Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Wieder einmal hat eine Mehrheit des Juristentages sich für Beibehaltung der Todesstrafe ausgesprochen. Die Mehrheit eines Zunftparlaments für Beibehaltung der bestehenden Zunftregeln. Die Debatten sind so geführt worden, und das Ergebnis der Abstimmung ist von der Presse oder von der öffentlichen Meinung so aufgenommen worden, als ob unter allen Fragen der Strafrechtsreform die Frage nach Abschaffung oder Beibehaltung der Todesstrafe die weitaus wichtigste wäre. Ich möchte zunächst daran erinnern, dass gar viele andere Gegenstände der Strafrechtsreform bedeutender und brennender sind, wenn wir uns nur entschlossen auf den Standpunkt der Kriminalpolitik stellen wollen, wenn wir nur Ernst beweisen wollen mit der Aufgabe: die Zahl der Verbrecher in unseren sogenannten Kulturstaaten geringer zu machen. Nur die allzu rege Phantasie des Volkes ist es, die durch eine einzige Hinrichtung stärker aufgeregt wird als durch tausend Verurteilungen zu mehrjährigen Zuchthausstrafen. Noch lange nach dem berühmten Strafgesetzbuch Kaiser Karls V., der für ihre Zeit schon ganz fortgeschrittenen Halsgerichtsordnung, gab es ausser der einfachen Todesstrafe auch eine qualifizierte, das heisst eine verlängerte und durch allerlei Martern verschärfte Todesstrafe; die Phantasie des Volkes und vieler zum Volke gehöriger Juristen will nicht begreifen, dass eine langjährige Zuchthausstrafe für viele tausende Verbrecher eine qualifizierte Todesstrafe ist.
Auf das Volk sollten sich weder die Anhänger noch die Gegner der Todesstrafe berufen. Das Volk sieht im Henker heute noch einen »unehrlichen« Menschen, läuft aber heute noch in der Dunkelheit zu diesem Henker, um sich zum Zwecke abergläubischer Handlungen einen frisch gebrauchten Galgenstrick oder (wo die Hinrichtung durch Enthauptung geschieht) blutbespritzte Kleiderfetzen des eben Geköpften zu kaufen. Das Volk ist hart und klug und gar nicht sentimental; es hat kein Mitleid mit dem Dieb im Zuchthause; es möchte am liebsten, dass die Vollstreckung des Todesurteils nicht zwischen Gefängnismauern stattfände, sondern als öffentliches Schauspiel, es möchte den Mörder bammeln oder seinen Kopf fallen sehen; aber unmittelbar nach der Hinrichtung empfindet es mit dem Gerichteten nicht nur Mitleid, sondern ist geneigt – namentlich wenn der Mörder tapfer in den Tod gegangen ist –, in ihm so etwas wie einen Märtyrer zu erblicken. Es gibt Volkskreise, die einem Mörder sogar für das Gruseln dankbar sind, das er ihnen zweimal verschafft hat: bei seiner Untat und bei seiner Hinrichtung.
Trotzdem ich nun in den meisten Fragen der Gesetzgebung des Volkes Stimme nicht für Gottes Stimme halte, und trotzdem ich mit den Gegnern der Todesstrafe in ihren alten und neuen Beweisgründen durchaus nicht übereinstimme, wäre ich dennoch für Abschaffung der Todesstrafe und spräche als Mitglied des Reichstages – ich weiss, es ist töricht, auch nur an die Möglichkeit zu denken, dass ein parteiloser Wahrheitssucher M. d. R. werden könnte – so lebhaft wie möglich gegen die Beibehaltung der Todesstrafe; was ich aber vorzubringen hätte, das hätte so wenig mit einer bestimmten Richtung einer der politischen Parteien zu tun, dass ich sicher sein könnte, bald von der äussersten Rechten, bald von der äussersten Linken durch Pfuirufe oder ähnliche Argumente unterbrochen zu werden. Das eben ist ja so verwirrend in unserem öffentlichen Leben, dass die Rechte wie die Linke Schlagworte auf ihre Fahnen geschrieben oder gedruckt hat, und nachher, bei der Beantwortung ganz praktischer und unpolitischer Fragen, erst nach den Schlagworten schielt, ob diese auch einverstanden sind. So standen nationalökonomische Schlagworte jahrzehntelang dem Verständnisse der Liberalen für soziale Aufgaben im Wege. So gab es seit mehr als hundert Jahren überall da, wo das Strafrecht, der Strafprozess und der Strafvollzug modernisiert, humanisiert werden sollten, zwei politische Parteien: die Reaktion wollte dem Polizeistaate keine Waffe, keine Drohung, keine Peitsche aus der Hand winden lassen, der Fortschritt (ich denke nicht