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Polizei und Religion

Es ist bald vierzig Jahre her, dass ich ein Drama geschrieben hatte, in welchem vielleicht wirklich, wie die Kritik mir nach der »Premiere« sagte, mehr Bewunderung für Schillers »Kabale und Liebe« als eigenes Können zu finden war. Das Drama wurde vom Prager Landestheater zur Aufführung angenommen, wäre aber wahrscheinlich im Theaterarchiv liegen geblieben, wenn nicht ein Verbot der Zensur die Neugierde des Publikums gereizt und dem Herrn Direktor die Aussicht auf ein volles Haus wenigstens für den ersten Abend eröffnet hätte. Ich wurde veranlasst, beim Statthalter von Böhmen eine Aufhebung des Verbots persönlich zu betreiben. Statthalter war damals der gefürchtete General Koller, der wohl gewiss zu dem Zweck ernannt worden war, die politischen Bestrebungen der Tschechen zu unterdrücken. D. h. er sollte dem alten zentralistischen Staatsgedanken dienen, dem nationalitätslosen, nachdem unmittelbar vorher das »föderalistische«, eigentlich tschechische Ministerium dem Zentralismus (der aus historischen Gründen deutsch gewesen war) den Todesstoss versetzt hatte. Koller galt für einen Freund der Deutschen. Unsere Unterhaltung über das Zensurverbot wurde von seiner Seite äusserst höflich, von meiner Seite leider etwas formlos geführt. Im Laufe des Gesprächs fiel das statthalterliche Wort: »Die Polizei ist zum Verbieten da.«

Diese wohlwollende Meinung ist nicht nur bei den Regierenden, sondern auch im Volke weit verbreitet. Die Entwicklung unserer Staaten zu Polizeistaaten hat dazu geführt, dass das Volk in der Polizei, die doch nicht nur der Kriminalität gegenüber notwendig ist, etwas wie einen Fremdkörper im idealen Rechtsstaate zu sehen sich gewöhnt hat. Die Staatslehrer wissen, dass es neben einer negativen Sicherheitspolizei auch eine positive Wohlfahrtspolizei gibt, und dass es in aufstrebenden Zeiten sogar eine Aufklärungspolizei gegeben hat; das Hauptobjekt der Polizei aber, der einfache Mann, ist immer zum Glauben geneigt, die Polizei sei nur zum Verbieten da. Das mag daher kommen, dass aus der Zeit des absoluten Staates und aus menschlichen Gründen bei den Trägern der Polizeigewalt das Streben geblieben und vorhanden ist, sich um alles und noch um einiges andere zu kümmern. So zum Beispiel um die intime Herzensangelegenheit der Menschen, welche Religion heisst. Man könnte hinzufügen, dass die Polizei sich gern auch in andere Herzensangelegenheiten hineinmischt: in Kunstfragen und in Liebeshändel. Wohl aus dem gleichen Grunde; und mit der gleichen Absicht: das Nackte darf nicht geduldet werden.

Das Gebiet der Polizei ist unübersehbar geworden. Während aber ein Glied der Wohlfahrtspolizei, die Feuerwehr, in den Grossstädten um so beliebter geworden ist, je mehr sie ihre Dienste ausgedehnt hat, kann sich die allgegenwärtige, nur nicht immer an der richtigen Stelle und zur richtigen Zeit gegenwärtige Polizei einer solchen Vorliebe nicht rühmen. Was nicht hindert, dass in der Stadt – auf dem Lande ist es anders – unaufhörlich und bei den kleinsten Anlässen nach der Polizei gerufen wird.

Die Leute, welche auf die Polizei schimpfen und dennoch nach dem Schutzmann schreien, sobald sie eine Apfelsinenschale auf dem Bürgersteig liegen sehen, würden sich im heutigen Orient und in den antiken Kulturstaaten nicht wohl fühlen und nicht wohl gefühlt haben: sie könnten auf den Schutzmann weder schimpfen noch ihn errufen. In den fast polizeilosen Ländern des Orients und der alten Welt wurden die Brunnen nicht immer zugedeckt, bevor noch ein Kind auf den Gedanken kommen konnte hineinzufallen. Heute, und bei uns werden nicht nur alle Brunnen sorgsam zugedeckt, auf dem kleinsten Dorfe kann man gelegentlich an einer Pumpe die Inschrift baumeln sehen: »Kein Trinkwasser.« Vielleicht hat der Herr Apotheker das Wasser bakteriologisch erst vier Wochen nach der Einlieferung untersucht, als es schon verdorben war; vielleicht huldigt der gestrenge Herr Bezirksarzt veralteten Anschauungen über die Ansteckungsgefahr; einerlei: die Pumpe bleibt polizeilich verboten.

