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Wieder einmal liegt also eine widerspruchsvolle Sehnsucht in der Luft, die Sehnsucht des geistigen Arbeiters nach einem unklar vorgestellten Klosterleben. Wie vor mehr als zweitausend Jahren in dem buddhistischen Indien, wie vor fünfzehnhundert Jahren in dem christlichen Aegypten, sehnen sich beschauliche Menschen hinaus aus dem Welttreiben, hinaus aus dem Gewühl der Städte in die Einsamkeit, in eine möglichst gesellige Einsamkeit. Man hat so ungefähr seit der Reformationszeit bis zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts keinen Stand so geschmäht und gelästert als den der Mönche; kein geistreicher Mann von Rabelais und Luther und dem skeptischen Schwindler Agrippa bis auf Voltaire und Diderot, der den Mönchen nicht ihre vielfältigen und zum Himmel stinkenden Sünden lachend oder grimmig vorgeworfen hätte; und jetzt seit hundert Jahren eine langsam wachsende Bewegung, deren Ideal ist: wie in einem Kloster, fern von der Hetze unserer Kultur, den Frieden für das Herz und die Ruhe für geistige Arbeit zu suchen. Einer der lebhaftesten »Führer« unseres Volkes, der Professor Wilhelm Ostwald, hat dieser Sehnsucht nach einem modernen Klosterleben eine Schutzrede gehalten; es versteht sich von selbst, dass dem Manne, der das Schlagwort »Monismus« für ein erlösendes Wort hält, nur ein monistisches Kloster vor seiner Phantasie schwebt. Als Wort ist »monistisch« nicht schlechter als ein anderes. Wenn nach Aufhebung der französischen Klöster die Mönche von Fécamp ihr Haus, damit es erhalten bliebe, ein monistisches Kloster genannt hätten und ihren höchst erfreulichen Kräuterlikör einen »monistischen Benediktiner«, wir würden dieses Erzeugnis nicht weniger gern trinken. Auf den Namen kommt es nicht an, am wenigsten bei der Bezeichnung einer Sehnsucht; und die wortgeschichtlichen Zusammenhänge zwischen »Spiritus« und etwa »spirituell« sind ja allbekannt.
Ich darf mich wohl rühmen, in diesen Zeitläuften, in denen alle Welt nach dem Ziele der Wünsche nicht ruft, sondern schreit (nach dem Kinde wird geschrien, nicht bloss gerufen, nach der Kinderlosigkeit, nach dem Staate, nach der Staatlosigkeit, nach höchster Kultur, nach höchster Unkultur), den Schrei nach dem Klosterleben besonders häufig vernommen zu haben. In meine stille Klause am Bodensee, die zwischen Wald und Reben nach den Schweizerbergen hinübersieht, bei Meersburg, in das alte, von der Annette Droste-Hülshoff geliebte und besungene »Glaserhäusle«, kommen während der Sommermonate, auch wenn es einmal Katzen hagelt, sehr liebe und dann auch wohl weniger liebe Freunde; sie werfen sich in der ersten Stunde begeistert an den Busen der Natur und finden nicht Worte genug, den Segen der geselligen Einsamkeit zu preisen. »Nur unter solchen Bedingungen kann unsereiner sein Bestes geben, sein Leben einer einzigen grossen Aufgabe widmen.« Und in der vertrauten Stunde des Abschieds spricht dann der Berliner, der Wiener, der Münchener, der Pariser das ehrliche Wort: »Wunderbar, unbeschreiblich! Aber wie können Sie (wie kannst du) es ganze Jahre hier aushalten?«
Und hatte ich die lieben Freunde zu einem Ausfluge nach Salem überredet, wo die Zisterzienser ihre Kirche einst mit so tollen Statuen schmückten, weil sie gar nichts anderes zu tun hatten, war ich gar mit den Fremden bis nach Beuron gefahren, wo die Benediktiner nicht müde werden, Kirche, Kloster und Landschaft mit Werken ihrer Kunstfertigkeit zu zieren, wo auch eine dekorative Musik ernstlicher und inniger gepflegt wird als an manchen sehr berühmten Stätten, dann kannte der fromme Enthusiasmus der Besucher keine Grenze mehr. »Unsere ganze Kultur ist ja Börsengeschrei, wenn man sie mit der Kunst dieser Klosterleute vergleicht; nur im Frieden der brüderlichen Klosterarbeit kann noch Kunst gedeihen und Wissenschaft und Forschung. Ach, dass man doch in einem solchen Kloster seine Tage verbringen dürfte!