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Im Zeitalter des Examens

In China und in Deutschland, ähnlich bei anderen abendländischen Völkern, darf man einen der Berufe, die für besonders ehrenvoll gelten, nicht ergreifen, ohne vorher eine Prüfung abgelegt zu haben. Ein »Examen«, wie das eingebürgerte Fremdwort lautet. Der Aberglaube an die heilbringende Kraft des Examens hat seit hundert Jahren schreckliche Fortschritte gemacht. Noch vor zwanzig Jahren konnte man auf den Gebieten, über welche keine Universität herrschte, oft ohne Examen etwas leisten; man konnte ohne Examen geniale Erfindungen machen oder die Welt umkrempeln. Heutzutage wird jeder Chauffeur, damit er sich streng nach den Vorschriften halten könne, einem Examen unterworfen; aber auch der Schutzmann, der den Chauffeur wegen rasenden Fahrens aufschreibt, hat zu diesem Zwecke ein Examen bestanden. Wir leben in dem Zeitalter des Examens.

Vorläufig gibt es noch die sogenannten freien Berufe, die man beinahe ohne Examen wählen darf. Vorläufig wenigstens kann man Dichter (Schriftsteller), Komponist oder bildender Künstler werden – nicht etwa auch Architekt –, ohne sich seine Begabung durch eine Prüfungskommission bescheinigen zu lassen. Aber ich sehe das Examen schon im Anmarsch auch gegen die freien Berufe. Zwar haben weder Lessing, noch Goethe, noch Schiller ein Recht auf den Doktortitel besessen, zwar haben Rembrandt und Mozart ohne jedes Attest ihre Werke geschaffen; aber das wird schon anders werden, wenn der Polizeistaat es erst durchsetzen wird, dass er nur abgestempelte Dichter (Schriftsteller), Komponisten und Maler zu dulden brauche. Die Staatspreise für derlei Künstler, deren Verleihung doch auf einer Prüfung der Arbeiten beruht, sind der Anfang für ein Kunstexamen. Selbst Hebammen werden geprüft; da müssen die künftigen Goethe und Beethoven auch geprüft werden können.

Unter den ehrenvollsten Berufen habe ich nur drei finden können, die in unseren Zeitläuften ohne jedes Examen ausgeübt werden dürfen: der Beruf eines Königs, der Beruf eines Millionärs und der Beruf eines Gesetzgebers. Bei den beiden erstgenannten Berufen versteht sich die Examenfreiheit von selbst; diese Berufe werden ja gewöhnlich ererbt. Auch der Beruf des Gesetzgebers wird (für die erste Kammer wenigstens) vielfach durch Erbschaft gewonnen, und zwar so, dass die Fähigkeit, ein tüchtiger Gesetzgeber zu sein, an den Erbanfall eines Grossgrundbesitzes geknüpft ist. Doch die fleissigsten Gesetzgeber, die man sonst Parlamentarier oder Abgeordnete nennt, verdanken ihre Berufung einfach dem guten Willen einer Mehrheit, die sich nach Recht und Herkommen um eine Prüfung der geistigen Fähigkeiten des Kandidaten nicht zu kümmern braucht.

Wenn ich nun im Folgenden einen alten Herzenswunsch aussprechen werde, den nämlich, die uferlose Macht des Examens einzudämmen und zurückzudrängen, so darf ich gewiss hoffen, von den sehr einflussreichen Männern dieser drei examensfreien Berufe in meinem Streben verstanden und unterstützt zu werden: von den Königen, den Millionären und den Gesetzgebern in den Parlamenten. Es wäre zum Beispiel unbillig, wenn ein Gesetzgeber von einem Richter das Examen verlangen würde, bei dem er selbst durchgefallen wäre, oder wenn ein König die Durchführung dieser Regel seinem Minister auftrüge.