Viel schlimmer steht es, wenn die symbolische Anwendung des Wortes nicht zu altmodisch klingt, um die neu gefassten oder neu hervorquellenden Brunnen des Glaubens. Zwar wäre polizeiliche Hilfe da nicht immer nötig, weil die Vertreter des alten und abgestorbenen Glaubens sich schon selbst bemühen, die Verkündiger des Neuen unschädlich zu machen und womöglich in den neuen Schacht hineinzuwerfen. Aber die Verkündiger des Neuen haben mitunter Anhänger, haben eine Gemeinde, und einem solchen Unfug, dass eine Gemeinde sollte lieben dürfen, wen sie will, muss gesteuert werden. Jede Liebe soll ja unter Polizeiaufsicht stehen. Vor einem Wasser, das ein alter Apotheker für schädlich erklärt hat, wird nur gewarnt; Männern gegenüber, welche eine neue Glaubensgemeinde um ihre Person zu sammeln verdächtig sind, folgt auf die Verwarnung rasch und nachdrücklich die polizeiliche Verfolgung.

Wie unsere jetzige Polizei zu dieser bedenklichen Erweiterung ihres Gewaltkreises gekommen ist, das wäre einer gründlichen Untersuchung wert. Noch zur Lutherzeit, als just ein neuer Glaube zur betrüblichen Ueberraschung des alten Staates und der alten Kirche aufkam, bedeutete »Polizei« eigentlich die bürgerliche Staatsordnung im Gegensatz zur kirchlichen Ordnung; ganz davon zu schweigen, dass »Polizei« (nur dem Klange nach das gleiche Wort) damals und später noch sogar etwa soviel wie Höflichkeit oder Artigkeit heissen konnte. So wunderlich geht es mitunter in der Wortgeschichte zu. Für den Gegensatz zwischen Polizei und Kirche könnte ich Luther selbst anführen, der in seinen Tischreden einmal die Häupter der Kirche den Häuptern der Polizei oder des Staates entgegenstellte. (Der Staat hatte schon lange angefangen, ein Polizeistaat zu werden.) Die damalige Polizei hatte also nichts mit der Kirche zu schaffen.

Ein Hauptgrund dafür, dass die neue Polizei sich auch noch das gänzlich fremde Gebiet des Glaubens eroberte, mag in dem schlechten Gewissen zu suchen sein, das der moderne Staat empfand, so oft er Glaubenszwang ausüben wollte. Die mittelalterliche Kirche hatte ein robusteres Gewissen; sie schämte sich ganz und gar nicht, ihr kanonisches Recht gegen die Ketzer anzuwenden, und überliess nur die Exekutive der weltlichen Macht, die sich schon damals dann und wann ein bisschen schämte. Die Kirche hatte eben das Gewissen eines Metzgerhundes, der das Vieh zur Schlachtbank treibt, also recht eigentlich ein gutes Gewissen. Der moderne Gesetzgeber gar hat ein ganz schlechtes Gewissen, wenn er einen alten Glauben durch Gesetzesparagraphen erzwingen soll; er drückt sich um diese Aufgabe gern herum und schiebt sie der Polizei zu, die sich niemals schämen darf. Man braucht sich ja nicht zu schämen, sobald man seine Pflicht erfüllt. Und es ist eine Pflicht unserer Polizei geworden, keine neue Glaubensgemeinde aufkommen zu lassen. Eher duldet man die Ausbreitung einer Monstrosität, eher lässt man die Lehre der Spiritisten erstarken, als dass man ein gesundes, kräftiges Glaubenskind das Licht der Welt erblicken Hesse. Das Monstrum duldet man, das lebensfähige Kind wird im Keime erstickt. Was doch sonst, unbildlich gesprochen, nach sehr strengen Gesetzen bestraft wird.

