eine Gefängnisstrafe ist vielleicht dem armen Teufel ebenso lebensgefährlich, wenn sie auch langsamer wirkt, als das Beil des Scharfrichters. Und gar der Leiter einer grossen Strafanstalt müsste ein Heiliger sein, ein Heiliger mit Engelsgeduld, wollte er jeden Insassen individuell behandeln. Und selbst ein Heiliger hätte nicht die nötige Zeit.
Glücklicherweise werden nicht allen Menschen die Segnungen einer Klinik oder einer Strafanstalt zuteil. Das ist eigentlich inkonsequent, denn eine mikroskopische Untersuchung würde ergeben, dass niemand ohne ein körperliches oder moralisches Gebrechen ist. Die Uniformität wäre erst vollständig, wenn am Ende auch Hercules wegen Nervenschwäche in eine Klinik, wenn auch der heilige Franziskus als ein Strolch in ein Zwangsarbeitshaus überführt würde. Doch jedes Menschenkind muss die Schule besuchen und jedes Menschenkind soll eine Religion haben, und so feiert die Uniformität oder Gleichmacherei auf diesen Gebieten ihre schönsten Triumphe.
Die Buben und Mädel, die in den allergrössten Fabrikbetrieb des Staates geschickt werden, in die Schule, sind vorher wirklich lauter Individualitäten gewesen, so wie die Blumen, und Gräser einer Wiese; es ist kein natürlicher Grund vorhanden, all das blühende Leben von einer Mähmaschine zu Heu für Ochsen verwandeln zu lassen. Nur dass die menschliche Kultur, welche der Natur entgegengesetzt ist, die Einrichtung des ungeheuren Maschinenbetriebes verlangt. Die anderen Fabriken lassen den Eltern ja keine Zeit, selbst für die Erziehung ihrer Kinder zu sorgen; da aber eine fixe Idee des modernen Staates jedem Kinde das gleiche Quantum Wissen vorschreibt und dieses Ziel durch Androhung von Gefängnisstrafen zu erreichen imstande ist, so hat er einen Betrieb, in welchem einige Millionen Kinder nach einer einzigen Schablone gedrillt werden. Unter den Kindern gibt es die verschiedensten Temperamente und Neigungen, Charaktere und Talente, Unter den jungen Lehrern gibt es einige Uebermenschen, welche aus ihrem Seminar das Ideal mitgebracht haben, ihre fünfzig, sechzig bis achtzig Schüler sorgsam nach ihren Temperamenten und Neigungen, nach ihren Charakteren und Talenten gesondert heranzubilden, Kindergärtner zu sein und nicht Kutscher einer Mähmaschine. Solche Lehrer sind um so preisenswürdiger, als schon die Seminare Anstalten sind, in denen von Staats wegen, oft genug gegen den Willen der Anstaltsleiter, Uniformität angestrebt wird. Kommt so ein junger Uebermensch nun aus der Theorie in die Praxis, so findet er sich unter einer staatlichen Aufsicht, die ihm bald seine Schrullen austreibt. Auch dann austreibt, wenn der Schulinspektor kein Feind des Lehrers und der Kinder ist. Der »Staat« will es so. Der Staat will, dass die Millionen von Kindern gleichmässig und nach der gleichen Elle das vorgeschriebene Quantum Wissen zugemessen erhalten. Dem Uebermenschen von Lehrer, und wenn er sich zugrunde richten wollte, bleibt keine Zeit, sich den Individualitäten zu widmen. Für den Durchschnitt ist das Quantum Wissen berechnet; wehe dem Buben oder dem Mädel, das unter oder über dem Durchschnitt geraten ist. Wie die Stiefel der Soldaten für den Durchschnitt zugeschnitten sind; wehe dem Unglücklichen, der zu grosse oder zu kleine Füsse hat.
Die Uniformität der Schule ist schrecklich musterhaft durchgebildet, auch dort, wo es sich um neue und menschenfreundliche Einrichtungen handelt. Spielen sollen die Kinder, alle zu gleicher Zeit, in vorgeschriebenen Schulstunden. In die Ferien gehen sollen die Kinder, alljährlich an dem gleichen Tage im ganzen Reiche, auch wenn die heisseste Zeit im Süden um einen Monat früher eintritt als im Norden. Ferienordnungen für den grünen Tisch anstatt für die grüne Natur. Und wenn für Kinder, die sich von Geburt an der Schablone nicht gefügt haben, wenn für Idioten oder für Taubstumme besondere Schulen eingerichtet werden, so sorgt der Mangel an Geld dafür, dass innerhalb einer solchen Schule die verschiedenartigsten Kinder zu sehr über einen Kamm geschoren werden. Selbst Difformitäten werden so uniformiert. Denn das ist das Geheimnis der unausweichlichen Uniformität: sie soll billig arbeiten wie andere Maschinen auch.