« Und hatten wir dann bei einigen Gläsern Markgräfler oder Meersburger die Stimmung erhöht und die Erde wiedergewonnen, so kam wohl zögernd der Nachsatz: »In so einem Kloster möchte ich wohl dichten, komponieren, malen, – nachher, für einige Zeit.« Der Berliner meinte sogar: »Für Tage, Wochen oder Monate.«
Ist ja alles nicht wahr. Als einen lockenden Gegensatz sieht der Gelehrte und der Künstler der Gegenwart, der Geistesarbeiter mit seinen aufgepeitschten Nerven, das nervenberuhigende Klosterleben an, als ein Ziel, aufs innigste zu wünschen; er beneidet die Klosterbrüder der alten Zeit, würde aber fast nie den Entschluss fassen, die Einsamkeit auf sich zu nehmen, auch nicht die gesellige Einsamkeit. Ohne eine gewisse Art von Frömmigkeit, meinetwegen von gottloser Frömmigkeit, ist die Einsamkeit nicht zu ertragen. Ich denke dabei nicht an die Gelübde der Keuschheit, des Gehorsams und der Armut; von diesen Gelübden sind auch die gewöhnlichen alten Mönche selten bedrückt worden. Ich denke vielmehr an einen schwereren Verzicht, an den Verzicht auf Eitelkeit, die in der Einsamkeit nun einmal nicht befriedigt werden kann. Unabhängig macht die Einsamkeit; aber unabhängig ist nur, wer das Bedürfnis nach lautem Beifall nicht mehr kennt. Diese Künstler und Gelehrten jedoch, die ihrer Stimmung der Klostersehnsucht für ein Weilchen nachgeben, sind – natürlich gibt es Ausnahmen – nur Egoisten der Arbeit, die nachher nach dem lärmenden Beifall horchen, wie er ausgiebig nur in der Grossstadt gespendet wird. Jawohl, das wäre schön: während der Arbeit niemals gestört werden zu können, nicht von der Familie und nicht von Kollegen, nicht vom Steuerzettel und nicht von den Vorgesetzten, nicht von Einladungen und nicht einmal durch den Genuss der Werke anderer Künstler, anderer Forscher. Aber dann! Dann, nach Tagen, Wochen, Monaten oder Jahren, hinaus auf den Markt, hinauf auf die Bühne des Lebens, und schlürfen und schlingen, was Hunger, Liebe und Eitelkeit irgend wünschen und fassen können! Und nicht zu knapp. Nein, meine lieben Freunde und Zeitgenossen, ihr seid für ein Leben im Kloster nicht geboren, und wenn es noch so gottlos wäre, noch so monistisch.
Denn das ist der Grundirrtum all der prächtigen Utopisten, dass sie das eigentliche Wesen des Menschen für engelhaft halten; dass sie meinen, die Menschheit bestehe nur vorläufig aus Mittelgut oder gar aus Dreckspatzen und warte ungeduldig darauf, in einer neuen Gesellschaft ihre Engelsfittiche entfalten zu können. Zu diesen prächtigen Utopisten gehört eben auch Professor Ostwald, der (in der zweiten Reihe seiner »Monistischen Sonntagspredigten«) seinen anregenden Aufsatz »Ein monistisches Kloster« veröffentlicht hat.
Der Monismus habe die Aufgabe übernommen, an die Stelle der bisherigen Religion zu treten; der Monismus müsse aber »zeitgemäss rationalisierte« Einrichtungen erfinden. Für die vielen Idealisten, die zu feinfühlig sind, um den täglichen Kampf mit der Tücke des Objekts erfolgreich aufzunehmen, müsse das Kloster wieder eingeführt werden, eine Anstalt, wo gleichgesinnte Menschen in Gruppen unter anspruchslosen äusseren Bedingungen zusammenleben. Ostwald konnte als Beispiel für die Wohltätigkeit einer solchen Anstalt gar kein besseres Menschenexemplar wählen als den armen Beethoven, der es allerdings verdient hätte, dass ihm die energieraubende Sorge um den Alltag von dienenden Brüdern oder Schwestern wäre abgenommen worden.