Der Schade wäre nicht übermässig gross, wenn es wahr wäre, dass unser Geschlecht durchaus materialistisch ist und ohne Glaubenssehnsucht. Das ist aber nicht wahr. Nur die Oberschicht begnügt sich mit dem neuen Glauben an die alleinseligmachenden Naturgesetze; und bei den Tausenden, welche noch gläubiger einigen populärwissenschaftlichen Führern folgen, wird eine solche vermeintlich ungläubige Ueberzeugung leicht vollends zu einem neuen Dogma. Bei der ungeheuren Mehrheit des Volkes jedoch, bei der Unterschicht, die vielleicht doch einmal den Ausschlag geben wird, gärt eine neue Sehnsucht und möchte Gestalt gewinnen. Der alte Glaube scheint nicht mehr ganz wahr zu sein, aber die neuen Wahrheiten befriedigen noch weniger. Die neue Schönheit ist der Glaubenssehnsucht nicht schön genug. Man braucht nicht erst die Dichter unserer Zeit zu lesen, man braucht nicht erst aus den Büchern von Tolstoi, Selma Lagerlöf und Gerhart Hauptmann die wilde Sehnsucht des Volkes nach einem schöneren Himmelreich kennen zu lernen; man braucht nur auf dem Lande zu leben und das Vertrauen sonst guter Katholiken und Protestanten zu gewinnen, noch besser das Vertrauen ihrer freieren Söhne, um zu erfahren: der Beruf zur Religionsstiftung ist nicht erstorben, die Sehnsucht nach einer neuen Glaubensgestaltung ist stärker als seit Jahrhunderten, ist vielleicht wieder so stark geworden, wie sie vor neunzehnhundert Jahren war. Nur dass die kirchliche Polizei des Staates stärker geworden ist, als sie jemals war; nur dass diese kirchliche Polizei die alten Religionsgesellschaften, auch die ablebenden und die ganz abgestorbenen, mit allen gesetzlich noch irgend möglichen Mitteln unterstützt, die neuen Lebenskeime aber mit allen gesetzlich noch irgend möglichen Mitteln bekämpft und stört. So ist es gekommen, dass nur die negativen oder die nihilistischen Richtungen der neuen Glaubenssehnsucht an der Oberfläche sichtbar werden, das Ringen nach einer positiven Gestaltung jedoch unter der sichtbaren Oberfläche bleibt. Der Bruchteil der Sehnsüchtigen, der sich in Monistenbünden oder in Freidenkerbünden vereinigen darf, und selbst in diesen harmlosen Vereinen noch von der kirchlichen Schulpolizei unaufhörlich belästigt wird, dieser Bruchteil erfährt – Ausnahmen bestätigen die Regel – von dem heissen Drängen nach einem neuen Glaubensinhalt fast nur die kalte Negation: man glaubt den alten Glauben nicht mehr. So fördert die kirchliche Polizei die Ausbreitung negativer Tendenzen, die sie eigentlich am meisten fürchten sollte, die sie aber nach den verschämten Staatsgesetzen nicht verbieten darf. Aber jedem Reformator, der irgendeinen alten Glaubensrest noch hüten möchte wie eine heilige Flamme, jedem Baumeister oder Bauhandwerker an einer neuen Kirche werden Schlingen um den Hals geworfen oder Prügel zwischen die Füsse.

Ich darf mich nicht dabei beruhigen, dass einige meiner Freunde vielleicht aus den Negationen ihrer Freidenkerbünde gar nicht hinausstreben, dass just ich besonders geneigt bin, auch die neuen Worte der gärenden Glaubenssehnsucht wieder für Schall und Rauch zu halten. Geistige Unterdrückung mitanzusehen ist ebenso unerträglich, wie die Not eines materiell unterdrückten Volkes. Und die geistige Not ist gross; sie wird noch grösser durch die recht weit verbreitete Ueberzeugung, dass nicht mehr wie einst im Mittelalter ein robuster alter Glaube die Staatsgewalt gegen die neuen Sehnsuchtsgestaltungen aufhetzt, dass vielmehr hinter der Glaubenspolitik, welche die kirchliche Polizei des Staates lenkt (Politik und Polizei kommen ja vom gleichen Stammworte her), allerlei unsaubere Geister stecken, wie Schlendrian und Bequemlichkeit, Heuchelei und selbst Geldinteresse.

Was den Kampf gegen die kirchliche Polizei so erschwert und oft aussichtslos erscheinen lässt, das ist ein Umstand, auf welchen ich eben leise hingewiesen habe: dass die geistige Not des Volkes leider nicht zugleich die Not der geistig weniger Armen ist, die es in der dünnen und kalten Luft der Negation aushalten können. Grosse Reformen aber sind gewöhnlich nur dadurch zustande gekommen, dass Menschen aus höheren Ständen die Not der sogenannten niederen Stände mitempfanden oder doch verstanden und sich aus reinlicheren oder unreinlicheren Motiven an die Spitze der Bewegung stellten. Nur gerade religiöse Revolutionen sind fast immer aus der Tiefe des Volkes emporgestiegen, und oft genug erst nach dem Siege von klugen Leuten gefälscht worden, die sich der siegreichen Ideen nachträglich bemächtigten, Politik trieben und Polizeigewalt ausübten. So wäre auch für unsere Zeit die Hoffnung auf eine neue Gestaltung der Glaubenssehnsucht, auf eine neue Gemeindebildung, auf den Sieg eines neuen Reformators nicht ganz ausgeschlossen, wenn nur die Staatspolizei ein Einsehen haben und die Kräfte der Glaubenssehnsucht gewähren lassen wollte.