Man glaube ja nicht, dass die Examensnot nur die sechs Prozent der Kinder angehe, welche auf höheren Schulen für die Honoratiorenberufe vorbereitet werden; das Examen herrscht auch über die Volksschule. Dort ist der Schulmeister vom Polizeistaat beauftragt, jedem Kinde womöglich den gleichen Lernstoff einzubläuen (»Arschpauker« hiessen die Lehrer im 18. Jahrhundert); ob der Seminarlehrling (er hat zwei Prüfungen vor seiner festen Anstellung zu bestehen) diese unmögliche Aufgabe erfüllt habe oder nicht, das wird vom Schulinspektor, fast immer noch einem Geistlichen, untersucht; an seinen Schülern wird der Lehrer examiniert; natürlich richtet er also seine Unterweisung für das Examen ein und für den Herrn Schulinspektor. Nur möglichst viel Lernstoff! Nur um Gottes und des Geistlichen willen keine Arbeitsschule, in der die Fähigkeiten der Kinder ausgebildet werden könnten! Das indirekte Examen, bei welchem der Lehrer vor der Unwissenheit der Schüler zittert, verewigt die alte Lernschule, über die der Münchener Stadtschulrat Dr. Kerschensteiner so viel Beherzigenswertes gesagt hat.

In einigen süddeutschen Staaten gibt es aber auch eine wahrhaftige Abgangsprüfung für Volksschüler; die soll darüber entscheiden, ob ein fauler oder dummer Schlingel in seinem vierzehnten Lebensjahre aus der Schule entlassen werden könne oder noch ein Jahr (vielleicht gar zwei Jahre) die Bank zu drücken habe. Hätten die Gesetzgeber, die eine solche Bestimmung verordnet haben, mit oder ohne Examen ein wenig Kinderpsychologie getrieben, so hätten sie geahnt, dass Schüler, die sieben Jahre lang dumm oder faul gewesen sind, durch die Strafe des jahrlangen Nachsitzens nicht gebessert werden können. Schulärzte sind wenigstens dieser Meinung.

Das Examen, das den allermeisten Menschen der »höheren« Stände bekannt ist, setzt erst später ein und wird die Reifeprüfung genannt. Auch Maturitätsprüfung. Dieses Examen in seinen verschiedenen Abarten gibt dem jungen Manne allerlei Rechte oder Berechtigungen; ohne ein solches Reifezeugnis darf man keine Hochschule besuchen und sich nicht zum einjährigen Dienste melden. Es versteht sich von selbst, dass auch die höhere militärische Karriere an einige Prüfungen gebunden ist, trotzdem Julius Cäsar meines Wissens kein Examen abgelegt hatte und trotzdem Napoleon es nach einer blossen Leutnantsprüfung zum Imperator brachte. Der Staat kann aber überall nur die Uniformität anstreben und verlangen, im Heere wie in den akademischen Berufen.

Ich übergehe darum diesmal die namenlosen Leiden, welche ein genialer Schüler – und nur dieser wird reif – im Alter von achtzehn bis zwanzig Jahren bei der Reifeprüfung auszustehen hat. Doch auch für den Durchschnitt ist mir der Segen dieser Abgangsprüfung mehr als zweifelhaft. Der Schüler hat in den langen Jahren des Gymnasiums oder der Realschule just so viel gelernt, wie in ihn hineinging; was er in den letzten Monaten vor dem Examen aus Angst oder Ehrgeiz noch hinzugebüffelt, das hat er einige Wochen später wieder vergessen. Man weiss, wie wenig von dem eingetrichterten Wissen übrig bleibt, mit dem die sogenannten »Pressen« junge Leute für ein Examen präparieren. Es ist wie in den chemischen Gewerben, wo das schnelle Verfahren nur selten ein gutes Verfahren ist. Unsere vortrefflichen Oberlehrer wissen auch ganz genau, dass sie die Reifeprüfung nicht nötig hätten, um ihren Schülern ein gerechtes Zeugnis auszustellen; dass ein grosses Kapital an körperlicher und geistiger Gesundheit bei den letzten Anstrengungen und Aufregungen der Reifeprüfung oft verloren geht. Nur dass jede Anstalt ihre kleine Hauseitelkeit besitzt und auf Kosten der Vernunft mit glänzenden Abgangsprüfungen paradieren möchte. Wäre die Abgangsprüfung nicht, so könnten sich unsere Gymnasien und Realschulen viel leichter aus kranken Lernschulen zu tüchtigen Arbeitsschulen entwickeln.