Ueber die Uniformität in den Religionen wäre am meisten zu sagen; darum auch nur ein einziges Wort. Man wird in der gleichen Religionsgemeinschaft nicht leicht zwei Menschen finden, die völlig gleich dächten über die letzten Fragen, über die Bedeutung der Symbole oder über den Wert der vielen gottesdienstlichen Handlungen; aber die verschiedenen Hierarchien im Staate haben es für gut befunden, die Uniformität ihrer Kirchen aufs äusserste zu treiben; heute noch wird in Bann getan (wenn auch nicht mehr lebendig verbrannt), wer eine eigene Meinung äussert über die letzten Fragen, über Symbole oder über gottesdienstliche Handlungen. Und wenn die Zugehörigkeit zu einer Philosophie, zu einer sogenannten Weltanschauung ebenso allgemein wäre wie die Zugehörigkeit zu einer Kirche, so hätte man auch die philosophischen Sekten uniformiert.
Die Religion wird von ihren eigenen Machthabern gern zu einer politischen Waffe umgewandelt, wo dann die Gewohnheit des Gehorsams gute Dienste leistet; und umgekehrt lieben es die politischen Parteien, die Leitsätze ihres politischen Glaubens als Dogmen einer Weltanschauung, ja einer Religion zu verkünden. In der Wahlschlacht und in den Parlamenten mag eine solche Uniformität des politischen Glaubens nützlich, notwendig sein; handelt es sich doch dabei eigentlich um einen richtigen Feldzug, in welchem ein Staatsmann (in den seltenen Fällen, wo ein Ernstfall vorliegt) wie in einem wirklichen Kriege den Feind besiegen will. Und ich habe schon gesagt, dass Uniformität oder Drill im Heere ganz und gar nicht zu verachten sei. Ist aber die Wahlschlacht geschlagen, hat die Uniformität ihren Zweck erfüllt, dann wäre es mitunter erwünscht, sich in der Friedenszeit darauf zu besinnen, dass auch unter den Mitgliedern einer politischen Partei gar viele Eigenbrödler sind, die in gleichem Tritt und Schritt gegen die feindliche Stellung marschieren, aber sich über die letzten Ziele und über den Wert der Parteisymbole ihre eigenen Gedanken machen.
Ein Feuilleton braucht nicht so reichhaltig zu sein wie eine Briefmarkensammlung. Ich müsste sonst die leidige Uniformität bis in ihre Schlupfwinkel verfolgen, wo sie nicht so für alle Augen sichtbar ist wie in der Schule und in der Kirche. So könnte ich auf die Uniformität in der öffentlichen Wohltätigkeit hinweisen. Einst als die Menschen noch mehr Individuen waren, schenkte man dem Hungernden ein Brot, dem Frierenden aber einen Mantel; und der Wohltäter arbeitete auch nicht nach einer Schablone: der eine schenkte das Brot aus seinem Vorrat, der andere stahl den Mantel, den er schenken wollte. Unsere heutige Kultur ist so mathematisch geworden, dass sie bei Armenspeisungen und sogar bei Christbescherungen nicht nach dem Bedürfnis des einzelnen fragt, sondern jeder Nummer ganz genau den gleichen Liter Suppe zureicht, oder sonst genau die gleiche Gabe. Nur nicht individualisieren! Hat der Kerl nur ein Bein? Er kriegt dennoch sein Paar Stiefel, einen rechten und einen linken. Um so schlimmer, wenn sie zu eng sind! Die Polizei könnte es nicht besser machen. Von der Suppenausteilung im Gefängnis hat die Wohltätigkeit ihre mathematische Ordnungsliebe gelernt.
Ich glaube ganz gut zu wissen, was man mir auf diese Ketzereien antworten könnte, auf die Entdeckung, dass die Gleichmacherei die Barbarei unserer Kultur sei. Man könnte mir einwenden: Individualitäten sind nur in primitiven Zuständen zu dulden; wir wollen und dürfen nicht zurück zu den Einrichtungen der Wilden, unsere Weltreiche können nicht einmal zurückgeschraubt werden auf die Zustände, die in der Kleinstaaterei des alten Griechenland oder in den Städterepubliken des mittelalterlichen Italien herrschten; wir sollen froh sein, dass das Zeitalter der Maschinen überall so grossartige, maschinenartige Organisation geschaffen habe.
Ich glaube, dass ich einigen Sinn habe für die Leistungen von Organisationen. Sie sind oft ebenso bewunderungswürdig wie unsere Maschinen. Die Maschine einer weltumspannenden Kirche kann einen so starken, selbst ästhetisch starken Eindruck machen, dass der Bewunderer in Gefahr gerät, sich von der Maschine packen und fortreissen zu lassen. Aber ich möchte keine Maschinen, die nicht den armen Menschen dienen wollen. Die Selbstzwecke sein wollen. So findet sich in der prachtvollen Maschine des Heeres eine Einrichtung, die Parademarsch heisst. Es gibt unter den höheren Offizieren leidenschaftliche Soldaten, die den Parademarsch doch nicht mögen. Weil er dem Zweck der Heeresmaschine nicht dient. Ich fürchte, viele schöne Uniformitäten der Schule und der Kirche, der Wohltätigkeit und der anderen Kulturaufgaben brauchten ebensowenig beibehalten zu werden wie der Parademarsch. Sie dienen nur dazu, dass die Statistik mit schönen, egalen Ziffernreihen paradieren könne. Und die meisten Menschen glauben nicht, um der Statistik willen auf der Welt zu sein.