zunächst an die Partei dieses Namens) wollte bei der Gebrechlichkeit der menschlichen Natur mit Recht jedes Individuum, auch den angeklagten und den verurteilten Verbrecher, mit Paragraphen gegen Uebergriffe des Rackers von Staat schützen. Weil nun die Abschaffung der Todesstrafe seit rund einhundertundfünfzig Jahren von Freigeistern, zuerst von den unmittelbaren Schülern der französischen Enzyklopädisten, gefordert wurde (das entscheidende Buch des edlen Marchese Beccaria »Ueber Verbrechen und Strafen« ist 1764 erschienen), weil später politische Fragen (wie Verhinderung von Attentaten dadurch, dass man die Todesstrafe auch für den blossen Versuch eines Königsmordes beibehielt) mit dem Streite um die Todesstrafe verflochten wurden, darum stehen einander die politischen Parteien in allen diesen Kämpfen geschlossen gegenüber. Was aber in aller Welt hat die praktische Frage der Kriminalpolitik, ob der einfache Bürger gegen den Herrn Mörder am besten durch Beibehaltung der Todesstrafe geschützt werde oder nicht, mit der eigentlichen, mit der politischen Politik, u schaffen? Nach zuverlässigen Berichten soll der tugendhafte Vernunftfanatiker Robespierre als junger Advokat einen Aufsatz gegen die Todesstrafe veröffentlicht haben; später entsetzte er einmal den Henker selbst durch die Anfrage, ob der nicht mehr als fünfzig Köpfungen täglich vornehmen könnte. Die extremen Anhänger beider Parteien träumen von solchem Blutvergiessen, so oft sie sich die vollständige Niederwerfung der Gegenpartei nur lebhaft genug ausmalen.
Ich glaube bestimmt, die meisten Gegner der Todesstrafe sind nicht so sehr Gegner des Prinzips als vielmehr Gegner der Hinrichtung. Die Herren Raubmörder sind denn doch nicht so wertvolle Menschen, dass ihre Vernichtung eine Rolle spielen könnte gegenüber der hundertfach und mehr als hundertfach grösseren Zahl wertvoller Menschen, die trotz aller Schutzgesetze alljährlich »im Dienste der Kultur«, als Arbeiter an Kulturwerten vernichtet werden: in Bergwerken und in Fabriken, als Führer von Eisenbahnen, Dampfschiffen und Flugfahrzeugen, endlich (ich spreche nicht vom Kriege selbst) in den Vorbereitungen zum Kriege. Kaum jemand wird es bedauern, dass neben hundert solchen schuldlosen Opfern auch ein Mörder abgeschafft, vernichtet wird, ein Kerl, der doch die Förderung der Kultur nicht zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat. Nur dass eine ganz natürliche Empfindung uns mit Widerwillen erfüllt gegen eine Einrichtung, die einen Menschen in grässlicher Weise abzuschlachten befiehlt. Unsere Zeit ist so human geworden, so mitleidig, dass das Töten der Schlachttiere mit immer geringerer Grausamkeit vorgenommen wird; oder dass doch von Seiten aller Tierfreunde geringere Grausamkeit verlangt wird. Man hat Schussmasken für die Tötung von Rindern erfunden; man sucht neue Tötungsarten, um die Zuckungen der Rinder während der Entblutung zu hindern, um den Tod blitzartig eintreten zu lassen. Nicht ganz mit der entsprechenden Rücksicht auf Menschenpsychologie ist man bei den Neuerungen vorgegangen, die in den verschiedenen Staaten bei Abschlachtung verurteilter Verbrecher eingeführt worden sind. Man vergisst allzugern, in wie furchtbarer Weise die Todesangst beim Menschen durch sein Denken gesteigert wird; und wenn man den Vorgang der Abschlachtung auch auf die allerkürzeste Zeit zusammenrückt, so bedeutet doch eine Minute für das Gehirn des menschlichen Schlachtopfers etwas Grauenvolles. Die Geschworenen aus dem Volke, namentlich die ländlichen Geschworenen, sind viel leichter geneigt als etwa die akademisch Gebildeten, durch ihren Wahrspruch ein Todesurteil herbeizuführen; aber nur selten hätte so ein Mann aus dem »besseren« Volke Lust, der Abschlachtung persönlich beizuwohnen. Die Ueberzeugung, dass auch der Mörder nicht länger gequält werden dürfe, als das Ziel seiner Vernichtung unbedingt erfordert, ist so allgemein geworden, dass bei den früher gebräuchlichen öffentlichen Hinrichtungen die Wut der Zuschauer sich schnell gegen den Henker oder gegen den Scharfrichter kehrte, der seine Sache nicht ordentlich gemacht hatte.