Mancher, der diesen flüchtigen Anregungen bisher ganz oder teilweise zugestimmt hat, wird jetzt ein Halt zurufen und verlangen, ich möchte wenigstens an die Säulen unserer Kultur nicht rühren, an die scheinbar von einem übermenschlichen Wesen zum Heile der Zivilisation eingesetzten Einrichtungen: das Doktorexamen und die Staatsprüfung. Wieder muss ich einen Unterschied machen zwischen genialen Studenten und dem Durchschnitt, der durch Prüfungen in die staatserhaltenden Karrieren eingeht. Es kann kaum bezweifelt werden, dass ausser den ganz abseitsstehenden Künstlern auch die bahnbrechenden Entdecker und Erfinder, die grundstürzenden und grundlegenden Staatsmänner und Schlachtenlenker, dass alle Mehrer des Schatzes ein Examen zum Beweise ihrer Fähigkeiten nicht nötig hatten; die grossen Männer haben entweder überhaupt niemals ein Examen bestanden oder doch sicher kein Examen aus dem, worin sie gross wurden. Aber das Mittelgut, das sich durch die enge Pforte des Examens zu den staatserhaltenden Karrieren drängt, das muss doch – so meint man – sich über eine sorgsam abgemessene Menge von Wissen ausweisen können. Und wenn darüber auch unsere Hochschulen blosse Lernschulen bleiben sollten, anstatt die vollkommensten Arbeitsschulen zu werden. Wir haben es denn auch im Zeitalter des Examens so weit gebracht, dass die neueren technischen Hochschulen den alten Universitäten ihre Titel und ihre Diplome nachmachen durften.

Ich glaube aber, dass der Kampf um den Titel oder das Diplom, der von jungen Menschen im beneidenswertesten Alter mit allen Mitteln nicht nur des Fleisses – oft unter Entbehrungen –, sondern auch mit Opfern an Unterwürfigkeit, ferner mit mancherlei Schlauheit geführt werden muss, dass dieser Kampf oft der Gesundheit, noch öfter dem Charakter des Kandidaten schädlich ist. Und die Kandidaten sind in dieser Lebensperiode meist schon klug genug, um von selber traurig oder spöttisch zu bemerken, dass die Prüfungen ihren Zweck gar nicht erfüllen. Die Dissertationen sind eine veraltete Einrichtung aus einer Zeit, in der der Doktortitel noch unmittelbar den Zugang zur akademischen Lehrtätigkeit eröffnete, wo also der Doctorandus wirklich zu zeigen hatte, dass er imstande wäre, über einen Gegenstand seines Faches ein paar Druckbogen niederzuschreiben. Heutzutage werden mit Hängen und Würgen (natürlich oder sozusagen niemals mit fremder Hilfe) alljährlich tausend Dissertationen geschrieben, gut geheissen und gedruckt, deren Verfasser nicht daran denken, jemals in ihrem Leben wieder an eine wissenschaftliche Leistung zu gehen. Bewahre! Heutzutage werden niemals unter dem Beistande des Professors naturwissenschaftliche oder medizinische Dissertationen geschrieben, deren Schreiber nachher das Schreiben auf Formeln und Rezepte einschränken. Bewahre!