Herr Abt Ostwald hat auf den wenigen Seiten seines Aufrufs gleich die Grundzüge seines monistischen Klosters entworfen, das er freilich dann einmal einen »Verein« und dann wieder eine »Kolonie« nennt. In der »Ordensregel« wäre natürlich kein Raum für die alten drei Gelübde: der Gehorsam verbietet sich bei Künstlern und Forschern von selbst; der unbedingten Keuschheit scheint es zu widersprechen, dass die Ehefrauen der Vereinsmitglieder oder Kolonisten und auch die Kinder mit im Kloster leben sollen, auch dann, wenn die für das Kloster geeigneten Männer (wie das »nicht selten« vorkomme) Frauen von entgegengesetzten Eigenschaften gewählt haben. Sehr hübsch und mit guten Gründen wird eine gemeinsame, heitere Ordenstracht und eine weitgehende vegetarische Lebensweise empfohlen; wenn ich nur wüsste, was die Diät mit dem Monismus zu schaffen haben soll. Die Heiterkeit der Kleidung und des Verkehrs sowie die paradiesische Kohabitation der Mönche und Nonnen hat schon Rabelais, der übermütigste aller lustigen Zecher, in seiner Abtei Thelema überaus verführerisch geschildert; von einem Verzicht auf Fleisch und Alkohol habe ich allerdings bei Rabelais nichts gelesen. Und ich glaube nicht, dass der kostbare Uebersetzer Dr. Owlglass so fromme Stellen freventlich fortgelassen habe.
Der Utopismus und liebenswürdige Optimismus Ostwalds verrät sich ganz besonders deutlich in folgendem Satze: »Und wenn jemals, was ja nicht ganz ausbleiben wird, der Geist des Eigensinns und Unfriedens sein atavistisches Wesen treiben wollte, so würde der energetische Imperativ im einzelnen Falle jedem schnell zum Bewusstsein bringen, wie unzweckmässig das ist, was er zu tun gedenkt.« Kants kategorischer Imperativ, der ja mit seiner moralischen Forderung auch nicht als ein kirchliches Dogma auftrat, übte lange Zeit seine Macht über den deutschen Geist, weil dieser Imperativ immerhin ein Ruf aus dem Jenseits war, eine Stimme aus der Welt der Sehnsucht. Ostwalds energetischer Imperativ darf sich (wie wir aus der ersten Reihe seiner monistischen Sonntagspredigten erfahren) einer solchen Herkunft durchaus nicht rühmen; die Formel lautet: »Vergeude keine Energie!« Und diese Formel kann auf jedem Gebiet des Handelns überaus vorteilhaft angewandt werden, nicht nur bei der Verbesserung von Kraftmaschinen; nur dass die Anwendung des energetischen Imperativs selbstverständlich an der Grenze des menschlichen Wissens auch ihre Grenze hat, und dass bei den menschlichen Handlungen, die irgendwie moralisch betrachtet werden können, das Vorauswissen viel geringer ist als bei den physikalischen Gesetzen, und dass selbst dieses geringe Wissen noch im Augenblick der Willensentscheidung von dem sehr atavistischen Egoismus getrübt wird. Nein, der Imperativ »Vergeude keine Energie!« wäre eine sehr empfehlenswerte Inschrift für ein technisches Lehrinstitut, würde sich aber über dem Portal eines Klosters, selbst eines gottlosen Klosters, in all seiner Nützlichkeit befremdlich ausnehmen.
Warum hat also Ostwald seinen Plan nicht einfach einen monistischen Verein oder eine monistische Kolonie genannt? Warum hat er das romantische Wort »Kloster« bemüht, das uns, die Epigonen der Romantiker, immer noch feierlich anmutet, trotzdem wir wissen und es fast allzu oft hören, wieviel Abscheulichkeiten sich einst hinter den verschwiegenen Klostermauern verbargen? Die Abkehr von der Kirche ist ja gar nicht das Neue in dem Vorschlage Ostwalds; auch die ägyptischen Anachoreten, die im dritten und vierten Jahrhundert zuerst in die Einsamkeit flohen, lösten sich von der Kirchengemeinschaft los, waren oft arge Ketzer und widmeten sich mitunter, wenn sie nicht dümmere Sachen trieben, geistiger Arbeit. Ich weiss nicht, ob Ostwald an diese ältesten Einsiedler der christlichen Kirche oder gar an die buddhistischen Bettelmönche historisch anknüpfen wollte. Ich glaube aber bestimmt zu wissen, ich lese es zwischen den Zeilen der vielen Bücher Ostwalds, dass ihm selbst das Nützlichkeitsprinzip seines energetischen Imperativs nicht immer genügt, dass er sich wie andere romantische Epigonen hinaussehnt aus dem nüchternen Fabrikbetriebe unserer Kultur in eine – na ja – bessere Welt.