Auch die neueren Hinrichtungsmaschinen lassen an Blitzartigkeit zu wünschen übrig. Die Guillotine, die übrigens bekanntlich nicht erst eine Erfindung der grossen Revolution war, tötet zwar zuverlässiger als das Richtbeil in Menschenhand; aber die Vorbereitung, die Anpassung des Körpers an die Dimensionen der Maschine, dauert eine unendliche Zeit, oft eine ganze Minute, länger als die Vorbereitung für das Beil des Scharfrichters. Die in Amerika beliebte elektrische Hinrichtung nimmt zwar die Kraft des Blitzes zu Hilfe, aber bei den ersten Versuchen wenigstens stellte es sich heraus, dass nicht alle Menschenleiber gleich schnell vom elektrischen Strome getötet werden. Es kam dort zu Ungeheuerlichkeiten.
Fichte, der uns in Fragen der öffentlichen Moral vielfach immer noch ein Führer sein könnte, Fichte, der durchaus kein grundsätzlicher Gegner der Todesstrafe war und sie sehr künstlich durch einen Abbüssungsvertrag zwischen dem Mörder und der Gesellschaft zu begründen suchte, hatte einen solchen Abscheu vor der Hinrichtung, dass er eine heimliche Abschlachtung – durch die Polizei – eingeführt wissen wollte. Die Hinrichtung unverbesserlicher Bösewichter sei immer ein Uebel, obgleich ein notwendiges. »Was nur die Not entschuldigt, ist nichts Ehrenvolles; es muss daher wie alles Unehrbare und doch Notwendige mit Scham und insgeheim geschehen.«
Man könnte einen anderen Vorschlag machen. In uralter Zeit wurden die Verbrecher, weil ihre Tat gegen Gottes Gebot verstiess, den Priestern überantwortet und von einem Priester abgeschlachtet. Man könnte also die Hinrichtung recht gut wieder den Priestern, als den Hütern der göttlichen Weltordnung, überlassen. Wie bei den Juden noch heute die Tierschlächter Kultusbeamte heissen. Ich fürchte nur, die heutigen Priester würden ihre bekannte Menschenliebe vorschützen und das Amt ablehnen; haben sie doch selbst in den robustesten Zeiten der Ketzerverbrennungen den Staat zu einem der Kirche gefälligen Henker gemacht.
Das moderne Empfinden hätte ganz gewiss nichts mehr gegen die Beibehaltung der Todesstrafe, wenn die Vernichtung des gemeinen Mörders ohne seine Abschlachtung, wenn sie wie durch einen Zauberschlag geschehen könnte. Im Zeitalter der drahtlosen Telegraphie und der überaus empfindlichen Automaten müsste es (so sollte man meinen) möglich sein, einen Hinrichtungsapparat zu erfinden, der auf ein bestimmtes, deutlich artikuliertes Wort in Tätigkeit träte. Wenn der Richter zum Beispiel die Wortfolge »des Todes schuldig« ausgesprochen hat, löst das sichtbare Zeichen dieser Wortfolge auf dem Grammophon einen Hebel aus und der Mörder sinkt tot zusammen, bevor er noch den Sinn des Urteilsspruchs verstanden hat.
Man wird die Anregung zu einer solchen Maschine nicht ganz ernst nehmen. Ich könnte dem nicht widersprechen. Nicht als ob die Todesangst des Mörders, die unter solchen Umständen eben auch nicht auszuschalten wäre, mich so sehr erschrecken würde; auch das Opfer des Mörders hat Todesangst ausgestanden. Aber der Richter würde sich weigern, die Funktion des Henkers zu übernehmen, und würde sich auch scheuen, mit Verzicht auf alle Berufungsmittel selbst das Urteil zu vollstrecken. Nach dem heutigen Stande der Dinge ist es ja eigentlich der Fürst, der vor jeder Hinrichtung das letzte Wort zu sprechen hat. Der doch sich weigern würde, das Henkeramt höchst persönlich zu übernehmen. Des Fürsten Entschluss ist es, der heutzutage dem Richter die letzte Verantwortung abnimmt; und dass die Furcht vor der Verantwortlichkeit eine Krankheit unserer Zeit sei, das hat Graf Bismarck in der meisterhaften Rede für Beibehaltung der Todesstrafe (i. März 1870), die freilich eine politische Rede war, bismarckisch ausgesprochen; vielleicht nur mit zu starker Bemühung der göttlichen Vorsehung.