Bei dem Doktorexamen und bei der Staatsprüfung ist der Examinator in vielen Fällen ebenso zu beklagen wie der Prüfling. Die Doppelstellung der Hochschulen, die »einerseits« der freien Forschung dienen und »anderseits« dem Polizeistaate seine Assessoren, seine Ingenieure usw. liefern sollen, bis zum Rande mit Lernstoff gefüllt, – diese Doppelstellung hat zur Folge gehabt, dass unter den Examinatoren immer auch bedeutende Menschen sitzen, die eigentlich zu gut dafür sein sollten, um im Auftrage des Staates den jungen Leuten das vom Staate vorgeschriebene Wissen abzufragen. Und die minderen Examinatoren wiederum, die selbst nur alt gewordene Kandidaten sind, besitzen doch wohl nicht immer den richtigen Maßstab, um zwischen lebendigem Wissen und totem Wissen des Prüflings zu unterscheiden.

Endlich weiss der klügere Prüfling zur Zeit seines Examens schon recht gut, und leidet darunter in seinem Stolze und in seiner Ehrlichkeit, dass er verständigerweise nur in den Grundlagen seines Faches, meinetwegen in den tiefsten Grundlagen, geprüft werden dürfte, dass eine ungeheure Summe von Gedächtniskram daneben oder als Hauptsache verlangt wird, Gedächtniskram, der durch die Erfindung der Buchdruckerkunst eigentlich überflüssig gemacht worden sein könnte. Es sind nicht immer die gleichen Kandidaten, die über die Grundlagen ihres Faches einen freien Ueberblick haben, und die den Lernstoff der Tabellen, die man jederzeit in Handbüchern nachschlagen kann, zur Freude der minderen Examinatoren auswendig gelernt haben.

Wenn ich Reichskanzler wäre … Die Vorstellung ist nach den Tagen Bismarcks wahrlich nicht grössenwahnsinnig. Es gibt keine besondere Reichskanzlerprüfung. Man kann als Referendar oder gar als Assessor ohne weiteres Examen durch Gottes Fügung Reichskanzler werden. Es gibt – wie gesagt – keine besondere Reichskanzlerprüfung; höchstens eine nachträgliche, wo dann die Weltgeschichte examiniert. Doch das nebenbei.

Wenn ich Reichskanzler wäre, so würde ich zunächst einen selbständigen Unterrichtsminister ernennen lassen und an diesen Herrn einen Brief richten, etwa folgenden Inhalts:

»Wie wäre es, wenn wir sämtliche Prüfungen in unserem Staate mit einem Schlage abschaffen würden? Wenn Sie die geprüften Herren von den staatserhaltenden Karrieren einmal genau daraufhin ansehen wollten, so würden Sie die Entdeckung machen, dass nicht alle diese geistigen Führer des Volkes erstklassig sind (wie das hässliche Wort lautet) in bezug auf ihre Intelligenz, auf ihren Charakter und auf ihre körperliche Gesundheit. Die vielen Prüfungen liefern uns also nicht einwandfreies Material. Im Gegenteil; ich kann mich der Vermutung nicht entschlagen, dass die vielen Prüfungen dazu beigetragen haben, unser prächtiges Rohmaterial (prächtig, wenn wir es nach dem Grundsatze einer demokratischen Aristokratie aus dem gesamten Volke auswählen könnten), so herunterzubringen, herunterzubringen an Charakter, an Gesundheit und an Intelligenz. Bitte, wenden Sie nur gefälligst nicht ein, dass dann die jungen Leute noch weniger lernen würden. Ich vertraue, die Rechten würden ohne Examen erst recht was lernen.«

Die Antwort des Unterrichtsministers empfing ich jüngst vertraulich:

»Die auch für den Staat nicht unwichtige Frage, ob die vielen Prüfungen die Gesundheit zu schädigen und so die Interessen der Heeresverwaltung zu gefährden imstande seien, will ich in Erwägung ziehen. Sonst aber scheint es mir kraft meines Amtes als Minister einigermassen unsicher, ob die Staatsraison nicht eine gewisse Herabstimmung an Charakter und Intelligenz fast wünschenswert machen könnte.«


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