Die Sehnsucht, die unstillbare Sehnsucht des Menschenherzens ist der wahre Grund dafür, dass die müde Zeit ihr Ideal jetzt so häufig in Ermangelung eines besseren Wortes, das Kloster nennt. Nachwirkung der Romantik. Man möchte die Gelübde nicht halten, man sehnt sich aber nach einem Dasein, in welchem man sich ein kleines Bisschen nach diesen Gelübden richten könnte.
Das stärkste Motiv aber, das die Sehnsucht nach einem modernen Kloster in uns aufregt, ist die Unrast unserer Zeit, die Hetze, in welcher nicht nur in den Fabriken, sondern oft genug auch in Künstlerateliers geschafft wird, nicht geschaffen. Reinhold Begas pflegte zu sagen: Genie ist Fleiss. Nun, es gibt unter den Jüngern der Kunst Faulpelze genug, von denen die Welt darum auch niemals etwas erfährt. Doch Fleiss braucht nicht Hetze zu werden; man kann an einem Werke, gross oder klein, sehr langsam und trotzdem unendlich fleissig arbeiten. Heute kommt selbst ein berühmter Künstler bald unter die Räder seiner strebsameren Kollegen, wenn er nicht oft, öfter als gut ist, ein neues Bild oder ein neues Buch auf den Markt wirft. Da waren die alten Mönche andere Leute; mit unendlichem Fleiss und dennoch langsam mühten sie sich an ihren Miniaturen wie an ihren Münstern; und der Herr ernährte sie doch. Hunger, Liebe und Eitelkeit dulden bei den meisten Künstlern und Forschern keine Langsamkeit, keine Müsse mehr, und wenn auch diese vorwärtstreibenden Kräfte nicht wären, so würden doch die Nerven unserer armen Zeitgenossen Langsamkeit, beschauliche Besinnung, Ausruhsamkeit im Fleisse nicht zulassen.
Man stelle sich einmal uns Zeitungsmenschen, die wir ja auch von der Sehnsucht nach dem gottlosen Kloster angesteckt sind, allgemein als langsame Leute vor. Ich habe oft die Behauptung aufgestellt, dass die neue Journalistik das Erbe der mittelalterlichen Kirche angetreten habe: im Verbreiten und Popularisieren der Wissenschaft, im Machen der öffentlichen Meinung und wohl auch im Bepredigen der Zeitereignisse. Man stelle sich nun einmal vor, ein Zeitungsblatt würde heute so fleissig und so langsam hergestellt, wie die Mönche einst ihre Chroniken schrieben; nach Jahr und Tag erst würden die geduldigen Leser von der neuesten Schlacht oder von einem anderen neuen Morde erfahren. Schön wär's freilich, auf so eine verlangsamende Zeitung abonnieren zu können! Aber darauf sind die Nerven der Leser nicht mehr eingerichtet; und von den ungeduldigen Lesern werden die Schreiber gehetzt. Wie überall Forscher und Künstler von einem ungeduldigen Publikum, von ungeduldigen Auftraggebern, am Ende gar von ungeduldigen Königen.
Künstler und Forscher haben von der Unrast aller anderen Arbeiter die Unrast ihres Schaffens gelernt und nennen sich in diesem Sinne ganz richtig »die Schaffenden«; so einer »schafft« unaufhörlich unter der Peitsche eines Aufsehers. Wir haben keine Zeit mehr zu leben; wir essen zu schnell, wir lieben zu schnell, wir denken zu schnell, wir leben zu schnell. Es soll irgendwo in der Schweiz oder in Tirol ein stilles Gebirgstal geben, in welchem der Gruss der Bauern an den eiligen Touristen lautet: »Zeit lassen.« Klingt das nicht wie ein weltlicher Gruss der alten Kirche an den modernen Menschen?
Und weil Ostwald fast unbewusst wirklich einer Sehnsucht unserer Zeit Ausdruck verliehen hat, darum soll sein Ruf nach einem neuen Klosterleben doch einem jeden empfohlen werden, der ein –iste ist oder ein –aner, ein Moniste oder ein Häckelianer, weil er (nach Lachners Scherz) nicht »selber Aner« ist; soll empfohlen werden trotz seiner krausen Ausdrucksweise und trotz dem energetischen Imperativ. Wir haben ja nichts Besseres als unsere Sehnsucht. Und wenn man will, so mag auch das kirchliche Wort Kloster passieren. Am Ende war auch die Religion bei ihren ernsthaftesten Bekennern eigentlich kein Glaube, geschweige denn ein Wissen, sondern immer nur die Sehnsucht nach einem Glaubenkönnen.