Mit der Vorstellung einer Maschine, die den Mörder ohne grässliche Abschlachtung aus der Welt schafft, oder gar mit der Vorstellung einer noch besseren Maschine, die den Verbrecher völlig überraschen und ihm keine Zeit zur Todesangst lassen würde, wollte ich dem Gegner der Todesstrafe ja nur klar machen, dass wir alle nur noch die Abschlachtung verabscheuen, nicht aber mehr aus philosophischen Gründen die Todesstrafe selbst. Die Todesstrafe für den gemeinen Mörder; die Todesstrafe mit peinlichster Anwendung aller möglichen Mittel gegen Rechtsirrtum.
Wir alle sind, auch wenn wir es leugnen, durch die realistische Schule des bismarckischen Geistes hindurch gegangen; philosophische, theoretische Gründe verfangen nicht mehr recht. Die heutigen Reformer des Strafrechts, für die – wie gesagt – die Frage der Todesstrafe durchaus nicht Angelpunkt der Reform ist, sind sehr humane Kriminalpolitiker, auf deren Stimme man hören sollte. Eine Reform wird aber niemals durch Kommissionen und Mehrheitsbeschlüsse in die Wege zu leiten sein. Ein ganzer Mann in seinem starken Verantwortlichkeitsgefühl ist mehr wert als eine Kommission. Das neue Bürgerliche Gesetzbuch wäre, auch sprachlich, besser geworden, wenn ein ganzer Mann es hätte verfassen dürfen. Man könnte Herrn v. Liszt das Vertrauen schenken, dass er allein die Strafrechtsreform und bei dieser Gelegenheit auch die Frage der Todesstrafe lösen könnte – nicht für ewige Zeiten natürlich, sondern nur für unsere Gegenwart –, wenn man ihm diesen Auftrag gäbe, und dazu volle Freiheit und die volle Verantwortung. Und der Streit um die Todesstrafe belehrt uns darüber, dass die Reform des Strafrechts, des Strafprozesses und des Strafvollzugs aus Einem Geiste und aus Einem Gedanken vorgenommen werden müsse. Es gibt Zeiten, in denen besonders das Strafgesetz im argen liegt; andere, in denen der Prozess, wieder andere, in denen der Strafvollzug veraltet ist. In unseren Tagen müsste überall die bessernde oder umstürzende Hand angelegt werden, wenn wir uns dem »richtigen Rechte« nähern wollten, einem Rechte, das – nicht für ewige Zeiten – der innersten Ueberzeugung entspricht.
Beccarias nicht hoch genug zu schätzendes Buch »Ueber Verbrechen und Strafen« hat die Literatur gegen die Todesstrafe eingeleitet; um es aber recht zu würdigen, muss man bedenken, dass damals (vor 150 Jahren) vor allem noch die Folter als Beweismittel in Ehren gehalten wurde; nur in Preussen war sie von Friedrich dem Grossen schon abgeschafft worden, in Frankreich und Italien war sie noch in Gebrauch; man muss ferner bedenken, dass die Todesstrafe damals nicht nur eine Vergeltung des gemeinen Mordes war, sondern dass viele geringere Verbrechen, ja selbst Vergehen, mit dem Tode bedroht waren; wurde doch zu Anfang des 18. Jahrhunderts in Russland hingerichtet, wer einen Maulbeerbaum fällte (man wollte die Seidenzucht in die Höhe bringen). Beccaria hatte also ganz andere Beweggründe als unsere Zeitgenossen; er eiferte auch nicht so sehr gegen die Todesstrafe als wie gegen ihren Missbrauch.
Nun waren endlich zur Zeit Beccarias zwar die Hexenprozesse fast erloschen; aber vor und nach dem Erscheinen seiner berühmten Abhandlung gab es in Europa noch vereinzelte Fälle der gesetzlichen Hexenverbrennung. Da haben wir ein Beispiel, wie nicht ein blödsinniges Gesetz, sondern nur ein fluchwürdiger Strafprozess der Welt gefährlich wurde; da es in Wirklichkeit niemals eine Hexe gegeben hat, so wäre die Bestimmung, die Hexen sollten verbrannt werden, ein unschädlicher Unsinn gewesen, wenn die ärmsten Weiblein nicht durch die Tortur zu einem Geständnisse gebracht worden wären. Wir verbrennen keine Hexen und keine Ketzer mehr, wenn auch die Abtrünnigen und Andersgläubigen immer noch mit anderen, feineren Mitteln gemartert werden; aber auch bei uns schreit Strafprozess und Strafvollzug lauter nach Reform als das eigentliche Strafgesetz.