Ich möchte keine Satire schreiben und keine Humoreske; sonst könnte ich dem alltäglichen Leben nacherzählen, wie heutzutage ein Reformator vom ersten Schritte an über den Schutzmann stolpern müsse. Man verbrennt die Ketzer nicht mehr; man lässt sie nur ganz human bis zur tödlichen Erschöpfung über Polizeiparagraphen stolpern. Niemals wäre eine Religionsstiftung möglich gewesen, wenn die Polizei in alten Zeiten so mächtig und so konservierend gewesen wäre wie unter den Gesetzen unseres Rechtsstaates.

Ich möchte es dem Leser überlassen, sich die polizeilichen Massnahmen gegen die stärksten Religionshelden nach dem Muster des jetzt beliebten Vorgehens auszumalen. Nur durch einige Beispiele möchte ich der Phantasie des Lesers eine Richtung geben.

Bei Moses hätte die ägyptische Polizei gar nicht einzugreifen brauchen, da er doch schon dem Strafgesetze verfallen war, als er einen ägyptischen Mann erschlagen hatte; wäre er aber begnadigt worden, so hätte die Polizei doch dem Magier und Wundertäter und dem obdachlosen Wüstenwanderer das Handwerk legen können.

Der Buddha wäre einer abendländischen Polizei sofort verfallen gewesen, als er die in Indien herkömmlichen Standes- oder Kastenunterschiede aufgehoben wissen wollte, als er gar sein Vermögen nicht zu verwalten wusste, es wegwarf und seine karge Nahrung vor fremden Türen erbettelte. Vielleicht wäre so ein Buddha als Prinz aus fürstlichem Hause auch heute einiger Nachsicht gewiss und würde nur für geistig minderwertig erklärt; von Sachverständigen.

Die Vorstellung, Jesus Christus gegen den modernen Polizeistaat kämpfen zu sehen, ist schon mehr als einmal von ganzen Dichtern gefasst worden: von Goethe in seinem lange nicht genug bekannten Fragmente vom Ewigen Juden; von Gerhart Hauptmann in seinem gar nicht hoch genug zu schätzenden Romane »Emanuel Quint«. Man braucht nur an den Fanatiker zu denken, dem selbst Wechslertische nicht heilig sind, der Wechslertische umwirft, und noch dazu im Vorhofe des Tempels, wo doch Wechslertische hingehören. Und die Evangelien berichten nicht, dass nach einem Schutzmann gerufen worden wäre.

Mit Mohammed wäre eine Polizei nach dem Vorbilde der unseren bald fertig geworden. Der Bursche, in dem seine Stammesgenossen zunächst nur einen epileptischen Narren sahen, wäre in einer Idiotenanstalt untergebracht worden und wäre dort gar nicht erst in die Lage gekommen, die Götzen des Landes zu zertrümmern, Bürgerkrieg zu erregen und – schrecklich zu sagen! – an den Kaiser einen unverschämten Brief zu schreiben.

Franziskus, der liebe Heilige, wäre schon rechtzeitig von einer besseren Polizei, als eine zu Beginn des dreizehnten Jahrhunderts in Italien tätig war, in Gewahrsam genommen worden; so hätte er (ganz abgesehen von der Bettelei seines Anhangs) sich nicht auf dem Markte nackend ausziehen, nicht später durch eine sehr primitive Tracht neuen Anstoss erregen und nicht ohne Bauerlaubnis sein Kirchlein bauen können.

Auch Luther dürfte heutzutage weder seine Thesen anschlagen, noch die Bannbulle ungestraft öffentlich verbrennen.

Vielleicht gibt es in unseren Tagen keinen Moses mehr, keinen Buddha, keinen Mohammed, keinen Franziskus und keinen Luther. Vielleicht aber ist die kirchliche Polizei nur stärker geworden als die Kraft der Glaubenssehnsucht. Vielleicht die Scheu vor den endlosen und widerwärtigen Belästigungen so gross, dass sie mehr abschrecken, als einst die Todesdrohungen.

Die Polizei, die sonst überall die alten Zustände zu erhalten sucht, war leider selbst neuerungssüchtig, als sie begann, sich um die religiösen Herzensangelegenheiten der Bürger zu kümmern. Es stünde besser um die Polizei und um die Religion, wenn beide – wohlgemerkt: beide – sich entschliessen wollten, einander wiederum nicht zu kennen, als wie in alter Zeit.


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