Bismarcks Vorwurf der Sentimentalität trifft die Gegner der Todesstrafe heute nicht mehr mit dem gleichen Rechte, mit dem er sie vor 40 Jahren traf. Die Gegner der Abschlachtung eines Menschen brauchen nicht sentimental zu sein. Und die grundsätzlichen Gegner der (wenn ich so sagen darf) abstrakten Todesstrafe werden nicht so zahlreich sein wie früher, in einem Geschlechte, das statistische Zahlen kennt und erfahren hat, wie selten Hinrichtungen sind im Vergleich zu den furchtbaren Ziffern der Todesfälle durch Schwindsucht, Krebs und Lues. Auch gibt es in dieser besten aller Welten ungleich viel mehr Selbstmörder als hingerichtete Mörder. Gar in Zeiten eines grossen Krieges verschwindet die Scheu vor der Hinrichtung eines einzelnen verlumpten Raubmörders.
Während der grossen französischen Revolution, während der Schreckensherrschaft, war der Tod durch die Guillotine so alltäglich geworden, dass er seine Schrecken verloren zu haben schien. Einer der Girondisten, der reiche Valazé (ich glaube, es war derselbe Valazé, der sich zehn Jahre früher gegen die Todesstrafe ausgesprochen hatte), stiess sich einen Dolch ins Herz, als ihm und seinen Genossen das Todesurteil verkündet wurde; die Girondisten starben alle tapferer, als sie gelebt hatten; aber der Tapferste unter ihnen scheint mir dieser Valazé gewesen zu sein, der zu weich war, um sich der Abschlachtung zu unterziehen. Wir sind nicht weich, wir sind nicht sentimental, wenn wir die Todesstrafe höchstens als ein Notrecht der Gesellschaft verstehen, nicht als ihr Recht, wenn wir eine gewisse Freudigkeit nicht mehr begreifen, mit welcher der kategorische Imperativ Kants die Todesstrafe als Recht der Wiedervergeltung forderte. Es sträubt sich in uns etwas, wenn Kant mit fast unmenschlichem Gerechtigkeitseifer sagt: »Selbst wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflösete, so müsste der letzte im Gefängnisse befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind.« Aber wir glauben beinahe Bismarck zu hören, wenn Kant, der überdies dem Marchese Beccaria die Empfindelei einer affektierten Humanität nachsagt, fortfährt: »Man hat nie gehört, dass ein wegen Mordes zum Tode Verurteilter sich beschwert hätte, dass ihm damit zu viel und also unrecht geschehe; jeder würde ihm ins Gesicht lachen, wenn er sich dessen äusserte.«
Nur nicht gerade ins Gesicht lachen. Nicht lustig sein wollen, wenn es sich um Armesünder handelt.
Wieder einmal ist der Vorschlag gemacht worden, die bestehenden Strafgesetze zu ändern und den Arzt noch mehr zum Herrn über den Tod des Leidenden zu machen, als das schon in der Natur der medizinischen Wissenschaft liegt. Der Prediger des energetischen Imperativs, der bekannte und vielfach verdienstvolle Weltverbesserer Professor Wilhelm Ostwald, hat diesmal die alte Sache neu vorgetragen und den Gedanken gleich in schöne juristische Paragraphen gebracht oder bringen lassen. Wenn ein Kranker selbst seinen Tod wünscht, weil ihm die Qualen seiner Auflösung unerträglich sind, und wenn eine »Kommission« sich über die Unheilbarkeit der Krankheit geeinigt hat, dann darf der Arzt straflos den Patienten töten, Tage, Wochen oder Monate vor dem natürlichen Ende.
Ich will nur wieder gestehen, dass ich eine unüberwindliche Abneigung gegen »Kommissionen« habe; hinter jeder Kommission verbirgt sich der Aberglaube, dass ein vom Staate abgestempelter Fachmann zuverlässiger sei als ein freier Fachmann, und der weitere Aberglaube, dass drei oder fünf Menschen klüger seien als ein tüchtiger Einzelmensch. Doch diese meine Abneigung soll mich nicht verhindern, den neuen Gesetzesvorschlag ohne jedes Vorurteil zu überlegen.
Ich entdecke in keinem Winkel meiner Seele ein Vorurteil gegen die geplante Neuerung; nach dem klaren Wortlaut der Zehn Gebote und nach dem fast ebenso klaren Wortlaut der abendländischen Strafgesetze würde freilich ein Mord vorliegen; aber Strafgesetze und Zehn Gebote sind oft umgedeutet worden. Auch habe ich mich niemals entsetzt, wenn ich am Biertisch von ganz jungen oder von ganz alten Medizinern eine so verwegene Erweiterung der ärztlichen Rechte fordern hörte.
Es sind nicht die schlechtesten Mediziner der ersten Semester, die mit leidenschaftlichem Idealismus ihrem künftigen Berufe die Herrschaft über ihre Mitmenschen zusprechen möchten. Im Strafprozess und im Gefängnis soll der Arzt die entscheidende Stimme haben; nur dass, wenn erst die medizinischen Sachverständigen auch für arme Teufel gehört würden, kaum ein Verbrecher mehr ins Gefängnis käme. In der Schule soll der Schularzt zu erkennen haben, wieviel der Knabe oder das Mädchen zu lernen habe. Dem Arzte soll das Recht gegeben werden, im weitesten Umfange keimendes Leben zu vernichten; und selbstverständlich soll der Arzt die Marter eines Sterbenden nach seinem Ermessen abkürzen dürfen. Die Aerzte sind seit jeher von ihren Feinden (ich erinnere nur an Agrippa von Nettesheim und den immerhin berühmteren Molière) beschimpft oder Mörder gescholten worden; da ist es fast erfreulich, wenn diese jugendlichen Enthusiasten jedem Arzte aus Menschenfreundlichkeit ein gesetzliches Mordrecht dekretieren wollen.
Unter den alten Aerzten sind die erfahrenen und skeptisch gewordenen Landärzte oft die besten; und von solchen Herren habe ich mehr als einmal gehört, dass sie misstrauisch geworden sind gegen den Nutzen ihrer Kunst, dass sie es für eine der wenigen sicher lösbaren Aufgaben ihres Berufes halten, den Todeskampf durch eine gehörige Dosis Morphium zu lindern oder auch abzukürzen.
Der Gedanke der Euthanasie ist wirklich nicht neu.
Eigentlich auch das Wort nicht. Zwar im Griechischen bedeutete Euthanasie nur den sanften Tod ohne ärztliche Nachhilfe, das natürliche Hinüberschlummern des Greises, gelegentlich auch den schönen und rühmlichen Tod in der Schlacht; noch Wieland hat die Euthanasie in dieser heidnischen Bedeutung menschlich schön gepriesen; und Wieland ist ja in diesem Jahre modern und lebendig, weil er just vor hundert Jahren gestorben ist. Aber Euthanasie bedeutet auch seit bald hundert Jahren (meines Wissens zuerst in England) die Tätigkeit des Arztes, die dem Kranken durch Lügen und durch narkotische Mittel über Todesangst und Todespein ein wenig hinweghilft. Der ursprüngliche Sinn des griechischen Wortes sträubt sich heftig gegen diesen Bedeutungswandel; dennoch war es ganz gewiss »Vergeudung von Sprachenergie«, das entsetzliche Gebilde »Sterbehilfe« dafür neu zu erfinden. Jedoch auf die Bezeichnung kommt es wirklich nicht an. Ich lege auch keinen Wert darauf, dass die mittelalterliche Umdeutung von Euthanasie (der selige Tod im Zustande der Gnade) aus dem Sprachgebrauch so gut wie verschwunden ist.
Zur Sache möchte ich zunächst behaupten, dass das Gewohnheitsrecht der Aerzte auf »Euthanasie« mindestens so alt ist wie das Wort in seiner veränderten Bedeutung. Ich darf natürlich nicht sagen, dass der befreundete Hausarzt seinem wohlhabenden Kranken, dass eine mitleidige Diakonissin dem aufgegebenen armen Teufel im Spital auch nur 1/100 Gramm Morphium mehr reiche, als die ärztliche Wissenschaft nach dem Buchstaben des Gesetzes für eine vorübergehende Linderung der Schmerzen gestatten würde; das wäre ja (wieder nach dem Buchstaben des Gesetzes) entweder eine Verleumdung oder eine Denunziation; aber es soll doch vorkommen, dass der Kranke eine genügende Dosis Morphium im Bereiche seiner Hand auf dem Nachttische stehen hat; und es soll vorkommen, dass der Arzt sich nicht einmal darüber wundert, wenn der Dulder einmal in einer verzweifelten Nacht von dem Linderungsmittel eine gründliche Dosis genommen hat.
In den meisten solchen Fällen wird die ärztliche Wissenschaft nicht einmal mit Sicherheit entscheiden können, ob die dargereichte Menge nur die Schmerzen betäubt oder auch die Lebensfrist verkürzt habe. Darum wird ein so humaner Arzt oder eine so humane Krankenschwester nicht leicht eine Anklage zu fürchten haben. Ich drücke mich trotzdem so vorsichtig aus, weil nach dem Stande der Rechtsprechung in dieser besten aller Welten doch das Unwahrscheinliche möglich ist. Ich erinnere mich eines Falles, der allerdings einen Juristen betraf. Ein sehr begabter und zukunftsreicher Rechtsanwalt hatte einen Mann zu verteidigen übernommen, dem die Verurteilung nach einem schmutzigen Verbrechen so gut wie gewiss war. Der Rechtsanwalt liess sich von den Bitten seines Klienten bewegen, ihm einen Revolver in die Zelle des Untersuchungsgefängnisses zu bringen. Der Angeklagte büsste sein Verbrechen durch freiwilligen Tod; der Rechtsanwalt aber, weil er dem Manne »Sterbehilfe« geleistet hatte, büsste seine Wohltat mit einem Urteil seiner Berufskammer, das normalerweise seine bürgerliche Existenz hätte vernichten müssen. Hätte er sich überall an den Buchstaben des Gesetzes gehalten, so hätte er sonst mancherlei unsaubere Geschäfte machen können, ohne von seiner Berufskammer gemassregelt zu werden.
Da ich schon die Ausübung der Euthanasie durch einen Nichtarzt erwähnt habe, so will ich gleich eine Unsitte oder einen Aberglauben mitteilen, der nach einer glaubhaften Versicherung im Schwarzwalde bestanden hat oder noch besteht. Man nennt das dort mit einem beinahe technischen Ausdrucke »das Sterben leichter machen«. Dem Sterbenden, der röchelnd vielleicht wirklich in den letzten Zügen liegt, vielleicht aber auch noch recht lange Zeit zu leben hätte, wird von einem Familienangehörigen plötzlich das Kissen unter dem Kopfe fortgezogen. Es wird berichtet, dass diese schlichte Art der Sterbehilfe häufig einen augenblicklichen Erfolg habe. Die Aerzte des Schwarzwaldes sollen umsonst gegen diese Sitte gekämpft haben.
Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass dieses »Sterbenleichtermachen«, trotzdem die Absicht gewöhnlich eine gute sein mochte, unter den Begriff des Mordes fiele, so wie die jetzt vorgeschlagene ärztliche Ausübung der Euthanasie so lange nach der geltenden Rechtsanschauung ein Mord bliebe, bis der ärztlichen Kommission dieses neue Mordrecht eingeräumt würde.
Aber ich bin überzeugt davon, dass auch dann, wenn das neue Gesetz juristische Wirklichkeit geworden wäre, die Stimme des Volkes den Sterbehelfer oft genug einen Mörder nennen würde. Ich kann mir auch viel eher einen warmherzigen Arzt vorstellen, der rasch entschlossen und auf eigene Verantwortung einem Sterbenden, ohne dass dieser sein Todesurteil erfahren hat, die tödliche Dosis Morphium reicht, als einen Arzt, der kaltblütig gegen den Kranken die Unheilbarkeit ausspricht, dann eine Woche lang mit der Kommission und dem Patienten Protokolle aufnimmt und endlich im Auftrage der Kommission die Tötung vollzieht. Ich möchte dieses Vorgehen nicht eben Euthanasie nennen. Es will mir scheinen, dass so ein bedauernswerter Kranker mit solchen Protokollen und Beratungen rücksichtsloser behandelt würde, als heutzutage ein gemeiner Mörder vor seiner Hinrichtung.
Ich habe schon angedeutet, vorsichtig angedeutet, dass eine Beihilfe beim Selbstmorde aufgegebener und schwer leidender Kranker vielfach bestehen mag. Ich glaube nicht einmal, dass nach solchen Vorkommnissen der Arzt oder die Krankenschwester auch nur wegen Fahrlässigkeit belangt werden könnten. Das Recht auf den Selbstmord oder auf den Freitod ist zwar nicht in allen europäischen Gesetzgebungen ausdrücklich anerkannt, aber die öffentliche Meinung der Gebildeten will nichts mehr wissen von einer entehrenden Bestattung des Selbstmörders, nichts mehr (ausser bei den kirchenfrommen Engländern) von einer Bestrafung des Selbstmordversuchs; und auch die Bestrafung einer Beihilfe zum Selbstmorde ist juristisch gar nicht so leicht zu konstruieren. Da nun die Anreger des neuen Gesetzes natürlich von der Voraussetzung ausgehen, dass der von Schmerzen gepeinigte Kranke wirklich und ernstlich sterben wolle, dass er den Arzt oder die Pflegerin um Darreichung des Giftes anflehe, so liegt jedesmal der Wille zum Tode vor, der Wille zum Selbstmord. Der Kranke, der noch die Kraft hat, »ein Gesuch an die zuständige Gerichtsbehörde« zu richten, wird in den allermeisten Fällen auch imstande sein, das ihm zur Verfügung gestellte Mittel selbst zu nehmen.
Wie aber, wenn der arme Kranke auch unter den Qualen seiner Todesnot mit dem Selbstmordgedanken nur gespielt hat? Wenn unter aller Pein und Marter dennoch sein Lebensdurst wieder erwacht ist? Wenn er (das Leben gibt uns jeden Tag solche Rätsel auf) sein Dasein für den Preis eines entsetzlichen Zustandes nur immer weiter fristen möchte? Im »monistischen Jahrhundert«, wo die Sterbehilfe in die Paragraphen eines künftigen Gesetzes gefasst worden ist, hat man diese Kleinigkeit vergessen: ob der Kranke sein Gesuch um Sterbehilfe wieder zurückziehen dürfe oder nicht.
Noch einmal: die Beihilfe zum Selbstmorde eines verzweifelten Kranken existiert überall ohne ein besonderes Gesetz. Und gegen das neue Gesetz, das der Kommission das Recht auf Tötung zusprechen will, wäre gar nichts einzuwenden, wenn nur – ja, wenn nur die Menschen Engel wären, wenn nur alle beteiligten Gerichtsärzte und endlich die Verwandten des getöteten Kranken vollkommene Wesen wären! Da wir Menschen aber gebrechliche Geschöpfe sind, die Gerichtsärzte nicht allwissend, die Verwandten keine Engel, so könnte das neue Gesetz, grotesk in seiner Handhabung, auch noch zu grotesken Prozessen die Veranlassung geben. Molière hätte an einem solchen Sterbebette den Kampf zwischen der Kommission und den Verwandten wohl sogar lustig darstellen können.
Wir besitzen ja eine Einrichtung, die den Gerichtsärzten, den Spezialisten und den Aerzten überhaupt das Recht gibt, wenigstens den bürgerlichen Tod über einen Menschen zu verhängen. Ich meine damit nicht unsere Strafjustiz, bewahre, sondern unsere sogenannte Irrenpflege. Ich weiss, unsere Irrenhäuser sind musterhaft organisiert, besonders wenn man sie mit den Irrenhäusern des Mittelalters vergleicht; ich weiss, unsere Psychiater heilen Geisteskrankheiten just ebenso zuverlässig, wie andere Aerzte andere Krankheiten heilen. Trotz alledem hört man öfter, als unserem Kulturstolze lieb sein mag, von einer böswilligen oder fahrlässigen Unterbringung in einem dieser musterhaften Irrenhäuser. Es kann sich ereignen, dass der Arzt, der einen etwas närrischen Menschen auf Antrag von Erben oder von einem Ehegatten ins Irrenhaus befördert hat, gemeingefährlicher ist als der arme Narr, den man für gemeingefährlich erklärt hat. Das neue Gesetz zugunsten der Euthanasie ist sicherlich gut gemeint; es könnte aber in der Folgezeit den einen oder den anderen gemeingefährlichen Arzt züchten. Daraufhin wollen wir es lieber doch nicht wagen.
Die Vorstellung der Weltverbesserer, dass die Menschen im allgemeinen und die Aerzte insbesondere vollkommene Wesen seien, ist eine Utopie. Träumt man aber einmal Utopien, so kommt es auf ein bisschen mehr oder weniger Phantasie nicht mehr an. Ebensogut wie man die moralische und intellektuelle Schwachheit der Menschen im allgemeinen und die der Aerzte insbesondere leugnet, kann man ja gleich das Vorhandensein von Krankheiten und von unerträglichen Schmerzen leugnen.
Auch der Glaube, dass die Welt durch neue Gesetzesparagraphen verbessert werden könne, ist eine Utopie.